Sonntag, 25. September 2016

EIN AUFMACHER DER SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN UND DIE KRISE DES BOULEVARDS










Eine Boulevard-Zeitschrift wirbt für sich. Ihr Verlag verschickt Werbeexemplare einer aktuellen Ausgabe mit persönlichem Schnupperangebot. In einem Schmähartikel gegen einen nationalen Politiker macht sie Wahlpropaganda gegen ihn, betreibt also indirekt politische Werbung.







DIE AFFÄRE DARBELLAY – DAS TAGEBUCH SEINER GELIEBTEN.
Aufmacher der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN vom 14.September 2016:

„Ich habe das Kind anerkannt“ (S.24), „Schwangerschafts-Tagebuch“ (S.26),
Die Rothenbühler Kolumne (S.10), Editorial (S.5)

UNTERHALTUNG IST AUCH SERVICE PUBLIC. Interview mit RINGIER-Chef MARC WALDER zu Krise und Digitalisierung in der Medienbranche, SJ vom 14.September 2016



„Medien dürfen nicht politisch instrumentalisiert werden. Sie sollen die Politik beobachten, hinterfragen, einordnen. Nicht machen.“ (Marc Walder, SJ Interview 14.9. S.43)

Die SJ vom 14.9. skandalisiert auf der Titelseite und in der Artikel-Serie einen bekannten Politiker wegen einer privaten Angelegenheit. Sie nimmt Einfluss auf seine Wahlchancen in den Walliser Regierungsratswahlen, macht also Wahlpolitik. Inhalt und Tendenz des Aufmachers dürften gegen den vom Konzernchef vertretenen Grundsatz verstossen.
 








LESERBRIEF AN DIE SJ-REDAKTION:



Mit der MEGA SCHLAGZEILE und einer Foto des sympathisch lächelnden Sünders auf der Titelseite offerieren Sie - die Redaktion der meistgelesenen Boulevard-Zeitschrift der Schweiz - Ihren Leserknüller der Woche. S i e machen eine Geschichte, welche privat offenbar längst geregelt ist, öffentlich zur „AFFÄRE“ (Ihre Wortwahl!). 

Der SONNTAGS-BLICK „hat enthüllt“. BLICK hat die Jagd auf den „Volltreffer“ eröffnet: Der ebenso prominente wie medienpräsente Parteipräsident und Familienpolitiker ist „zum vierten Mal Vater geworden“. „P I K A N T“  sei der Umstand, dass „nicht seine Frau…die Mutter ist“, so umschreiben Sie, die Redaktion der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN, den lapidaren Tatbestand in Ihrem Seiten-Aufmacher. Sie beherrschen das Einmaleins des journalistischen Spürsinns.

Sie publizieren die Passage aus dem Schwangerschafts-Tagebuch der „Geliebten“, das ja schon als Blog öffentlich zugänglich ist, wohl nicht als Beweismittel. Soll sie Mitleid mit dem Opfer einer eingestandenen Fahrlässigkeit beim Seitensprung des Polit-Promis wecken? Der Appell an die Emotionen der Leser vermittelt wohl den nötigen Kick, von dem der Name Sensationspresse bekanntlich herrührt.

Die kumpelhafte Kolumne Rothenbühler wiegt die Anrüchigkeit Ihrer Enthüllung nicht auf. Im Stil Schwamm darüber „lieber Christophe“ beruhigt der erste Absatz. Im „urbanen“ Wallis blieben die Chancen einer Wahl zum Staatsrat wohl intakt. „Trotz Ihrem Image als politische Windfahne bleiben Sie einer der Besten“, liest man konsterniert. Doch dann lässt die Kolumne einen Platzregen schnoddrig-witziger Fragen aus supponierten Stammtischgesprächen um das „Künstlerpech“ der Nacht vom Stapel. Die höhnische Inquisition erspart dem zum Büsser erniedrigten Staatsratskandidaten keine Peinlichkeit. Öffentliche Beichte im katholischen Milieu sei halt doch eine „komplexere“ Angelegenheit „als sich ein CVP-Familienpolitiker vorstellen“ könne. Erniedrigend tönt die Schlusspassage der Kolumne: „Zum Glück für Sie beginnt gerade die Jagdsaison und Sie können sich wie jedes Jahr mit der Flinte und lieben Kollegen ins Gebirge verziehen… Unser Mitgefühl gilt denn auch ausschliesslich denen, die im Tal bleiben: dem Kind und seiner Mutter, Ihrer Ehefrau und Ihren drei Kindern.“ Humor könnte versöhnlich stimmen. Doch in der fies-frotzelnden, vor Selbstgerechtigkeit triefenden Kolumne wird der Humor skandalös.

Dass die SCHWEIZER ILLUSTRIERTE in einem Schmäh-Aufmacher zu den Folgen eines Ehebruchs die Erfolgschancen des angeschlagenen Parteipolitikers als Wahlkandidat thematisiert, weckt den Verdacht, die Presse verletze ihren GRUNDSATZ, NICHT POLITIK ZU MACHEN. Gemäss einer ihrer vornehmen Regeln beschränkt sich die Aufgabe der Informationsmedien darauf, Politik neutral und sachlich zu  e r k l ä r e n. Eine Politiker-Karikatur wird in unserer Kultur nicht als persönlicher Angriff verstanden. Ein derartiges Eindringen in die persönliche Angelegenheit - sogar in den Intimbereich eines Menschen - ist eine Verletzung seiner Privatsphäre. Es ist missbräuchlich und belastet seine öffentliche Existenz gravierend.






BLICKWECHSEL:  P I K A N T  ist im Hinblick auf Ihre Publikations-Strategie ein anderer Umstand als Ihr Anlass zur Titel-Publikation: Der BLICK, welcher - um bei der Jägersprache zu bleiben - das Wild zur Strecke bringt, gehört mit der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN zur selben Boulevard-Gruppe, beide sind prominente Medienportale des RINGIER-Konzerns.

Es ist gerade Jagdzeit. Nein, Sie, die Redaktion, ziehen Ihre Trefferfolge sichernde „Treibjagd“ doch (hoffentlich!) nicht durch, als ob Sie in den Siebzigerjahren oder danach Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und Günter Wallraffs „Der Aufmacher“ nie gelesen hätten.

Es sei kurz erinnert:

B ö l l  hat in den wilden Jahren der „Roten Armee Fraktion“ und politisch brisanter Affären mit der Jagdgeschichte seiner „ZEITUNG“ die deutsche BILD-Zeitung im Visier. In seinem fiktiven Fall begeht die Boulevardpresse durch aufreizende Berichte Rufmord an einer bisher unbescholtenen Frau. Sie verfälscht Tatsachen über deren Zufallsbeziehung zu einem flüchtigen Verbrecher und löst gegen die von der „ZEITUNG“ als „Terroristenbraut“ oder „Räuberflittchen“ Verschriene eine Hetzkampagne aus. - W a l l r a f f  gibt mit seinen Reportagen Einblick in die anonyme Schmutz-Arbeit als Reporter hinter den Kulissen des berüchtigten Boulevardblatts, das schon damals zum SPRINGER-Konzern gehörte. Der Enthüllungsjournalist macht sich selbst unter falscher Identität zum „Schräubchen der Meinungsmache-Maschinerie“ (Erik Möller) und verfasst für die absatzhungrige BILD-Redaktion Sensationsreportagen, welche die Wahrheit im Schnüffel-Dienst der BILD-Zeitung raffiniert verzerren. Sein Beweismaterial ist authentisch.

Niemand unterstellt Ihnen, dass Sie davon ausgehen, die literarischen Highlights der Siebzigerjahre seien ausgeweidet und vergessen. Wenn man sich auch keine Illusionen über die Langzeitwirkung von Literatur machen soll: zum Schund herunterziehen lassen sich trotz Anfeindungen und Prozessen weder Wallraff noch Böll. Das wissen Sie. Selbstverständlich hat die Boulevardpresse das Image ihrer wilden Zeit inzwischen abgestreift, grobe Verfälschungen lässt sie sich nicht mehr unterschieben, als „Lügenpresse“ kommt sie nicht mehr daher, sollte man meinen. Denn: Sie ist nicht nur dem Markt und absatz-ökonomische Werten verpflichtet, sondern auch politischen - etwa der Familienpolitik, auf die Sie den ertappten Parteipolitiker berufen - und insbesondere recherchierten Tatsachen. Ihre Leser dürfen annehmen: Ein Wertekodex und seriöses Management sind für Sie verbindlich. Sie unterziehen sich einem Presserat, der Ihre Arbeit kontrolliert. Und darum nein, Ihre Reportage zum „Fall“ Darbellay ist bestimmt keine Jagdgeschichte im bekannten „Western-Stil“! Die wilden Jahre sind ja vorbei…

Schliesslich sind Sie gross geworden. Schön! Und man wird es nicht als Ironie der Geschichte betrachten, sondern als Fortschritt, dass die Unterhaltungs-Presse durch Fusionen und Beteiligungen nicht bloss  g r o s s  geworden ist und weiterhin kompetent Royal News verbreitet oder Starkarrieren feiert, sondern: dass sie sich, von Korruption gereinigt, zur eilfertigen SCHUTZMACHT der vom Schicksal oder korrupten Mächten Geschlagenen aufgeschwungen hat. Zum Beispiel - in der Ausgabe vom 16.9. - von Dürre heimgesuchter afrikanischer Dorfbewohner oder arbeitswilliger Flüchtlinge in Como. Vielleicht spürt sie auch mal verwickelten  Steuerfluchtwegen nach? Offshore-Konten von Shareholdern und Konzernen? Soziales Sharing ist heute ja angesagt - Teilen!

Man hat es gewiss nicht der presse-kritischen Literatur jener wilden Jahre zu verdanken, dass Ihre Branche sich heute ein sauberes Image zulegt. Kühler Geschäftssinn diktiert die Schritte. Der von der Achtundsechziger-Bewegung grob angefeindete SPRINGER-Konzern hat sich inzwischen als mächtiger Partner still dem RINGIER-Konzern mit BLICK-Gruppe, SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN oder BEOBACHTER verbunden. Strategischer Kalkül ist bei marktpolitischen Unternehmen am Werk. Über das Schweizer Medienhaus ist SPRINGER nicht zuletzt ein nach Osteuropa ausgreifendes Mini-Imperium zugewachsen.



 


Was bringen solche Hochzeiten? Die  e l e k t r o n i s c h e n  Imperien und besonders die interaktiven „SOCIAL MEDIA“ sind als ebenso ungreifbare wie unüberwindliche Konkurrenz im globalen Feld aufgerückt. Trotz seriösem Management schwinden nicht nur die Absatzzahlen der Papiermedien bedrohlich, sondern - logischerweise - auch die Anteile am sogenannten Werbekuchen. Ja, da muss man sich einiges einfallen lassen. Sich allseitig gut absichern wie Bergsteiger auf einer komplizierten Gratwanderung. Die Luft ist dünn. Mit Mitleid kann kein Hochwild-Jäger rechnen, der da  o b e n  einsam abstürzt. Darum knüpft man Seilschaften, vernetzt sich im grossen Stil, wächst, verzweigt sich durch Beteiligungen, gründet Holdings, Joint Ventures, diversifiziert im Mediengeschäft, wird international. Hochglanz poliert die Reputation, TV- und Radio-Holdings sichern Werbeaufträge und frisches Kapital, in Asien und Afrika öffnen sich neue Märkte… 

Auf unserem politisch gesitteten Kontinent hat die Aufklärung sich endlich durchgesetzt, die Bürger- und Menschenrechte haben ihre Anwälte. Keine Redaktionen werden besetzt und gleichgeschaltet, keine Journalisten werden verhaftet oder ermordet. Nicht hier. Das verdanken wir der Gewaltenteilung, der Meinungsfreiheit, demokratischer Selbstkontrolle. Und besonders seriösen Medien. Wenigstens solange sie ihren guten Vorsätzen treu bleiben. Nein, die wilden Jahre sind zwar vorbei. Aber man darf sich nicht zurücksehnen…

Und hinter blitzblanken Glasfassaden schon gar nicht zurücklehnen! Sie, voran Ihre Chefetage im RINGIER-Konzern, drängen seit zwei, drei Jahren zum ganz grossen Sprung: „Das Informationsgewitter im Internet ist eine grandiose Chance der Zeitschriften“, sagt Ihr CEO Marc Walder in  d e r s e l b e n  Nummer der SJ vom 16.September und eröffnet das neue Konzept. Das Imperium wächst im Konzert mit SPRINGER auch ONLINE. Der Zweck ist die Ursache. Gerade darum geht es angeblich: die guten Vorsätze gegen den Wildwuchs des Internets umzusetzen, das Vertrauen einer agilen jungen Leserschaft und die Kontrolle zurück zu gewinnen, Regeln und journalistische Qualität gegen die auf Smartphones explodierende Konkurrenz der SOCIAL MEDIA zu verteidigen und - natürlich auch Anteile an der Online-Werbung zu sichern. „Aktionsradius Digital Switzerland“? Ja, zusammen mit SWISSCOM und SRG-online. „Miteinander statt gegeneinander“ lautet die paradoxe Devise Walders zur „Lösung der Krise“, just nachdem der RINGIER-Konzern aus dem  Verlegerverband  a u s g e t r e t e n  ist.




 

Widerspruch aus einem Organ Ihrer Gruppe? Im „Standpunkt“ beklagt der wertetreue BEOBACHTER unter dem Titel „Glaubwürdigkeit der Medien bröckelt“ in der Ausgabe vom 16.September, dass der Verlegerverband die Gelder für den Presserat gestrichen habe und damit den Bürgerschutz schwäche. Walder von Ihrer Chefetage beruhigt in der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN gleichentags, man habe den fehlenden Beitrag an den Presserat einbezahlt, damit die Qualitätssicherung garantiert bleibe. Das wirkt wie eine intern abgestimmte Aktion. Eine vertrauensbildende Massnahme? Nun, der Dialog scheint zu spielen. Ihre kritischen Leser dürfen hoffen. Hoffentlich.

Der BEOBACHTER produziert keine Klatschspalten, der Boulevard ist nicht seine Welt. Er setzt sich traditionsgemäss für die Anliegen der Bürger ein. Vor allem der kleinen, der schwachen. Er schafft heute die klassische Synthese von Belehrung und Unterhaltung auf beinahe ideale Weise, nämlich ohne mit dem aufdringlichen Mahnfinger zu fuchteln (Bravo!). Falls die Autorität des Presserats untergraben würde, wäre er als Ersatzjury prädestiniert. In einen  B e o b a c h t e r  wie ihn setzen kritische Leser gewisser Konzernerzeugnisse eine Erwartung. Er könnte den Goldenen Stinkfinger verleihen. Ihn wenigstens zu zeigen wäre im Fall Ihres Aufmachers über den „F a l l  D a r b e l l a y“  jedenfalls angebracht!





Für einen Politiker, der sein Privatleben öffentlich zugänglich gemacht habe wie kaum ein Zweiter im Land, sei Christophe Darbellay „mit einem blauen Auge davongekommen, zumindest medial“, soll Peter Rothenbühler - der EX-Chefredaktor der SJ,  Erfinder des People-Journalismus und Kolumnist - suffisant bemerkt haben. Was man von der Person des Angegriffenen immer hält, die auf den nationalen Politiker und Menschen zielende Schmähkampagne von BLICK und SJ ist unter dem Niveau eines seriösen Boulevards. Der BEOBACHTER hätte mit seiner Anmerkung auch in diesem Sinn recht: Die Qualität des Boulevard-Journalismus „bröckelt“ - selbst wenn man in Frage stellen müsste, ob er überhaupt je sauber war.

Doch es geht unabhängig vom Qualitätsniveau noch um den prinzipiellen Gesichtspunkt: Die Kampagne beider Boulevardmedien setzt sich auch in einen Widerspruch zum erwähnten journalistischen Grundsatz, welchen der Konzernchef Walder im SJ-Interview derselben Ausgabe postuliert, die Presse habe  P o l i t i k  n i c h t  z u  m a c h e n, sondern vielmehr sie zu  e r k l ä  r e n, das heisst: eine politisch  n e u t r a l e  Haltung zu vertreten.







Zum Schluss: Ich habe längst alle meine Printmedien online. Mit einer Ausnahme: dem BEOBACHTER. Ihn lese ich auf Papier. Auf die SJ habe ich kein Abo. Darum haben Sie mir eine Gratis-Probenummer zugedacht. Ausgerechnet diese. Ich habe geschnuppert. Danke, auf das persönliche Schnupperangebot verzichte ich. Hier meine Reaktion. Ich wünsche nicht, dass Sie sie als Leserbrief veröffentlichen. Ich täusche mich kaum: Sie würden es aus verschiedenen Gründen ohnehin nicht tun.



Mit freundlichen Grüssen

Ein Adressat Ihres Schnupperangebots 





  
  


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