Donnerstag, 27. August 2015

Ikonen, neue Horizonte - und Rückblicke in die Literatur- und Sozialgeschichte





INHALT


Die Monduhr
Die Privatbank

Ein kurzer Querlauf durch die Wirtschafts- und Kulturgeschichte:

Fürstliche Schatzkammern und bürgerliche Uhrzeit, Maschinen-Menschen und künstliche Welt, Goldakkumulation und Seelenheil

- Arbeitskraft und Geld
- Romantische Kunstmärchen und künstliche Welten
- Fortschrittsutopie: Mensch als Maschine und mechanische Automation
     Clemens Brentano
     Jean Paul
- Denkmaschinen und die Horizonterweiterung durch Cyberspace:
     Novalis und August Wilhelm Schlegel
     Timothy Leary und Jaron Lanier

Ikonen - Entracte über Entgrenzung und Sinnlichkeit der Werbung
     Andy Warhol, Chanel und Breitling

Eine kleine „Kulturgeschichte“ der Finanzwirtschaft

- Goldrausch um nichts als einen Schatten
     Adalbert von Chamisso, "Peter Schlemihl"
     Finanzalchemie oder die „nihilistische Geldschöpfung“
     Law, Necker, Assignat-Inflation, Revolution
     Johann Wolfgang v.Goethe, „Faust II“ und Briefe an Zelter

Zum Schluss






DIE MONDUHR








HIGHSPACE HORIZON. Ein plastisches Profil des Monds. Auf seiner von der Erde abgewandten Schattenseite präsentiert OMEGA das Gehäuse der jüngsten Kreation ihrer SPEEDMASTER. Das Sonnenlicht streift ein schmales von Kratern übersätes Segment am Rand des Trabanten. Funkelnd schwarz hebt sich der matt gebürstete Edelstahl des Gehäuses vom graphitschwarzen Mondschatten ab. Die gedrängten Markierungspunkte des Tachymeterbands symbolisieren Beschleunigung, die Leuchtstäbe auf dem Zifferblatt die Klarheit chronometrischer Ordnung. Mit dem Slogan THE DARK SIDE OF THE MOON macht Werbung die Novität zur astronautischen Ikone, denn der knappe Untertitel spielt mit dem Reiz einer doppelgründigen Assoziation: „ONCE AGAIN, THE MOON IS THE STAR!“

Der unaufmerksame Betrachter bezieht die Botschaft wohl spontan auf die präsentierte Uhr: Klar, der Mond ist die geheimnisvolle Bühne für den leuchtenden Auftritt, der umworbene Star am Himmel ist die SPEEDMASTER. Schaut er aber genauer hin, dann gelingt ihm die Verfremdung. Er bezieht den Satz, so wie er steht, auf den Mond, er fragt und erkennt die Doppeldeutigkeit: ONCE AGAIN - weshalb jetzt wieder? Die alte Heldengeschichte der Mondexpedition aufersteht, genau! Die Werbung erinnert diskret an den Quantensprung der Raumforschung vor fünfzig Jahren und die Ehre, dass die SPEEDMASTER damals als privilegierte Begleiterin der Astronauten ihre Mondtaufe erhielt.

Natürlich, die Uhr von OMEGA agierte in einer kleinen Heldenrolle der Geschichte. Die Wendung „wieder einmal“ dürfte heute wohl auch auf die Tatsache anspielen, dass der Mond in einem aktuellen Kontext erneut interessiert: Im Unterschied zum fernen Mars rückt  e r  nun als Forschungsobjekt und Lieferant seltener Rohstoffe wieder in eine Starrolle. Die Chinesen rüsten zur raumkolonialen Expedition, ihr langfristiges Ziel ist die lukrative Ausbeutung des Erdtrabanten. Auch der Mond aufersteht als ein Star in Greifnähe, um dessen Schätze sich die Mächte reissen werden. OMEGA wirbt am erhofften Ende einer Krise, welche uns die Kostbarkeit der Ressourcen einschärfte und unseren selbstzerstörerischen Umgang mit ihnen deutlicher bewusst machte, für ein Symbol des Optimismus und hofft von vergangenem Ruhm zu profitieren.

ONCE AGAIN! Etwas Retro Glam klingt natürlich an. Oh ja, sogar ziemlich viel! Die SPEEDMASTER ist ein automatischer Star mit Facelift. Auch eine längst verjährte Nebencharge ist kommerziell zweckdienlich, wenn man sie werbewirksam nutzt.







Von Columbus soll die Wendung stammen: „Nie geht einer so weit, wenn er nicht weiss wohin.“ Columbus hatte ein Ziel: Indien. Er verfehlte es ohne den Irrtum zu erkennen. Von Cromwell wird der Aphorismus in umgewendeter Bedeutung überliefert: „Niemand steigt so hoch und gelangt so weit wie der, der nicht weiß, wohin er geht.“ Die Sicht der Variante ist wohl pessimistisch. Die Erde und der Wagemut ihrer Erforschung scheinen zur Zeit der Reformation zweifelhaft zu werden. Seine Glaubenszweifel erinnern den Menschen an die göttliche Allmacht und die  eigene Begrenztheit. Die neue Botschaft stellt ihn als Individuum unmittelbar vor Gott und erklärt den Glauben zur allein seligmachenden Kraft. Keine Mittler erwirken seine Auferstehung, allein die Gnade. Gott ist unergründlich, aber er hat seinen Sohn als Botschafter einer möglichen Versöhnung auf die Erde geschickt. An seinem Wort hält der Mensch fest. Am Ende der Welt wird der Botschafter als Richter erscheinen. Die Aufklärung vollzieht zweihundert Jahre nach der Reformation deren säkulare Wende. Sie stellt den Menschen als ein mit Vernunft ausgerüstetes Wesen auf sich selbst. Sie traut ihm zu, sich auf das Wagnis der Erkenntnis einzulassen („sapere aude!“) und für die Konsequenzen seiner Entscheidungen die Verantwortung zu übernehmen. Die Neugier treibt ihn, zu erfahren, wohin Experiment und Logik ihn führen.  

Im 20.Jahrhundert öffnet die Technik den Zugang zum erdnahen Raum und erweitert die optische Reichweite in die Tiefen des Kosmos. Die Technik schliesst neue Horizonte auf. Sie inspiriert die Fortschrittsgläubigkeit und entfesselt die Energien einer schwindelnden Produktivität. Aber sie provoziert auch Widerstand. Ein ästhetisches Wunderwerk wie die SPEEDMASTER erscheint in der Perspektive unseres OMEGA-Inserats als exquisites Symbol des Hochsprungs zum Trabanten. Werbung verlockt, in ein Idol des technologischen Fortschritts zu investieren. Macht sie die Armbanduhr zum teuren Fetisch gegen die Anfechtung des Zweifels?

Mit der Uhr den Mond zu kolonisieren, unsere in Sekunden gemessene Zeit in die Staubwüste des Kopernikus-Kraters zu exportieren - absurd! In Afghanistan herrscht ein jahrzehntelanger brutaler Krieg, permanenter Terror. Jederzeit anwesender Tod umgibt die Gebirgsbauern, welche mit Stockpflügen die staubige Erde aufkratzen, mitten in ihrer gemessen ertragenen Mühseligkeit. Wie können sie sich einen zukünftigen Frieden vorstellen - und wann wird er eintreten? Der Afghane antwortet dem westlichen Besucher - Roger Willemsen: „Sie haben die Uhr, wir haben die Zeit.“ 

Mir fällt der paradox erheiternde Satz des Komikers Gerhard Bronnen ein, weil er die Idee der Geschwindigkeit in einer den Sinn der Zitate variierenden Proposition ins Spiel bringt: „Ich hab zwoar kha Ahnung wo i hin fahr, aber dafür bin i g’schwinder dort.“ Die zeit- und zielgenaue Landung der "Philae"-Sonde auf dem Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko nach einem Raumflug von zehneinhalb Jahren kann schwankenden Glauben an die Präzision der Technik wieder ins Lot setzen. Falls es glückt, vom All Aufschluss über die Herkunft des Lebens zu gewinnen, bleibt doch die Ungewissheit, ob wir die Geschwindigkeit des Fortschritts und seine konfliktreichen, das Leben bedrohenden Auswirkungen auf der Erde meistern. Man möchte sich etwas weniger Speed, dafür etwas mehr Zeit wünschen.




DIE PRIVATBANK










HIGH ART OF HORIZON-EXTENSION. LGT, die fürstliche Privatbank der Zwergmonarchie Liechtenstein, ist renommiert für „DIE KUNST, HORIZONTE ZU ERWEITERN“. Sie wirbt unter Einsatz von Gemälden und Stichen der Kunstsammlung des Hauses. In einer Kombination von preziösen Details aus der Sammlung und kurzen Szenen-Trailern empfiehlt sie ihre Investment-Beratung unter dem Slogan „ZEIT FÜR NEUE ANLAGEHORIZONTE“. In einem dieser eleganten „Deux-Pièces“ schreitet eine junge Frau barfuss auf dem Sandstrand gegen einen luziden Horizont. Das seidene Pinkrosa ihres Kleids, durch welches der sanfte Meerwind fliesst, verbindet sich mit der zarten Farbe der sich öffnenden Pfingstrosenblüte eines kolorierten Stichs aus dem 18.Jahrhundert. Der kurze Trailer symbolisiert die Leitidee.

Der CEO SD Prinz Max von und zu Liechtenstein richtet sich in einer Leitadresse rück- und vorausblickend an die geehrte Kundschaft. Er betont, dass die durch lange partnerschaftliche Tradition begründete Kultur dem Unternehmen „eine starke Identität“ verleihe und wirbt um ihr Vertrauen: „Das wirtschaftliche Umfeld war in den letzten Jahren von grosser Unsicherheit geprägt. Gerade vor dem Hintergrund der Finanz- und Verschuldungskrise haben traditionelle Werte wie Sicherheit, Kompetenz und Integrität  wieder eine grosse Bedeutung und neue Aktualität erhalten.“







„Zeit, Vertrauen in Leistung umzusetzen“, lautet ein Slogan zum Anlage-Angebot. Die Bank steht mit ihrem Beraterservice zu Dienst, „wenn Sie Ihre Anlageziele mit einem verlässlichen Partner an Ihrer Seite erreichen möchten.“  

Der zu diesem Angebot aufgeschaltete Werbe-Trailer symbolisiert das Vertrauensverhältnis durch den stummen szenischen Dialog zwischen einer Damenreiterin und ihrem Pferd. Die Reiterin steht - offenbar zum Ausritt bereit - an der Flanke des gesattelten Pferds. Mit einer Wendung ihres Gesichts nach der Seite sucht ihr Blick das Auge des Tiers. Darauf lehnt sie, die Zügel locker in der linken Hand, lächelnd ihren Kopf mit beinahe kosender Gebärde an seinen Hals.

Der Blick der Dame verrät eine herzhaft-innige, ja geradezu intim-hingebungsvolle Vertrautheit mit ihrem Pferd. Dieses verkörpert, wenn man die Gebärde mit dem Wort des Leitbriefs übersetzt, die durch den CEO angepriesenen „starke Identität“ des Geldinstituts. In der schlichten Szene ist ein Versprechen umgesetzt: Die Partnerschaft zwischen dem Kunden/der Kundin und dem Bankhaus ist durch ein tiefes gegenseitiges Verständnis begründet, von dem man annehmen muss, dass es eitle Eigennützigkeit ausschliesst.

Doch im Rückblick auf die heikle Vorkrisen-Geschichte finanzieller Interessenpartnerschaft zwischen Banken und Anlegern entlarvt sich die Trailerszene als vollendeter Edelkitsch. Man gestatte den Ausdruck. Retro-Glam im Stil einer Courths-Mahler-Story soll „durch lange Tradition begründetes“ Wertverständnis neu verankern, als ob die im verlogenen Genre idealisierte Finanzkultur einer ancienne aristocratie bourgeoise, wenn sie je gelebt hat, nicht lange vor der letzten Finanzkrise gestorben wäre. Vom Prinz-Patron sanktionierte Werbung soll bürgerliche Redlichkeit aus ihrem Jahrhundertschlaf wachküssen und durch den Schwindel hemmungsloser Finanzjongleure verlorenen Anlageoptimismus zurückzaubern.

Falls Werbung also verlorenes Vertrauen restituieren will, ist ihr - selbst wenn ihr Versprechen mit dem Segen der Kirche und der säkularen Garantie eines fürstlichen oder nationalen Vermögens versehen wäre - ein solches Heilungswunder heute noch zuzutrauen? Verdient Werbung überhaupt Vertrauen?

„Zeit, Vertrauen in Leistung umzusetzen“, lautet der Werbeslogan zum Anlage-Angebot der fürstlichen Bank. Von welcher Art und wie zu verstehen ist der Begriff „Leistung“ unter den Umständen einer finanztechnischer Geldakkumulation, deren Verselbständigung die Finanzkrise und den mit dem Einbruch einer tragenden Eisdecke vergleichbaren Absturz der Werte auslöste? Wer weiss, vielleicht leistet die Schatzkammer der Miniaturmonarchie von Vaduz ja Garantie für echte Wert-Schätzung und eine neue Kultur des Anstands. Leisten der akkumulierter Reichtum der fürstlichen Schatzkammer oder der Goldschatz der schweizerischen Nationalbank in Zukunft auch die Garantie für jene Wert-Sicherheit, in welche sich das umworbene Vertrauen sowohl der grossen Geldanleger wie auch der kleinen Sparer investiert? 

          
                                         
                                                                                     
                                           

„Langfristig orientierte Eigentümerstruktur“ und eine „durch klare Werte geprägte Kultur“ stehen als Grundlage für die versprochene Sicherheit im Angebot. Das durch den kurzen Werbetrailer der fürstlich-liechtensteinischen Bank perfekt in Anschauung umgesetzte Einverständnis zwischen Kunden/Kundin und Institut ist als ein  P a k t  zu verstehen. Er ist die Besiegelung einer privaten Vereinbarung im wechselseitigen Interesse. Aber für die Vergangenheit, einschliesslich jener Zeit, welche der Rückblick des fürstlichen Prinzipals als „von grosser Unsicherheit geprägt“ charakterisiert, wird man annehmen dürfen, dass der Kontrakt, falls er ein juristisch begründetes Recht oder ein legitimes Interesse Dritter beeinträchtigte, stillschweigend ein Mitwissen der Geschädigten ausschloss, um den Partnern aus dem dadurch erwachsenen Vorteil einen wechselseitigen Gewinn zu garantieren.

In jener Zeit, wo Bankinstitute Steuerfluchtgeldern einen „sicheren“ grünen (gemäss dem juristischen Farbkreis grauen) Hafen weit offen hielten und Länder, Ländchen oder Gemeinden reichen Steuerflüchtlingen und insbesondere Konzernen Sondersteuer-Privilegien anboten, welche bis heute nicht abgeschafft sind, kann man annehmen, dass ein Kontrakt, welcher einen wechselseitigen Vorteil auf Vertrauensbasis garantierte, ein Geldinstitut nicht hinderte, sein Eigeninteresse zu verfolgen. Es ist nicht auszuschliessen, dass dieses unter Umständen dem Interesse des Privatkunden zuwiderlief, falls ihm zum Beispiel gewisse Informationen zu Bedingungen oder Änderungen bewusst vorenthalten oder nicht ausreichend erklärt wurden.

Es war die Zeit, in welcher Banken das Recht beanspruchten, aus Geld, welches ihnen von ihren Kunden anvertraut war, Geld zu schaffen oder „Geld aus dem Nichts zu machen“, wie Bernd Senf, ein prominenter Kritiker des Zinssystems, die Sache formuliert. Sie erwirtschafteten also mit Geld, das ihnen nicht gehörte, schnell wachsende Gewinne, welche durch den Gesamtwert der Realwirtschaft teilweise nicht abgedeckt und deshalb ungesichert waren. Die ungedeckten Gewinne drohten sich in ebenso schnell wachsende Verluste zu verwandeln, welche komplizierte Investitions-Konstrukte mit sich in den Abgrund ziehen und unter fatalen Umständen im Sturz gigantische Werte vernichten konnten. Dieses „produktive“ Geld gehörte eigentlich der Nationalbank und war den Banken genauso wie ihren Kunden nur geliehen.

Gemäss Credit Suisse und IWF stiegen die Privatvermögen weltweit seit 2000 von 117 auf 263 Billionen Dollar. Stellt man die Summe der Geldakkumulation dem Wachstum der Weltwirtschaftsleistung gegenüber, nämlich von 33 auf 78 Billionen Dollar, dann müsste man den Schluss ziehen, dass es im Geldsektor längst zur sogenannten Kernschmelze hätte kommen sollen. Weshalb ist sie nicht eingetreten? Der Finanzanalyst Mike Mayo hat darauf die entwaffnende Antwort, mit der er auf Polanskis Film anspielt: Die Kreditindustrie, die das System am Leben erhalte, sei eben „Chinatown“ - darum ändere sich das System auch nach der Krise nicht!

In der Schweiz - man darf Liechtenstein wohl einbeziehen - haben sich in 25 Jahren die Vermögen der hundert Reichsten fast verfünffacht, das soziale Gefälle hat sich derart verstärkt, dass im Kanton Zürich allein die zehn Reichsten das Vermögen der 500‘000 ärmsten Einwohner wettmachen. Die dreihundert Reichsten des Landes verfügen mit 374 Milliarden Franken Vermögen fast über die Summe seines jährlichen Bruttosozialprodukts. Liechtenstein „ist in der Top-10-Parade mit dem durchlauchtigen Fürsten höchstderoselbst vertreten, der mit sechs bis sieben Milliarden Franken Vermögen Rang zehn besetzt“ (BILANZ).

Kapitalakkumulation, welche den Realwert der Arbeit oder den Gebrauchswert von Land und Gütern übersteigt, wächst und treibt in die Zone der Irrationalität, in den Bereich der Ahnungen und Träume. Bekanntlich verwandeln sich Träume nicht selten unvorhergesehen in Alpträume, denn sie werden ihrem Wesen gemäss von Mächten gesteuert, welche sich der diskursiven Logik entziehen.













EIN KURZER QUERLAUF DURCH DIE WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE:




FÜRSTLICHE SCHATZKAMMERN UND BÜRGERLICHE UHRZEIT, MASCHINEN-MENSCHEN UND KÜNSTLICHE WELT, GOLDAKKUMULATION UND SEELENHEIL


ARBEITSKRAFT UND GELD. In deutschen Landen hatte der revolutionskaiserliche Kriegs-Merkantilismus verheerende Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Während der napoleonischen Besetzung erwachten in Preussen aber der durch die Romantik inspirierte Nationalgeist und der Wille zu politischer Reform. Auf die Befreiungskriege folgte indessen die Restauration. Sie stellte in Preussen das monarchische Prinzip über eine in der Volkssouveränität gründende Verfassung. Der Mundkorb wurde wieder aufgezwungen. Die Spitzel spitzten ihre Ohren. Der Geist der politischen Reformromantik überlebte die Reaktion, welche gegen radikale Umtriebe mit Zensur, Geheimpolizei und Verfolgung vorging, im Rückzug einer pragmatischen Selbstbeschränkung.

Die Bauernbefreiung wurde von oben eingeschränkt und war in Zukunft durch die Abgabe von Land an den adligen Grossgrundbesitz zu entgelten. Steins Idee der Selbstverwaltung von Kreisen und Gemeinden ging in der Reorganisation der Staatsverwaltung unter. Preussischer Bürokratismus förderte im 19.Jahrhundert die Mentalität der Anpassung. Das Fieber des technischen Aufbruchs, die sozialen Umwälzungen, der Konkurrenzdruck und die Spekulationsgier der Finanzaristokratie während der Vormärz-Zeit - einer spiegelbildlichen Epoche politischer Halbheiten und verlogener Loyalität privater Interessen - machte in der Epoche der Industrialisierung idealistische Hoffnungen zunichte. Das durch die Landabtretung (das „Bauernlegen“) und natürliche Bevölkerungszunahme anwachsende Proletariat von Landarbeitern oder verarmten und überschuldeten Kleinbauern wanderte in die Industrie ab, welche sich vor allem unter der 1834 gegründeten Zollunion rapide entwickelte und bei der enormen Reserve an „Maschinenfutter“ in Zeiten der Hochkonjunktur sichere, wenn auch billige Arbeitsplätze anbot. Gegen Arbeitsunfall und Arbeitslosigkeit in der Krise war aber zur Zeit der frühen Industrialisierung und des Hochkapitalismus noch keinerlei Schutz vorgesehen.










Träger des Kreditwesens, welches anfänglich auch die kapitalbedürftige Eisenindustrie und den Eisenbahnbau finanzierte, waren traditionelle private Bankhäuser wie die Sal.Oppenheimsche und die Schaafhausensche Privatbank oder die herzogliche Württembergische Hofbank. 1835 wurde als erste grosse Aktienbank die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank A.G. gegründet. Die Schaafhausensche Bank wurde im Jahr der Bürgerrevolution 1848 in Preussen durch ministeriales Zwangsdekret in eine Aktienbank umgewandelt, weil sie sich durch risikoreiche Spekulationsgeschäfte in der rheinländischen Schwerindustrie überhoben hatte. Durch die Aktiengesellschaften der „Gründerzeit“ erfolgte die Finanzierung des technisch-industriellen Fortschritts im grossen Stil.

Das ärmliche, durch seinen Herrn von Wien aus verwaltete Reichsfürstentum Liechtenstein erlangte durch Napoleon 1806 als Mitglied des Rheinbunds die Souveränität und blieb nach dem Wiener Kongress ein selbständiger Kleinstaat im Deutschen Bund. Die verkehrsgeografische und wirtschaftliche Isolation verhinderte lange den Anschluss an die Industrialisierung. Schlechten Zusatzverdienst bot noch im 19.Jahrhundert das von aufgeklärten Philanthropen und Aposteln der Gemeinnützigkeit in den rückständigen Gebirgsregionen zum Hanf- und Flachsanbau propagierte Spinnen und Weben. Ihre Ärmlichkeit streifte die nach dem Zusammenbruch von 1918 neben Luxemburg einzige Kleinmonarchie Mitteleuropas erst seit dem Zollvertrag mit der Schweiz ab. Damals - um 1920 - wurde die Bank von Liechtenstein gegründet. In den folgenden drei Jahren wurde das Bankgeheimnis verankert und der Schweizer Franken zur Landeswährung erhoben.







            







ROMANTISCHE KUNSTMÄRCHEN UND KÜNSTLICHE WELTEN. An Märchenwunder glaubte der rheinländische Dichter Clemens Brentano, welcher sich zur Zeit der napoleonischen Besetzung und in den ersten Jahren der nachfolgenden Restauration meist in Berlin aufhielt, nicht mehr. In der „Zueignung“ zur späteren Version seiner Märchennovelle „Gockel, Hinkel und Gackeleia“ enthüllt der Poet, dass er sich als „träumerischer Knabe“ 1791 bei der Kaiserkrönung in Frankfurt „für nichts mehr und nichts weniger als den verkannten privatisierenden Regenten von Vadutz“ gehalten habe und erinnert sich, wie seine blühende Kinderfantasie die „Schatz- und Kunstkammer“ seines eingebildeten Kleinfürstentums mit allen exotischen Wundern, Kuriositäten, Raritäten und Kleinodien ausgestattet hatte. Die überarbeitete Fassung des Märchens entstand nach 1835 in München und erschien 1838. Die Zollunion hatte die Schranken beseitigt. In den Rheinlanden entwickelte sich die Schwerindustrie. Borsig begann zu dieser Zeit in Berlin Lokomotiven zu bauen und die Eisenbahn befuhr die erste Fernstrecke von Dresden nach Leipzig. 1835 wurde in München die erste Aktienbank eröffnet.







In seiner Jenaer Zeit hatte Brentano das Potenzial entwickelt, die naive Kreativität seiner Fantasie aus der Distanz romantischer Ironie zu brechen. Leicht fällt es ihm daher, am Schluss der „Zueignung“ der Kritik seiner bürgerlichen Leserschaft zuzugestehen, dass seine Fantasie oft mit ihm „davongehe“. Er nutzt aber das Eingeständnis, um sich - aus Widerspruch zu einer als trügerisch erlebten geregelten Wert- und Güterordnung - freimütig zu seinem fatalen Medium und zur Märchensatire als Kunstgattung seiner Wahl zu bekennen. Alles an der zugeeigneten „Rarität“, verrät er, sei nichts als „ein Märchen“. Und er widerrufe nicht, „Vadutz“ bleibe für ihn noch im Alter „das Land der Schätze, Geheimnisse und Kleinodien“.

Gerade er, Brentano, kannte bei seiner scheinbar realitätsfeindlichen Borniertheit die Abgründe, die Unsicherheit menschlicher Existenz, und die Verwirrung, in welche fehlgeleitete Erwartung die Gesellschaft stürzen konnte. Er, der Kaufmannssohn, hielt an der kindlichen Einbildung und der Sprachmagie romantischer Fantastik fest, obschon - oder gerade weil - ihn die Spekulationskrisen des frühen Aktienkapitalismus wohl lehrten, dass die Schatzkammern des durch Renten auf schwindelnden Mehrwert akkumulierten Kapitals keine Lebensgarantie für soziale Sicherheit leisteten.




   


Novalis und die frühe Romantik hatten die Magie der poetischen Fantasie und des Traums entdeckt und das Märchen zur literarischen Gattung erhoben. Der romantische Glaube an eine ursprüngliche Einheit von Gemüt und Welt, welche sich aus dem Geist der Poesie restituieren sollte, war allerdings zweifelhaft geworden und die absolut gesetzte Fantasie begann ihre dämonische Kehrseite herauszukehren. Man denke etwa an E.T.A. Hoffmanns zwischen preussischer Beamtenkarriere und den Heimsuchungen seiner halluzinativen Fantasie gespaltene Existenz, an seine „Elixiere des Teufels“. Brentanos und Hoffmanns „gebrochenes Verhältnis zwischen dichterischer Unmittelbarkeit und gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Friedhelm Kemp), weist weit über die Bürgerherrlichkeit der kapitalistischen Gründerzeit und der Belle Epoque hinaus. Das poetische Konzept ihrer gut ein Jahrhundert vor der Katastrophe des ersten Weltkriegs und der politischen Umwälzung von 1917/19 entstandenen Dichtung gilt wie Kleists, Heines oder Büchners Werk, um dieses Jahrhundert später wiedererweckt und entdeckt, als „modern“.

Im Unterschied zu den Spätromantikern Heine oder auch Eichendorff blieb Brentano ein merkwürdig unpolitischer Dichter, ganz seinem Dämon Fantasie und dessen Peinigungen sowie nach 1819 einer wahnhaften - vielleicht als Zuflucht zu verstehenden - Religiosität verfallen. Einem begüterten Frankfurter Kaufmannshaus entstammend war Brentano zunächst angehender Kaufmann. Doch während seines Studiums emanzipierte er sich durch eine geistige Kehrtwende und schloss sich der in radikalen studentischen Kreisen seiner Generation üblichen Kritik am Philistertum an. Ein grossartiges literarisches Zerrbild des karrierebewussten Bürgertums verfasste er 1807 zusammen mit Görres in der Fantasy-Satire „Wunderbare Geschichte von Bogs dem Uhrmacher“.





                                 



UHRWERKE! Eine wissenschaftliche Kommission hat Bogs „Gesundheitsumstand“ zu begutachten. Die groteske Inspektion seines Kopfs ergibt, dass der Uhrmacher wie die Kehrseiten einer Münze zwei Gesichter hat. In seinen Gehirnhöhlen tickt, tönt, klingt und schwirrt ein Konzert von „hundert und tausend kleinen mikroskopischen Uhren von allen Gattungen und Arten“, wie Stutz, Schlag-, Repetier-, Kunst-, Flöten-, Sonnen- oder astronomischen Uhren.  Ausserdem wimmelt, schreit, klappert, bellt, schellt und schnurrt es von einem in ihrem Innern hausenden „wunderlichen und unnatürlichen“ Sammelsurium von körperhaften Tönen, Gestalten und Sachen wie Hirschen, Hunden, Eulen, Fuhrwerken, Schlitten oder Springbrunnen.

Der Uhrmacher Bogs ist - auf dem Hintergrund der faszinierenden und in akademischen Kreisen damals heftig umstrittenen mechanistischen Auffassung - eine witzige Allegorie des als Automat konzipierten und/oder zur Automaten-Puppe konditionierten Menschen. Der Surrealismus der Groteske parodiert einen philiströsen gesellschaftlichen Zustand, wie Brentano ihn einmal im Roman „Godwi“ satirisch wie folgt umschreibt:

„Ach, es ist sehr traurig, wie ungeschickt uns unsre Erziehung macht; unsere Seele wird vom bürgerlichen Leben, wie von einem Tanzmeister, in eine wunderbare steife Konsequenz und eine auswendig gelernte Mannigfaltigkeit geschraubt, die, sobald wir in die Natur treten, zu höchstverderblicher Ungeschmeidigkeit und Einseitigkeit führen.“

Und in der „Wunderbaren Geschichte von Bogs“ wiederum karikiert er - anfangs der sich  in beschleunigtem Lauf entfaltenden industriellen Revolution - den bürgerlichen Karrieristen, welcher mit der Absicht in der Welt „zu Verstand kommt“, ein „gutes Rad oder eine gesunde Speiche“ zu sein und also als Uhrmacher zu einem „Maschinenglied“ zu erwachsen. Mit der Berufswahl setzt er seinem Leben den Zweck „Zeit zu gewinnen“ und ja keine Zeit „zu verlieren“. Er legt das Bekenntnis ab, er wisse immer, „wieviel an der Uhr ist, um nicht zu wissen, wieviel oder wenig an der Zeit ist“. In einer Rede, welche sich zur Grabpredigt eines „vom Einerlei des Drehens und Gedrehtwerdens“ Ermüdeten steigert, verkündet Bogs, dass die dem „Erdenkloss“ Adam durch Gott eingehauchte Seele eigentlich die metallene „Feder und Gewicht an der Uhr“ und bei Licht betrachtet „gar die Uhr selbst“ sei.

Indem Brentano durch die Folie des Märchens, das er zu einem krausen literarischen Bilderbogen und Zerrspiegel ausgestaltet, die gesellschaftliche und politische Ordnung parodiert, erfasst er intuitiv, was darin an Schönheit und Schauerlichkeit verkorkst und verkapselt angelegt ist. Seine Verweigerung gegenüber dem Anspruch der Konvention, seine „bizarre Manier“, wie er selbst seine  Hingabe an eine absolute labyrinthische Poesie charakterisiert, weist ihn als einen der Vorläufer der Poesie pure, des Surrealismus und der Dadaisten aus. Ein Wort Friedrich Schlegels kann als poetologische Wegweisung gelten: „Der Anfang aller Poesie (ist), den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft auszuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen.“ Novalis setzt das Programm der Frühromantik 1798/99 in den divinatorischen Aphorismen seiner „Brouillons“, wenn er zum Beispiel von „selbsttätiger, absichtlicher idealischer Zufallsproduktion“ spricht.

Absichtliche Zufallsproduktion? Paradox umschreiben die Stichworte des Aphorismus den sprachschöpferischen Akt oder das Entstehen von Poesie. Novalis spricht von einem freien „Spiel“ der Verkettung („Catenation“) und erläutert knapp: „Der Poet braucht die Dinge und Worte wie Tasten und die ganze Poesie beruht auf tätiger Ideenassoziation“. Das Attribut „selbsttätig“ übersetzt das im 18.Jahrhundert aus dem Französischen eingedeutschte Fremdwort „automatisch“. Das Novalis-Zitat erfasst die romantische Wurzel der etwa vom Surrealismus und Dadaismus praktizierten „automatischen“ oder „aleatorischen Poesie“. In einem merkwürdigen und theoretisch - wie noch zu erklären sein wird - keineswegs zufälligen Anklang an das Wort „Verkettung“ bildet die Zeit der digitalen Automation und der Globalisierung zweihundert Jahre später ihr Universalwort „Vernetzung“.











FORTSCHRITTSUTOPIE - MENSCH ALS MASCHINE ODER DIE MECHANISCHE AUTOMATION. Jean Paul versteht in seiner „Vorschule der Ästhetik“ das Spiel der zufälligen Verbindung von Ideen, nach welchem er in seinem verwinkelten, von skurril-witzigen Einfällen strotzenden Erzählwerk selber verfährt, als „wilde Paarung ohne Priester“ und erlebt den Impuls seines humorvollen Dichtens im „Erstaunen über den Zufall, der durch die Welt zieht, spielend mit Klängen und Weltteilen“. Jean Paul und Brentano schöpften die Kunst des assoziativen Erzählverfahrens bis zur Grenze aus. Mit Brentano verbinden Jean Paul die labyrinthische Form sowie Groteske und überquellende Metaphorik, aber nicht das Dämonisch-Abgründige, der Drive spätromantischer Ironie und Fantastik. Das Faszinosum menschlicher Automaten oder die Dämonie des Doppelgänger-Motivs entdeckte vor allem E.T.A. Hoffmann für die Spätromantik und die nachfolgende Fantasy-Literatur. Aber schon zur Zeit der französischen Revolution, anderthalb Jahrzehnte vor Brentanos „Uhrmacher Bogs“, hatte Jean Paul in witzig-satirischer Form das in der Aufklärung verbreitete Thema des Maschinenmenschen aufgegriffen. Es ist nötig, einführend in einem Rückblick auf die Zeit zu werfen, in welcher der Transfer der technischen Errungenschaften in England nach Deutschland erfolgte und die verspätete Industrialisierung auf dem Kontinent einleitete.
  
England war im 18.Jahrhundert der „Workshop of the world“. In Deutschland erfolgte die Mechanisierung der Manufaktur zuerst in der Textilbranche. Die mechanische Baumwoll-Spinnerei und -Weberei hielt in den Rheinlanden oder in Sachsen um 1780 Einzug. Da auf die Ausfuhr von Maschinen in Grossbritannien die Todesstrafe stand, war die Bewerkstelligung des Technologietransfers nach Deutschland nur in Puzzleteilen möglich. Der Aufbau von Fabrikanlagen innerhalb der Ländergrenzen des buntscheckigen Reichs war wegen Industriespionage von Misstrauen und Geheimniskrämerei umwittert. Die ersten technischen Fachkräfte wurden aus England angeheuert. Die heimischen Arbeiter wurden unter rigider Kontrolle beschäftigt. Grenzen und Zölle hemmten die Entwicklung. Als erste Fabrikanten durch den Einsatz wassergetriebener Maschinen - etwa Baumwollkratzen und Arkwrights weiterentwickelter Spinning Mule - das Gewerbe zentralisierten, fürchteten die Heimspinner und -weber durch die vervielfachte Leistungskraft brotlos zu werden. Es kam wie schon in England zu Unruhen. Hungersnot drohte, Familien waren zu ernähren, die Verzweiflung trieb die Handwerker zum Aufstand. Es waren Vorboten der Maschinenstürme des 19.Jahrhunderts. Truppen schlugen sie nieder.








Jean Paul spielt in seiner im Revolutionsjahr 1789 erschienenen Satire „Wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen“ auf ein solches Ereignis in Chemnitz an. Das eigentliche Thema seiner grotesken Zukunftsvision ist nicht die Technik an sich. Vielmehr entwirft er unter dem Aspekt fortschreitender Mechanisierung ein Zerrbild des durch seine technischen Bedürfnisse verformten Menschen.

Jean Paul verfährt mittels scharfsinniger ironischer Zergliederung der Phänomene, um die Monströsität zukünftiger technischer Erfindungen, menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Einrichtungen blosszustellen. Der Mensch erscheint - in ironischer Verfremdung - als Handwerker und Kopfarbeiter, als ein sinnenbegabtes, sprechendes und denkendes Wesen in seinen zahlreichen gesellschaftlichen Standeszuordnungen und Rollen. In der äusserst witzigen Abhandlung zergliedert Jean Paul das vielseitig ausgerüstete und eingerichtete Wesen Mensch und denkt sich alle einzelnen Glieder und Organe - die Hand, den Magen, den Mund, die Sprache und auch das Hirn als Denkmaschine - durch Automaten ersetzbar. Den Körper und die Seele stellt er sich beide im Sinn der Leibnizischen Monadologie, wenn auch in witziger Übersteigerung, als zwei wie Uhrwerke aufeinander abgestimmte, voneinander jedoch völlig unabhängig agierende Wesenheiten vor.

Die Abstimmung ist allerdings nicht perfekt und da die Seele sich leicht täuschen und zum Selbstbetrug hinreissen lässt, während der Körper unbestechlich  und genau funktioniert, kommt es dauernd zu Disharmonie und Reibereien zwischen beiden Instanzen. Gemäss Descartes sind Tiere bekanntlich reine Maschinen. Da ihre Körper als seelenlos vorgestellt werden, agiert das Tier, genauso wie der Körper des Menschen an sich, als eine descartsche Maschine perfekt. Die künstlichen Maschinen, welche der Homo technicus erfindet, sind folgerichtig perfekter als ihr von Widersprüchen gebeutelter Erzeuger. Sie arbeiten „besser und schneller“, daher „laufen sie den Menschen weit vor“. Da sie die Menschen „ausser Nahrung“ zu setzen drohen, üben sie einen unwiderstehlichen Druck auf sie aus. So kommt es, dass angestellte Arbeitskräfte ihre Energie daran setzen, "ganz maschinenmässig zu verfahren und wenigstens künstliche Maschinen abzugeben (ver)suchen, da sie unglücklicherweise keine natürliche sein können“.

                                                         
      
                                
                                                                          



Jean Paul reflektiert im Zerrspiegel seiner Satire - in der Sache mit Descartes konform, aber durchaus ironisch distanziert - das Verhältnis zwischen Denkorgan und Maschine. Das Thema des Maschinenmenschen war durch Lamettries berühmte Schrift „L’homme machine“ (1748) und die mechanistische Erklärung des Organismus längst populär und regte nicht nur den Diskurs in den akademischen Clubs, sondern auch die Konstruktion der im 18.Jahrhundert spektakulären menschlichen Automaten an. Bedenkt man, dass Jean Paul seine groteske „Vision“ noch vor dem eigentlichen Anbruch der industriellen Revolution in Deutschland niederschreibt und damals den spielerischen Schluss zieht, dass die Maschine als eine Art von Superhirn den Menschen konditionieren würde, dann darf man ihm Weitsicht attestieren.

Seine satirische Utopie treibt der Autor in einer skurril anmutenden Hyperbel sogar so weit, hypothetisch die Möglichkeit durchzuspielen, dass maschinenmässige Konstruktionen nicht bloss die Hände, Beine, Augen und alle Sinne, sondern in der „Denkmaschine“ sogar das Denken und die Identität des Menschen ersetzen und potenzieren könnten. Jean Pauls „Einbildung“ des Menschen „auf einer höheren Stufe der Maschinenhaftigkeit“ nimmt die absolute Perfektionierung des Roboters vorweg. Sie ersetzt zum Beispiel durch ein „Gehwerk“ oder einen „Laufwagen“ zur Fortbewegung die Beine, durch eine „Hydraulik“ die Peristaltik der Verdauung, zieht allerdings die elektrische Energie, mit welcher die Aufklärung bereits experimentiert, als „Betriebskraft“ des Organismus noch nicht in Betracht - sie erst könnte den mechanischen Automaten zum autonomen Androiden der Science Fiction machen. NB. Elektrisiermaschine und Kondensator waren immerhin schon um die Jahrhundertmitte entwickelt und das Ergebnis der Experimente Galvanis zur tierischen Elektrizität erschien 1791.
  

         




Jean Paul schliesst die in einen ellenlangen Satz gefasste literarische Eskalation des „vollkommenen“ technischen Zustands, in welchem Erleuchtete wohl den Eintritt des „jüngsten Tags“ erkennen müssten, mit der pessimistischen Bemerkung: „Die Sache wäre verflucht arg und die natura naturans verflöge endlich und nichts bliebe als die natura naturata und bloss die Maschine ohne den Maschinenmeister.“ Und am Ende seiner satirischen Abhandlung „Der Maschinenmann nebst seinen Eigenschaften“ (1789), von dem er den „Saturnianern“ erzählt, umreisst Jean Paul seine Vorstellung der menschlichen Gesellschaft in einer durch Maschinen vollkommen automatisierten Welt: „Mit welchen Vollkommenheiten würde der überzählende Kopf die Erde dann wohl übersäet finden? Namentlich mit Fohismus (Überfluss), vollständiger Apathie, Quietismus, Rentierer- und Hofdamenleben, Nichtsein und Alleskönnen, woran aber wirklich vor Deutschlands neunzehntem Jahrhundert gar nicht zu denken ist.“

Die schlaraffische Stagnation ist nicht eingetreten, die satirische Prognose hat sich nicht erfüllt. Denn: Ziel der Automation ist die Berechenbarkeit und Steigerung der Produktion. Sie erhöht die Effizienz, senkt die Kosten, vergrössert den Mehrwert. Als die logische Fortsetzung der zur Zeit des Merkantilismus systematisch erweiterten Rationalisierung ist sie ein unaufhaltsamer ökonomisch begründeter Prozess. Aus historischer Sicht ist sie kausal verbunden mit der Entwicklung der Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft. Die Erfolgsgeschichte der modernen Industriegesellschaft umfasst etwa die Ausdehnung, Differenzierung und Globalisierung des Markts, die Demokratisierung und Systematisierung der Bildung, die Entstehung  einer hochspezialisierten Grundlagenforschung, die gezielte Entwicklung von Produktion und Handel, staatliche Lenkungs- und Förderungsmassnahmen, Entwicklungsplanung und gesetzliche Aufsicht. Der hohe Leistungsanspruch differenziert den Arbeitsmarkt, multipliziert die Beschäftigung. Die negative Bilanz des technisch-industriellen Wachstums umfasst indessen gravierende Fehlentwicklungen wie: eine masslose Steigerung der Ansprüche und des Verbrauchs, eine mit der anfänglichen Blindheit für die Grenzen des Wachstum verbundene Verschleuderung von Rohstoffen, Energien und Land, daraus wiederum erwachsend eine Steigerung umweltstörender und gesundheitsschädigender Emissionen, Stress und Überforderung bis an die Sinngrenze, Umweltgefährdung mit unabsehbaren Auswirkungen für die menschliche Zivilisation wie  die heute eingetretene Klimaveränderung.

Der Mensch bleibt als Arbeitssubjekt in die Fortschritt generierende Mehrwert-Produktion eingespannt. Das Attribut „selbsttätig“, das im 18.Jahrhundert aus dem französischen „automate“ eingedeutschtes Pionierwort der Aufklärung, ist heute weitgehend durch das Fremdwort verdrängt worden. Die Revolution hat die politisch Rechtlosen formal aus „stumpfer“ Erbuntertänigkeit und Standesbindung in die „Freiherrlichkeit“ mündiger Staatsbürger entlassen. In der Praxis erhob die anbrechende Revolution die ehemaligen „Subjekte“ in ihrer grossen Mehrzahl zu lohnabhängigen Arbeitern und Angestellten und unterwarf sie damit den Bedingungen, welche die maschinelle Produktion, die hochorganisierte Arbeitsteilung und der „freie“ Arbeits- und Gütermarkt mit seinen Regeln des Preiswettbewerbs und Lohndumpings zur Zeit des Hochkapitalismus rigoros determinierte. Den Höhepunkt der Unterwerfung der Arbeitskraft unter das Diktat der Maschine erreichte die Mechanisierung im frühen zwanzigsten Jahrhundert mit der Fliessband-Produktion. Der starre Arbeitstakt, welcher sich Kopf und Hand aufzwang, verwandelte den Fliessband-Arbeiter selbst zum menschlichen Automaten. Die Verrichtung des Subjekts wurde im 19.Jahrhundert durch die Maschine zur Abrichtung perpetuiert. Die Standardisierung der Arbeit erstreckte sich auch auf Verrichtungsbereiche der Angestellten - etwa der Schreibkräfte an der Tastatur der Schreibmaschinen, der Telefonistinnen an den Stöpseln. Das von Novalis noch programmatisch zur Umschreibung des freien poetischen Akts verwendete Attribut „selbsttätig“ hat sich inzwischen die schon in der Frühzeit der industriellen Revolution dominante Bedeutung „automatisch funktionierend“ zugelegt und steht sinngemäss auch für „mechanisch“ und „maschinell“.





          


                                                               
  


Die historische Perfektionierung der Automation und ihre psychologischen, sozialen und politischen Auswirkungen auf die Gesellschaft sind ein Generalthema der utopischen Literatur jeden Genres und seit einem Jahrhundert des Films. In der modernen Marktwirtschaft bleibt die Stimulierung und Erhaltung der industriellen Wohlstandsutopie massgeblich das Geschäft der Werbung. Den Menschen zu seinem Glück zu verführen ist das prominente, wenn auch angemasste Vorrecht der Branche, welche im 20.Jahrhundert - in prekärer Symbiose mit der sogenannten „Bewusstseinsindustrie“ und unter Assistenz einer raffinierten Psychologie - zum milliardenschweren Unternehmen hochgewachsen ist. Sie nennt sich auch: Public Relations. Doch Glück ist weder Ausfluss des materiellen Angebots noch des Potentials zu seinem Erwerb. Glück ist nicht käuflich, hat keinen Warenwert und kein Qualitätssiegel. Es ist eine personale Angelegenheit jenseits raffiniert kalkulierter Beeinflussung durch den Markt und die Fülle seines Angebots. Es setzt die Selbstbestimmung des Einzelnen voraus und bleibt letztlich Resultat des Zusammenwirkens zweier Faktoren: eines in seinem Grund unbeeinflussbaren Entscheidungsvermögens und einer Determination, welche sich jeder Berechnung entzieht.







DENKMASCHINEN UND DIE HORIZONTERWEITERUNG DURCH CYBERSPACE. Jean Paul erwähnt in seiner zeitkritischen Satire „Wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen“, dass die Erfindung der Druckpresse die Federkopisten brotlos gemacht habe. Und er erinnert vorausblickend, dass die in Europa immer noch „unnachgemacht gebliebene Büchermaschine“, welche Gulliver in der Akademie der utopischen Pazifik-Insel Lagado vorgeführt wurde, den Druckern und Autoren auf ähnliche Weise „den Garaus machen“ würde wie die Druckpresse. Es bleibt dem Urteil der Literatur- und Technologie-Historiker überlassen, ob Swifts kompliziert verdrahtete Maschine der Lagado-Akademie tatsächlich, wie einige vermuten, ein Prototyp oder eine Prophezeiung des Computers gewesen sein könnte, welcher gegenwärtig die „Bücherdämmerung“ des 21.Jahrhunderts auslöst. Es scheint immerhin, dass der Content der Swiftschen „Büchermaschine“ die Menschen auf Lagado nicht weniger in Trab und unter dauerndem Beschäftigungsdruck hielt als die virtuellen Inhalte gedruckter Bücher, Zeitschriften und Bibliotheken seit bald fünf Jahrhunderten. Der Sog der durch die digitale Automation ins Unermessliche wachsenden virtuellen Zwischenwelt wird den Grad der Beschäftigung in voraussehbar potentieller Zunahme weiter steigern. Weder die Akademie noch der Boulevard wird in Zukunft mit Entzug und Entlassungen rechnen müssen.



                                                                                

The fantasy machine (which) Libeskind wanted to realize basically matches Jonathan Swift's 1726 illustration of the automatic book-writing machine of the Grand Academy of Lagado. (greg.org: the making of)


Im selben Jahrzehnt, an dessen Anfang Jean Paul seine Androiden-Satiren verfasst - es ist die dramatische Wendezeit der französischen Revolution und der Revolutionskriege - öffnet die romantische Poetik den Blick nach innen und entdeckt das „Organ“, welches den in Fesseln geschlagenen Menschen zu gewaltlos-selbsttätiger Erlösung befreit. „Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe oder in die Tiefe oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns?“ fragt Novalis ebenso vielbedeutend wie vieldeutig in einem seiner berühmten Aphorismen. Der schwärmerische Ton erstaunt - und er spricht auch vom Staunen. Die Erwartungen, welche die Poetik des „magischen“ Idealismus - zur Zeit als Fichte in Jena seine Philosophie einer transzendentalen Subjektivität verkündete - in die schöpferische Potenz der Poesie setzte, waren ähnlich hoch gestimmt wie die Erwartungen, welche vor einer Generation die theoretischen Wegbereiter von Cyberspace in der enthusiastischen Terminologie einer Grenzwissenschaft zu formulieren begannen. In den Dokumenten manifestieren sich einzelne in den Wortlaut hinein reichende Übereinstimmungen:

Cyberspace „ist der Ort, wo das interpersonale, interaktive Bewusstsein des Weltintellekts zum Vorschein kommt“, formulierte Timothy Leary, der Guru der Hippiekultur und radikale Vordenker einer Bewusstseinserweiterung durch Drogen und künstliche Intelligenz. Der Informatiker und Künstler Jaron Lanier begreift die virtual reality als „Erweiterung der Wirklichkeit“ in einem „umfassenden“, durchaus transzendentalen Sinn. Sie ist „eine Welt ohne Grenzen… so unbegrenzt wie die Träume“. Der menschliche Geist „kann sich in ihr seine Wirklichkeit erfinden und… mit anderen teilen“, sie ist „wie ein kollektiver luzider Traum“. In ihr schafft sich die kollektive Erweiterung des Bewusstseins Raum. Die virtuelle Welt ist von kosmischer Dimension. Sie ist, wie Lanier gleichnishaft formuliert, „ein fiktiver Planet mit neuen Kontinenten, in die man eintauchen kann, um neue Wirklichkeiten zu finden“.

Der Literaturkritiker, Philologe und Indologe August Wilhelm Schlegel - er zählte zum Jenaer Kreis - formuliert um 1800 die grundliegenden Ideen einer romantischen Poetik. Für ihn gilt Sprache als „das Medium der Poesie…, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt“, heisst es in Anlehnung an die von Herder angeregte zeitgenössische Spekulation um den Ursprung der Sprache und einer Urpoesie der Völker. Poesie „ist nicht an Gegenstände gebunden, sondern sie schafft sich die ihrigen selbst“, ist als „umfassendste aller Künste… gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universalgeist.“ Schlegels Dichterkollege Novalis reflektiert das Verhältnis von Aussenwelt und Innenwelt: „Das Äussre ist ein in Geheimniszustand erhobnes Innere. - (Vielleicht auch umgekehrt.)“ Die Poesie ist verwandt mit dem Traum. Als eine virtuelle „Welt in der Welt“ ist sie das „wechselseitig realisierende Prinzip“, das heisst eine vermittelnde kreative Potenz, durch welche die ursprüngliche Identität von Gemüt und Welt sich wieder herstellt. Der Aufschwung zum Kosmos findet sich bei Novalis, von Fichte inspiriert, als ein Vordringen in die „Tiefen unseres Geistes“. Der oben im Ansatz zitierte Aphorismus bestätigt die zum Lanier-Zitat analoge Perspektive: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall… Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft.“



                  





                           



In 1987, two software moguls, Bill Gates and Dr. Timothy Leary, were asked by Omni to make predictions about life 20 years in the future. Gates was more accurate in his prognostications, though Leary provided some gems like this one: “What will you be? A performer. Everyone will be performing.” 



Die poetologischen Theorien der Romantik und die Spekulationen um die Cyberspace erfassen ihr Medium im Blick auf ein universales Ziel: Es dient der Erweiterung des Bewusstseins. Wenn beide auf die potenzierte Wirklichkeit des Traums und der Phantasie Bezug nehmen, dann stellen sie die Frage nach der Verbindung des Zufälligen und Notwendigen sowie nach dem Zusammenhang zwischen Erkennen und Welt oder der vernetzten Struktur der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Allerdings ist der Vergleich erst erhellend, wenn man den tiefgreifenden Unterschied zwischen intuitiver und digitaler „Entschlüsselung“ des als universal beschworenen Zusammenhangs klarstellt. Der menschliche Geist findet und erfindet sich gemäss der Imagination Laniers „neue Wirklichkeiten“ nicht unmittelbar in intellektualer Anschauung - auf seinem Weg „nach innen“, wie Novalis formuliert -, sondern „in ihr“, nämlich über die Potenzierung durch das digitale Medium „in“ der Cyberspace. Die Romantiker begründen ihre Vision - noch vor dem Anbruch der industriellen Revolution auf dem Kontinent - idealistisch. Die enthusiastische Prognose der „Cyberologen“ verkündet den intellektuellen Evolutionssprung zwei Jahrhunderte nach Novalis oder Schlegel in den frühen Jahrzehnten der digitalen Revolution. Die menschliche Gesellschaft verfügt nun - vor der Wende zum 21.Jahrhundert - über eine technologische Hardware zur kollektiven Erweiterung ihres Bewusstseins-Horizonts.







Das Überhirn ist erfunden, die Denkmaschine erschafft nicht, aber simuliert mögliche Welten. Allein, sie sind immer, wie die Kreationen der Literatur, der Bühne oder der Filmindustrie, aus der Fantasie herausgesetzte, virtuelle Umsetzungen unserer Wahrnehmungen, Erfahrungen, Intentionen, Erinnerungen, Träume. Das digitale Medium schafft zwar einen Quantensprung an Möglichkeitsproduktion. Ob deren Summe den kollektiven Bewusstseins-Horizont erweitert oder bloss neu konditioniert, steht bislang zur Diskussion. Das Gehirn erzeugt Projektionen, Fiktionen, Entwürfe, virtuelle Situationen, Szenarien, Hypothesen. Seine kontinuierliche Aktivität schärft die Intention, bereitet den von Franz Brentano definierten „bewusstseinstranszendenten intentionalen Akt“ vor. Die intentionale Spannung versetzt das Individuum in die Lage, sich im Fluss der Augenblicke zu orientieren und zu entscheiden. Oder anders: seine Identität etwa im emotional widerspruchsvollen Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt - zu den Mitmenschen und zur gesellschaftlichen Ordnung - einzuschätzen und im Hinblick auf die laufenden Entscheidungssituationen zu klären. Identität ist eine „irgendwo“ zentrierte, intensiven unterschwelligen Einflüssen und formenden Konditionen ausgesetzte, durch Anlagen und Entscheidungen bestimmte Einheit. Einer komplexen, sich stets verwandelnde Wirklichkeit korrespondiert ein ebenso komplexes Steuerungsorgan der Wahrnehmungen und Entscheidungen. Der Computer erweitert zwar als technologische Schöpfung die Kapazität oder rationale Sphäre, aber er trifft keine autonomen Entscheidungen jenseits der vorgegebenen Programme. Die elektronische Datenverarbeitung wird dem Menschen die VERANTWORTUNG  für seine Entscheidungen niemals abnehmen.









IKONEN - ENTRACTE ÜBER ENTGRENZUNG UND SINNLICHKEIT DER WERBUNG



WERBUNG ALS NÄHRSULZ UND SPIEGEL DER BEDÜRFNISSE. Werbung ist der Spiegel, welcher unsere Bedürfnisse virtuell objektiviert und als Spielbälle zurückwirft. Ihre Vorspiegelung gleicht einem Urentwurf, ist die Fortsetzung einer mythischen Situation. Im geheimnisvollen Land der Seemärchen trägt der Riese Atlas die Himmelskuppel und bewachen verführerische Nymphen, die Hesperiden, die nach ihnen und ihrer fernen Atlantikinsel benannten goldenen Äpfel. Adam und Eva brechen das Tabu, um im gleichen Augenblick unter dem verbotenen Baum die Erkenntnis zu erfahren, dass sie nackt und aus dem Paradies verstossen sind. Die berauschenden, aber verbotenen Äpfel sind Sinnbild einer Sehnsucht, deren schuldlose Erfüllung vielleicht einst einer Kaste von Geweihten vorbehalten war. Ihren profanen Genuss bestrafte indessen der Entzug. Der entzugsfreie Genuss einer Droge war nur möglich, solange ihre Verfügbarkeit gesichert war. Ökonomisch betrachtet könnte man ihr Verbot als Reservation einer Mangelware für Privilegierte auslegen. 

Die Perversion des religiös begründeten Sonderrechts einer Kaste oder Klasse konnte in der Frühgeschichte und im europäisch-christlichen Kulturraum über die Reformation hinaus bis zur Aufklärung, deren säkularen Wende, gerechtfertigt und symbolisch verankert werden: theologisch durch Lehre und Kult, politisch durch die Idee des Gottesgnadentums. Seit „Gott tot“ ist, sind Treu und Glauben käuflich. Markt, Macht, Profit, Überzeugung und Gefolgschaft entscheiden. Im sozialistischen „Arbeiterparadies“ der SED konnte sich „Luxusgüter über die Hintertüre“ aus dem kapitalistischen Westen leisten, wer wie die Machtelite über Westmark verfügte. In Diktaturen brauchte die Elite ihre Ansprüche nicht zu rechtfertigen, häufig galten gewaltsame Bereicherung und der Erwerb von Luxusgütern etwa als ein durch Waffen im Tausch gegen wirtschaftliche Lizenzen gesichertes Recht der Stärkeren. Dass sich elitäre Kreise, zum Beispiel im Milieu von Wallstreet und der New Yorker Kulturschickeria, durch ihre Zahlungskraft den Zugang zu illegalen Drogen sichern konnten, ist vor allem seit der Finanzkrise ruchbar. Wo immer Korruption im Spiel ist, gelangen wir zurück zum verzweigten Wurzelwerk der Ursünde im Untergrund des von den exotischen Düften seiner blühenden Schlingpflanzen durchwobenen Paradise Lost. „Chanel“, „Diesel“, „Lamborghini“, „Warhol“ sind Beispiele von Formeln und Emblemen seiner phantastischen und durch ihren Preis exklusiven Surrogate. Seit wir uns als nackt erkennen, restituieren wir den paradiesischen Zustand für flüchtige Augenblicke gegen Bezahlung in unseren Konsumparadiesen. Denn wo man’n hat, den Touch, den Stoff, den Smell, den Chill, da ist EDEN.







                                                                           
   


WERBUNG - vor allem der über die Bildschirme transportierte Dauerstream an Video-Trailern und ihre aus dem „Leben“ gegriffenen, Wirklichkeit vorspiegelnden Shortstories - ist die CYBERSPACE, welche die urbane Zivilisation einer durchsichtigen Gallertsphäre vergleichbar umgibt. Werbung ist Nährlösung unseres Konsumbewusstseins. Werbung ist immer absichtsvoll, künstlich, in der Regel aufdringlich, auch wenn sie ihren Zweck clever versteckt. Selten allerdings gelingt ihr spielerische Leichtigkeit, Verspieltheit oder zumindest die Vorspiegelung davon. Auf Dauer verwandelt sich selbst das Gelungene durch Wiederholung in abstumpfende Routine, wird als Mittel zum Zweck durchschaubar und provoziert Langeweile oder - wo sie nicht koscher ist - Irritation. Chamäleonartiger Wandel in der Dauer ist daher ihre normale Erscheinungsform. Doch Dauerhaftigkeit ist der Werbetrumpf, wenn es um Investition in sogenannte „wahre Werte“ geht.












CHANEL. Die mit Gisele Bündchen als nereidenartige Wellensurferin und Michiel Huisman als auf Nadeln gespannter Liebhaber hinreissend-dramatisch inszenierte, reichlich mysteriöse Geschichte einer Liebeserlösung - Meerbraut küsst Märchenprinz! - schenkt uns Sternsekunden der Sphäre, in welche wir vor dem Bildschirm eintauchen. Chanel No.5 wählt als Raum für die exaltierte Werbestory das rauschende Meer, den Zauber der nächtlich illuminierten Stadt und - für die intime Erlösung - die Loge der Pariser Oper. Weniger wäre in diesem Fall nicht mehr. Baz Luhmann, der Schöpfer von „The Great Gatsby“ zeichnet für brillante Regie und Pathos. Die delikate Sendezeit des teuren Trailers: Die letzten Tage der zu Ende gehenden Zeit vor Weihnachten und Happy New Year. Top-Label erzeugt die Magie schicksalhafter Augenblicke, doch clevere Werbung drängt sich nicht auf, sondern erzählt eine gute Geschichte. Hier wird sie zur Geschichte eines magischen Dufts. Sie schafft, was die Konkurrenz überflüssigerweise durch die Werbefloskel suggeriert: Le parfum découvre les secrets du destin.



                       
          

    















DIE TRAUMMATRATZE. Der dümmliche Matratzen-Flugtraum, der sich schon jahrelang zur teuersten Sendezeit in zwei Varianten wiederholt, wird dagegen zur Folter: Matratze als schwebendes waberndes Trampolin und Landeplatz für ein verliebtes Traumtänzerpaar oder Matratzen als Dominokette zur Klaviertastatur gereiht, über welche eine Traumwandlerin zu klassischen Tönen hüpft. Matratze exklusivster Machqualität erfüllt zwischen Klick zu abendlicher Entspannung und Schlaf durch endlose Werbeserie billigster und irritierend aufdringlicher Qualität publikumszielgenau ihren Zweck. Wer zweifelt noch! Ob das Label durch „tiefen, sanften“ Schlaf sein Werbeversprechen jede Nacht wieder bestätigt und seinen Preis als Luxusgut rechtfertigt oder nicht, wird die schweizweite Propagandawelle jahraus-jahrein eine Menge kuschelfreudiger Traumpaare in die Einrichtungshäuser spülen. Man schläft vorzüglich Label. Mit lebenslanger Garantie? Die rheumatischen Beschwerden kommen auch ohne. Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, ein roter Schmetterling macht die Unterlage für Romantik in Schweizer Schlafzimmern noch nicht zur Ikone.





            



BREITLING oder ORIS – „WATCHS FOR REAL PEOPLE“. Das Markenzeichen garantiert Echtheit. Es verleiht sie auch dem Träger des Artikels und macht ihn damit zugleich zum Werbeträger. Echtheit bedeutet Wirklichkeit. Wirklich sein bedeutet: wahres Sein oder eine Identität haben. Das starke Gefühl wirklich zu  s e i n  erlangt man in der Herausforderung von Grenzsituationen. Breitling stellt seinen Werbeträger - den Fussballstar David Beckham - im Nahporträt auf das Rollfeld. Im Hintergrund steht startklar der Kampfjet. Oder wechselweise ein VIP-Jet. Oder ein sportives Luxuscabriolet - „BREITLING FOR BENTLEY“. Bond alias Beckham ist stoppelbärtig. Der linke Ellbogen ist in Brusthöhe auf den rechten Unterarm aufgestützt. Die linke Faust ballt sich auf der Höhe des Kinns. In die Haut des nervigen Handrückens gestochen sind die blauen Schnörkel eines Tatoo, um das Handgelenk geschnallt ist die Watch. Dunkelblaue Eleganz. Der Himmel ist stahlgrau. Beckham, in tadellosem blauem Anzug mit Krawatte, wendet den Kopf nach links und schiesst einen herausfordernden Blick auf den Betrachter. Darin flammt die Botschaft: Keine Breitling-Watch tragen bedeutet kein Markenzeichen einer starken Identität haben, nicht wirklich „echt“ sein. Breitlings Brand-Ambassador Beckham suggeriert: „Ich mag das Zusammenspiel von ultraleistungsstarken Motoren, die Schweizer Spitzenkönnen reflektieren, und athletischer Ästhetik.“ Geballte Echtheit in einer virilen Floskelbombe! Wer will nicht Ambassador „wahrer Werte“ werden?





                    








EINE KLEINE "KULTURGESCHICHTE" DER FINANZWIRTSCHAFT



AKKUMULATION VON KAPITAL, das nur zur Hofhaltung der eigenen Geltungssucht verbraucht wird, sich aber unerschöpflich - gewissermassen zum Selbstzweck - reproduziert, ist absurd. Sie ist immerhin vorstellbar, wenn man gemäss Piketty eine vollautomatische Fabrik als das vorausgesetzte Betriebskapital endlos Machwerk produzieren lässt, das sich auf einem unersättlichen Markt verkauft. Doch den gibt es so wenig wie das Perpetuum Mobile. In der Realität wird sich die Nachfrage irgendwann auf einem von der Ware übersättigten Markt erschöpfen oder - die wahrscheinlichere Variante - wegen fehlender Kaufkraft versiegen, da das akkumulierte Kapital nicht in produktive Arbeit und Entwicklung investiert wird.

Absurd? Ja, aber so funktioniert im Prinzip die Erzeugung der Finanzkrise. Die „Leistung“ der vollautomatischen Fabrik entspricht der Grenzproduktivität des Kapitals auf einem deregulierten Finanzmarkt. Unter seinen Bedingungen wird es - nach Pikettys Analyse - für einkommensstarke Kreise „immer leichter an Kredite zu kommen“ und zwar „mit Hilfe wenig skrupulöser Banken und Anlageberatern, die darauf aus sind, gute Renditen für enorme Ersparnisse zu erwirtschaften, mit denen die Begüterten das System geflutet haben“, während gleichzeitig  „die Kaufkraft der unteren und mittleren Schichten… stagniert“ und die Verschuldung anwächst. Der Wert der reinen Finanzprodukte übersteigt das Zehnfache des Welt-BIP! In der Krise fliesst Geld, das an anderen Orten fehlt, in sogenannt „sichere“ Anlagen. So funktioniert Wertschöpfung ex nihilo. Die Produkte der Luxus-Industrie sind ein blendendes Geschäft. In abstrakte Finanzprodukte und handfesten Luxus investiert entzieht sich das Geld dem brachliegenden Potential zur sozialen Wertschöpfung.



GOLDRAUSCH UM „NICHTS ALS EINEN SCHATTEN“. Im Schicksalsjahr 1813, welches mit den Befreiungskriegen den Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft besiegelt und auf dem Kontinent die endgültige Ablösung des Merkantilismus durch die kapitalistische Marktwirtschaft einleitet, entsteht in Berlin unter dem Titel „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ die bald berühmte Märchennovelle eines französischen Emigranten. Ihr Autor, Adalbert von Chamisso, zählt mit Brentano zum Berliner Dichterkreis der „Christlich-Teutschen Tischgesellschaft“. Auf die Zeit zurückblickend bekennt Chamisso in einer später verfassten Selbstbiografie, dass er sich nach Jahren des Selbstzweifels und durch politische Veränderungen begründeter Unsicherheit entschlossen habe, „handelnd und bestimmend in seine Geschichte einzutreten“ und sich „auf der Universität zu Berlin dem Studium der Natur zu widmen“. Beim Neuanfang hätten ihn die dramatisch eintretenden „Weltereignisse“, an denen er als Vaterlandsloser im Exil „nicht tätig Anteil nehmen durfte“, zwar „vielfältig zerrissen“, jedoch von seinem grundsätzlichen Entschluss nicht abgelenkt. Der Ausnahmezustand schenkte Chamisso indessen im Sommer 1813 auf einem Landgut in Kunersdorf die Musse, sein kleines, philosophisch tiefsinniges, zauberhaft packendes und im positivsten Sinn des Worts rührseliges Werk zu verfassen, dessen „wundersamer“ Schluss sein zukünftiges Schicksal als Naturforscher und Teilnehmer einer Nordmeerexpedition und Weltumsegelung vorwegnimmt. Diese Beziehung verrät die Identifikation des Verfassers mit dem ungewöhnlichen „Helden“ des Märchens, welcher wie er auch ein Heimatloser ist.







DER SCHATTENHANDEL. Als der mit einem Empfehlungsschreiben versehene Bittsteller Schlemihl das Landhaus des Herrn Thomas John erreicht, dessen Marmorsäulen durch das Grün eines Parks schimmern und Stattlichkeit ankündigen, wischt er mit dem Schnupftuch den Strassenstaub von seinen Schuhen und zieht „in Gottes Namen die Klingel“, worauf die Türe - wie durch eine Automatik bedient - aufspringt. In der Halle hält ihn der Portier zu einem „Verhör“ auf, das er besteht,  um angemeldet in den Park komplimentiert zu werden, wo der wohlbeleibte Hausherr sich eben auf dem Rasen „mit einer kleinen Gesellschaft ergeht“. In einer Konversation mit seinen Gästen begriffen, empfängt ihn der Adressat des Empfehlungsschreibens jovial, wenn auch beiläufig „wie ein Reicher einen armen Teufel“. Ohne sich von der Gesellschaft abzuwenden, erklärt der Gastgeber, mit dem empfangenen Bittbrief auf einen Hügel weisend, sein neuestes Bauvorhaben und prahlt, während er das Siegel des Schreibens aufbricht, von seinem Reichtum. „Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million“, wirft er in die Runde, „der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft.“

Schlemihl, der auf die blasierte Rede mit dem Ausruf „O wie wahr!“ die freundliche Zuwendung des Mächtigen erschmeichelt, erlebt nun mit wachsendem Erschauern, wie „ein dünner, hagerer, länglicher Mann“, welcher der Gardenparty unauffällig beiwohnt, jeden Wunsch der Gäste sogleich erfüllt, indem er das Verlangte aus der Schosstasche seines Rocks zieht und „mit devoter Verbeugung“ überreicht, ohne die geringste Aufmerksamkeit oder besonderen Dank zu empfangen: ein schönes Dollond-Fernrohr, einen golddurchwirkten türkischen Teppich, um sich niederzulassen, das nötige Zeug zum „prachtvollsten Lustzelt“ und schliesslich drei gesattelte Reitpferde. All diese Dinge zieht der Graue „mit bescheidener, ja demütiger Gebärde“ auf Wunsch aus seiner Rocktasche und sie werden von der Gesellschaft ohne Wimpernzucken als selbstverständlich entgegengenommen. Schlemihl, dem es bald „graulich zumut“ ist, beschliesst „sich aus der Gesellschaft zu stehlen“.








Doch der unheimliche Graue stellt dem Ausreisser nach und eröffnet ihm auf einem freien Rasenplatz unter dem Rosenhain nach umständlichen Verbeugungen und Entschuldigungen einen Antrag. Er verführt den Eingeschüchterten mit manierlichen Worten, ihm seinen „edeln“ und „unschätzbaren Schatten“ zu überlassen, für den er den „höchsten Preis zu gering halte“. Als „Beweis seiner Erkenntlichkeit“ wolle er ihm die Wahl unter „allen Kleinodien“, welche er in seiner Tasche mitführe, anheimstellen. Mit einem schlau eingefädelten Pakt, der, wie sich später herausstellt, bloss vorläufig - auf Probe oder Zusehen - geschlossen ist, beginnt die Geschichte. Schlemihl tauscht seinen Schatten in einem Augenblick der Schwäche - ein Schwindel ergreift ihn beim Angebot - als Pfand gegen einen ledernen Beutel voller Golddukaten ein, welcher nie leer bleibt, sondern  die Summe, welche man ihm entnommen hat, automatisch ergänzt. Kaum hat er in den Handel eingeschlagen, löst der Graue den Schatten gewandt vom Boden, rollt ihn zusammen, steckt ihn in seine Rocktasche und verschwindet mit einer artigen Verbeugung.

Schlemihl erwirbt sich durch den Verzicht auf seinen Schatten das, was einem Mann in der Gesellschaft Format gibt: Zahlungskraft. Er kann als grosser Herr auftreten, gilt sogar kurze Zeit als ein inkognito reisender König, aber es ist ihm etwas abhandengekommen, was zu einem „ordentlichen Menschen“ gehört, der natürliche Schatten. Der Mangel macht seine Erscheinung unheimlich, die Leute rücken auf Distanz, er kommt ins Gerede. Die Angst vor Ächtung und Verfolgung peinigt und zwingt ihn, sich im Licht der Öffentlichkeit dauernd zu tarnen, seinen Mangel zu verstecken. Als er sich in ein einfaches Mädchen verliebt, verrät ein betrügerischer Diener sein Geheimnis. Vom Vater der Geliebten vor ein Ultimatum gestellt, ist ihm, „als schliesse sich hinter ihm die Welt“.

Im Augenblick seiner höchsten Verzweiflung hält ihn der Graue wieder am Ärmel und bietet ihm an, seinen Schatten zurück zu tauschen, wenn er ihm dafür mit Blut seine Seele verschreibt. Als Schlemihl der Handel „bedenklich“ erscheint, höhnt er, was es denn für „ein Ding“ sei, seine Seele, und was er damit anzufangen denke, wenn er tot sei, und argumentiert durchaus zeitgemäss mit einer Anspielung auf den Stand des philosophischen Disputs, welchen ein naturwissenschaftliches Experiment auslöste. Die Entdeckung des Phänomens tierischer Elektrizität durch Luigi Galvani bekräftigte Ende des 18.Jahrhunderts die materialistische Hypothese und stellt den traditionsbelasteten Begriff der Seele als immaterielle präexistierende Substanz in Frage: „Dieses X, dieser galvanische Kraft oder polarisierenden Wirksamkeit“, seine „Seele“, meint der Graue zynisch, sei bloss ein „närrisches“ Hirngespinst und nichts „Leibhaftiges“ wie der Schatten, mit welchem er sie ihm ja „bezahlen“ wolle, das Pfand für den Goldbeutel, den er ihm fortan ohne Entgelt überlasse.

Schlemihl schlägt das neuerliche Angebot aus, aber der Graue lässt im weiteren Verlauf der Geschichte nicht locker. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, er bedrängt ihn, erscheint in verwandelter Gestalt, will sogar grosszügig noch die Tarnkappe in den Handel geben, um Schlemihls nachhaltige Zweifel zu zerstreuen, und treibt seine Pein bis zur Ohnmacht. In einer einsamen Höhle, wo er ihn erneut heimsucht, zieht er am Ende widerwillig, denn er muss Schlemihl als dienstbarer Geist gehorchen, Thomas Johns verdammte Seele in der Gestalt eines verschrumpelten Homunculus aus der Tasche. Der Anblick gibt den Ausschlag. Das Exempel des mittelalterlich anmutenden Höllenschrecks verhindert die Märchenversion eines faustischen Pakts, auf den alle Machinationen des Grauen zielten.

Indem Schlemihl sein Selbst der Äusserlichkeit des Schattens und seiner Geld- und Geltungssucht wegen verleugnet, macht er sich zur Kreatur des Grauen, zu einer jämmerlichen Marionette der Verlogenheit. Er durchschaut den zynischen Nihilismus des Angebots, schleudert den Goldbeutel, der ihn von den Erpressungen des Grauen abhängig macht, in den Abgrund und ist entschieden, schattenlos und ohne Reichtum aber frei, fern von der Gesellschaft in einem selbstgewählten Exil zu leben. Durch Zufall stösst er beim Kauf von Wanderstiefeln auf ein magisches Vehikel aus dem Arsenal der Märchengaben. Siebenmeilenstiefel tragen ihn von nun an kreuz und quer an die entlegensten Orte aller Klimazonen der Erde. Zeitgemäss ausgerüstet mit den Utensilien des Botanikers erforscht er ihre Biosphäre. Seine Schattenlosigkeit ist nun nicht mehr Stigma seiner mit Hilfe des teuflischen „Physikus“ erschwindelten Rolle als reicher Mann, sondern Merkmal des Naturforschers, der seine Ausgrenzung als freien Verzicht zugunsten der Wissenschaft in Kauf nimmt. Im abenteuerlichen Schlussteil seiner populären Erzählung gestaltet sich Chamisso, wie schon erwähnt, in märchenhafter Form sein eigenes Lebenskonzept.

                                                                               

                   



Durch zweifelhafte Mittel ist Schlemihl zum Gold-Millionär geworden. Er spielt eine Rolle, die seinem Wesen widerspricht, spielt etwas vor und lebt daher in Angst. Ist der Schatten ein Sinnbild für das preisgegebene bessere Ich? Oder steht er für die Konformität im Sinn der Redensart „einen tadellosen Schatten haben“ - also für Angepasstheit an gesellschaftliche Normen? Der Text belegt wohl beide Möglichkeiten - und zugleich deren Widerspruch. Er schliesst mit den Sätzen, welche die didaktische Konsequenz der Wahl des Lesers anheimstellen: „Willst du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst du nur dir und deinem besseren Selbst leben, so brauchst du keinen Rat.“ Der Artikel im „Kindler“ gibt eine plausible Interpretation, welche vielleicht einen Weg weist, den Widerspruch aufzulösen: „Das ‚Songez au solide‘ aus der Vorrede der französischen Ausgabe ist zwar die notwendige Antithese zu Schlemihls romantischer Heimatlosigkeit, zugleich aber der Hinweis auf eine Existenz, die von der Macht ökonomischer Privatinteressen geprägt ist.“ (Literaturlexikon)

Chamisso porträtiert in der Gestalt des Millionärs Thomas John deutlich die selbstherrliche Pose des  Grundherrn und Tycoons, den Typus des bürgerlichen Emporkömmlings und Investors, welcher das in der Grossbritannien schon im 18.Jahrhundert angebrochenen Finanz- und Industriezeitalter zu dominieren beginnt und sein Kapital in den Kolonialgeschäften vermehrt. Der Graue ist Thomas Johns dienstbarer Geist, der heimliche Garant seines Reichtums.

Im Park des Landhauses erhandelt sich der arme Schuft Schlemihl vom Grauen mit dem Goldbeutel ein Konto Perpetuum für seinen eigenen nutzlosen Schatten. Er bezahlt mit einem Attribut, das ebenso wertlos ist wie etwa ein rechtslos gewordener Adelstitel. Der magische Gewinn für ein Nichts ist vergleichbar mit einer fliessenden Dividende auf ein unversiegbares Edelmetall, welches einen Marktwert von garantiert unerschöpflicher Nachfrage darstellt. Vielleicht ist mit Blick auf den erwähnten Titel ein Hinweis auf die Herkunft des Autors angebracht: Das Geschlecht der Chamisso gehörte bis zur Revolution zum begüterten französischen Adel. Als die Familie Frankreich in äusserster Notlage verliess, musste sie auf die Einkünfte ihrer Grundrechte oder die Grundlage ihres sich gewissermassen automatisch (aus sich selbst) fortgenerierenden Vermögens verzichten. Als sie sich verarmt in Berlin niederliess, verhalf das Adelsprädikat wohl zu Beziehungen. Chamisso trat 1796 vorerst als Kammerdiener in königliche Dienste und wurde dann preussischer Offizier, doch er machte für sein weiteres Auskommen wenig Gebrauch von seiner Abstammung.







FINANZ-ALCHEMIE ODER DIE „NIHILISTISCHE GELDSCHÖPFUNG“. In London verkaufte sich am 1.März 1711 die Erstausgabe der täglich bis Ende desselben Jahres erscheinenden Zeitung „The Spectator“. Sie wurde zu einer der bedeutendsten Initialzündungen der frühen Aufklärung. In ihren Ausgaben publizierten unter anderen Jonathan Swift und Alexander Pope. Sie empfahl sich ihren Lesern als Teil des täglichen Teegedecks. In ihrer Erstausgabe erschien ein Essai des Schriftstellers Joseph Addison, der zu ihren Begründern gehört. David Graeber zitiert Addisons satirische Vision in „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“. Sie sieht den englischen König als feiste Verkörperung des „Öffentlichen Kredits“ mit der Magna Charta über dem Haupt auf seinem Thron in Grocer‘s Hall sitzen: „Seine Berührung verwandelt alles in Gold. Hinter ihm türmen sich mit Münzen gefüllte Säcke bis zur Decke.“ Eine durch die Thronfolge ausgelöste Krise hat fatale Folgen: „Die Geldsäcke schrumpfen wie angestochene Blasen. Die Berge von Goldmünzen verwandeln sich in Lumpenbündel.“ Der Staatsschatz schrumpft durch Vertrauensverlust und Überschuldung. Addisons Satire enthülle „die Abhängigkeit der Bank of England (und damit des britischen monetären Systems) vom Vertrauen der Gesellschaft in die politische Stabilität der Krone“, denn mit der Glaubwürdigkeit des Königs löse sich auch sein Geld in Nichts auf, schreibt Graeber und kommentiert im finanzkulturellen Kontext des 17.Jahrhunderts: „So verschmolzen Könige, Zauberkünstler, Märkte und Alchemisten in der öffentlichen Phantasie miteinander, und noch heute sprechen wir von der Alchemie des Marktes und von Finanzmagiern.“

Das Papiergeld führte der Schotte John Law als goldreicher Financier um 1720 in Frankreich ein. Er kaufte der Monarchie ihre Schulden ab und wandelte sie in Aktien einer Compagnie um. Dann liess er die Administration das Edelmetall als Zahlungsmittel verbieten und die Notenpresse rotieren. Die Aktien bot die Compagnie als langfristige Anlagen zum Verkauf an. Doch der Markt zog sie munter in den Handel, sie verkauften sich weiter, ihr Kurs stieg und mit der Menge des gedruckten Geldes auch die Preise der Immobilien und Lebensmittel. Die Gewinnsucht und der Papiergeldboom beschworen eine Inflation herauf.








Derselbe Schwindel, Druck und Ausgabe von Assignats zum Aufkauf säkularisierter Kirchengüter, soll 1789 notfallmässig die durch die Kolonialkriege gegen England und verschwenderische Hofhaltung aufgeblähten Staatsschulden Frankreichs tilgen. Der königliche Finanzminister Necker, calvinistischer Bankier aus Genf, wo Rousseau, der Vordenker der Revolution im Exil gelebt hat, macht durch ein Rendre Compte die prekäre finanzielle Lage der Monarchie öffentlich, hat aber weder eine staatspolitische Vision noch brauchbare Vorschläge an die wieder einberufene Versammlung der Generalstände, wie das Problem zu lösen wäre. Mit seiner abenteuerlichen Politik der Staatsanleihen ist Necker ein Jahrzehnt zuvor schon gescheitert. Der König entlässt ihn. Man entscheidet sich für Talleyrands Sanierungsplan, bietet die Kirchengüter feil, druckt eine Menge Assignats und vermehrt sie willkürlich zu Papiergeld mit Zwangskurs, um durch den Verkaufserlös die Schulden zu bezahlen. Doch Spekulation grassiert, die Scheine verlieren dramatisch an Wert, eine Hyperinflation tritt ein. Die Rettungsaktion beschleunigt mit ihren Folgen - Verarmung und Hungeraufständen - Ende des 18.Jahrhunderts die politische Katastrophe der Monarchie. Die Umverteilung der Macht, durch die Aufklärung ideologisch vorbereitet, nimmt um diese Zeit bereits ihren unberechenbaren Lauf. Die Konsequenzen des sich durch die Ereignisse faktisch vollziehenden Schuldenschnitts und die Entartung der Revolution zur Schreckensherrschaft, sind 1789 noch kaum vorhersehbar. Der Erfolg der finanzpolitischen Massnahme der letzten Stunde ist, dass eine aufsteigende Klasse ihr Papiergeld zur Vermögensbildung gesichert in Grundstücken anlegt, statt sie in die inflationäre Wirtschaft zu investieren. Während der Adel entmachtet wird, stärkt das neue Besitzbürgertum seine Stellung im Hinblick auf die Gestaltung der Republik nach dem Spuk des Machtwechsels.






                                           



Die literarische Auseinandersetzung mit der Motivwelt der Alchemisten, Goldmacher und Schatzschwindler nimmt Goethe um die Revolutionszeit mit dem historischen Fauststoff auf. 1790 erscheint sein „Faust-Fragment“. Mehr als zwei Jahrzehnte später verbindet er den traditionsgeladenen Stoff in den Kaiserhof-Szenen von „Faust II“ mit der aktuellen Variante der Schatzakkumulation durch Anleihescheine und Papiergeld. 1792 erlebte er befremdet die Verwandlung der Assignats in inflationäres Notengeld im Frankreich der republikanischen Revolution. Während den napoleonischen Kriegen und der Besetzung nimmt der Weimarer Hofrat bereits die intensive Arbeit am zweiten Teil des Faustdramas auf. Die europäischen Monarchien sind zu dieser Zeit durch Kontinentalsperre, Kriegskosten, Kontributionen und Plünderung des Staatsschatzes im grossen Stil dauernd am Rand des Bankrotts. Sie erheben zur Entschuldung Vermögens- und Sondersteuern, ziehen sogar das Privatsilber ein, was Aufruhr auslöst. Während die Wirtschaft ausblutet und die Bürger verarmen, greifen die Regierungen zum riskanten Mittel von Staatsanleihen und Fremdkrediten oder drucken Papiergeld und nehmen die Inflation in Kauf. Der faktische Schuldenschnitt durch die Befreiung und die historische Wende entschädigt nicht die Bürger, sondern dient der finanziellen Sicherung der Restauration. Nur allmählich bringt die verspätete Industrialisierung im folgenden Jahrzehnt wieder Aufschwung.        

Als Beispiel der Literatur des frühen 19.Jahrhunderts zitiert Graeber anschliessend an Addisons Spectator-Satire die berühmte Szene in Goethes „Faust II“, in welcher der Kaiser seine Unterschrift unter einen Zettel setzt und einen hohen Betrag als durch „gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland“ gesichert erklärt. Zu diesem „Zaubertrick“ wird er durch zwei vagierende Besucher ermuntert. Graeber führt aus: „Der Kaiser stöhnt unter der Last gewaltiger Schulden, die er angehäuft hat, um die extravaganten Vergnügungen seines Hofes zu bezahlen. Faust und sein dienstbarer Geist Mephisto überzeugen (ihn), dass er seine Gläubiger bezahlen kann, indem er Papiergeld herausgibt und mit den ungehobenen Bodenschätzen seines Reichs besichert.“ Goethe verlegt den politische Hexentanz und die Finanzmanipulationen seiner Zeit literarisch ins historisch kaum greifbare Umfeld eines mittelalterlich anmutenden Kaiserhofs und die Walpurgisnacht aus ihrem deutsch-romantischen Umfeld ins klassische Griechenland seiner Helena-Tragödie. Der mit fürstlichen Privilegien ausgestattete Dichter sublimiert die Realität nihilistischer Finanzpolitik und ihrer verheerenden sozialen Konsequenzen in die Zeitlosigkeit der Mythologie und des „ewig-menschlichen“ Dramas.







In seinen Briefen an Zelter von 1825/27 erkennt Goethe, nicht ohne Verachtung, im Anbruch des technischen Fortschritts - der sich mit seinen Eisenbahnen, Schnellposten und „aller möglichen Fazilitäten der Kommunikation“ dem Alltag aufdrängt - den Charakter einer neuen Epoche der Halbkultur, der materialistisch-mittelmässigen Gesinnung und des sich hektisch übersteigernden Tempos. Doch beim Blick auf wirtschaftliche und grosstechnische Projekte wie den Panama-Durchstich und auf das Zivilisations-Potential, welches die noch „jugendlichen“ Vereinigten Staaten durch sie in der Welt entfalten könnten, gewinnt ihm seine Schilderung sogar einen schwärmerischen Ton ab, welcher den Humanisten Goethe beinahe als einen Wegbereiter des Imperialismus denunzieren könnte. Sein „böser Genius“ Mephisto, welcher Faust nach seiner Rückkehr aus der trügerischen Helena-Vorwelt auf die zerklüftete „Oberfläche“ der Wirklichkeit wieder belästigt, bleibt indessen im Unterschied zu Chamissos  grauem „Physikus“, dem aufgeklärten Teufel des kapitalistischen Financiers, ein magischer Vagant herkömmlichen Stils, dem es vor dem Geist des technischen Fortschritts im Grunde graut. „Das heiss ich endlich vorgeschritten“, prahlt Mephisto zwar, als seine Siebenmeilenstiefel wie ein Schnellzug forteilen. Aber die grenzenlos verlängerten - ihren mittelalterlichen Mauern entwachsenden Vorstädte - in denen er Faust in der folgenden Verführungsszene endlich zur Genusssucht zu verlocken hofft, bieten seinem beschränkten Sinn nicht mehr als die „Freude an Rollekutschen, am lärmigen Hin- und Widerrutschen, ewigen Hin- und Widerlaufen“ oder eben das Amüsement, in dessen Zirkel sich jede Fortschrittsvision auflöst. Mephisto ist es wohler, wenn er im mittelalterlichen Muff beim Tanz unter Geistern seinesgleichen den Pferdefuss schwingt. „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ ist zwar ein Kunstmärchen, welches das Arsenal an magischen Requisiten des Volksmärchens ausschöpft. Doch ist nicht nur die ungreifbare eiskalt-galante Gestalt des Grauen, trotz seines altfränkischen Rocks, zeitgemässer als Goethes diabolischer Gaukler mit dem Federhütchen. Auch Chamissos Konzept ist unter einem besonderen Aspekt moderner als jenes des Faust-Dramas: Es kommt überhaupt nicht zum eigentlichen Pakt unter Bedingungen, durch deren Erfüllung sich Fausts Erlösung oder die Frage um Sein oder Nichtsein im metaphysischen Sinn zur Entscheidung stellt, nämlich im Himmel - also im „Herrschafts“-Raum der mythisch-religiösen Weltordnung des „Faust-Prologs“. Vielmehr vollzieht sich durch den Verzicht Schlemihls auf den Eintausch des verkauften Schattens gegen seine Seele, mit dem er der unbedingten Verdammung entrinnt, ein Akt der Selbsterlösung im existenzialistischen Sinn, ein Akt der Befreiung zur Passion, nämlich seiner unbedingten Hingabe an die wissenschaftliche Erforschung der Erde und das Abenteuer der Weltentdeckung.

Goethes Verklärung des amerikanischen Pioniergeists im Brief an Zelter ist wohl Ausdruck seiner idealistischen Hoffnung, dass die junge Demokratie der Vereinigten Staaten im Unterschied zur Alten Welt, deren Staatswesen unter der Last vererbter Schulden in ihrer reaktionären Ordnung zu versinken drohten, fähig wäre, eine im Geist der Humanität verfasste liberale Weltordnung zu begründen. 1776 hatten die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erklärt. Peter Sloterdijk untersucht im Kapitel „Von Abstammung kein Wort mehr“ (in: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“) den von Jefferson, dem zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten, in die amerikanische Verfassung eingebrachten „autarkistischen Generationenbegriff“ und kommt zu einem vernichtenden Urteil über die Finanzkultur der modernen USA. Jefferson sanktionierte im 18.Jahrhundert so etwas wie einen Schuldenschnitt, welcher jede nachfolgende Generation von der ihr durch die vorangehende Generation aufgebürdeten Verantwortung entband. Er wollte, dass damit das Grundrecht jedes Menschen auf „Leben, Freiheit und Streben nach Glück“ für immer garantiert wäre, das heisst in anderen Worten: dass jeder Bürger in Zukunft unabhängig von Altlasten stets aufs Neue seine Chance auf Selbstverwirklichung wahrnehmen könne. Der radikale Grundsatz Jeffersons wollte nichts weniger als das Menschenbild der Aufklärung, wie es zum Beispiel Kant definierte, in der Verfassung verankern.  

Mit Blick auf den Zustand der Union im dritten Jahrhundert ihres Bestehens schreibt Sloterdijk: „Unter den Urhebern der amerikanischen Verfassung hatte sich keiner vorstellen können, dass ihr Land im späteren 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert durch eine über Jahrzehnte hinwegbetriebene Praxis nihilistischer Geldschöpfung in die Lage geraten würde, das Recht auf Neubeginn ausschliesslich durch einen epochalen Staatsbankrott ausüben zu können, wie er sich gegenwärtig durch die Überschuldung des amerikanischen Bundesstaates ankündigt - obschon es so gut wie undenkbar scheint, er dürfe je vollzogen werden. Niemand vermag vorherzusagen, ob den Bewohnern der Vereinigten Staaten im 21.Jahrhundert die Trennung von ihren Gläubigern - den monetären Erinnyen - so leicht gelingen wird wie seinerzeit die Losreissung von der britischen Krone.“ Versteht Sloterdijk unter der „Trennung von den Gläubigern“ die Überwindung der Schuldenkrise durch die „Losreissung“ von Wallstreet oder von weltweiten monetären, wirtschaftlichen und besonders kostspieligen militärischen Verpflichtungen der heutigen Grossmacht? Die Antwort ist offen. Die radikale Entschuldung durch einen solchen Akt wäre mit Blick auf die weltgeschichtlichen Konsequenzen zweifellos kompliziert. Analoge Fragen kann man mit Bezug auf die inneren Probleme der Europäischen Union stellen, welche sich zum Beispiel mit dem jüngsten Beschluss der EZB, durch massenhaften Anleihekauf die Gefahr einer Deflation abzuwenden, erheblichen Risiken aussetzt. Auf dem Spiel stehen immerhin mindestens 600 Milliarden EURO. Welche Idee wäre in die zukünftige EU-Verfassung einzubringen, um Recht und Chance der Länder auf ihre Selbstverwirklichung und zugleich die sozialen Menschenrechte aller Bürger zu garantieren?


   










ZUM SCHLUSS 



Mutmassungen haben Konjunktur. Wir stehen zwei Jahrhunderte nach der Romantik und der politischen Neuordnung von 1815, ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der grossen Monarchien, siebzig Jahre nach einem unvollendeten Sieg über den Faschismus und fast dreissig Jahre nach dem Sieg der sogenannt freien Marktwirtschaft über den sozialistischen Totalitarismus in der unabsehbaren Dialektik der Geschichte nach aller Wahrscheinlichkeit in einer weiteren Wende.

Die KEHRSEITE DES MONDS könnte ein Symbol für die Entdeckung eines alternativen Sehhorizonts sein, welcher den Blick auf den gesellschaftlichen Zustand verfremdet und den Irrationalismus sich selbst zusehends in blinder Unselbsttätigkeit eingrenzender Systeme durchschaubar macht. Es geht um das Wagnis, aus ihrem labyrinthischen Zwang wieder zur Selbsttätigkeit herauszufinden, um den Mut - etwa im Sinn der Gestalttheorie - die Wahrnehmung für die Offenheit der Welt, die Fantasie und die eigene Körperlichkeit zu sensibilisieren. Auch das reflektierte Vergnügen für den Einfallsreichtum guter Werbung zu trainieren, ja, ihr ohne falschen Vorbehalt ihren legitimen Platz in der Kultur zu reservieren. Unvermeidbar ist es allerdings bei möglichst weitgefasster Toleranz kritisch sehen zu lernen! Zu durchschauen - etwa: die Vorspiegelungen einer sich in rücksichtsloser Übersteigerung widersprüchlicher Theorien verwirrenden Finanzökonomie; den Immobilismus eines sich unter Konkurrenzdruck im Kreiselverkehr technologischer Übersteigerung totlaufenden Automobilismus; die Übersättigung durch Überfluss, durch eine Masse an Produkten, die wir nicht wirklich brauchen oder die unsere Gesundheit ruinieren. Und mit dem nötigen Scharfblick verstehen zu lernen die Logik des Zusammenhangs zwischen Wachstum und Wahn: die Paradoxien zwischen dem Anspruch auf mehr Sicherheit/Wert und Verlust; zwischen dem Anspruch auf mehr Zeit und sinnloser Temposteigerung; zwischen dem Anspruch auf mehr Raum und Schrumpfung.

ZEIT! Statt die auf der Erde für gültig erklärte Chronometrie, welche unsere Aktivitäten steuert, auf den Mond zu projizieren, wäre das Experiment eher an der Zeit, wieder zu begreifen, dass auf dem Mond eine ganz andere Zeit gilt. Eine Zeit, für die wir nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen auf Erfahrung gegründeten Begriff haben. EWIGKEIT ist zu einem Euphemismus verkümmert, zumal die Aufklärung die damit verbundenen Schrecken samt ihrer Alternative sublimiert hat. Die Kirche hat das eine bis heute nie verdammt und stellt das andere immer noch in Aussicht. Die Physik revidierte durch fortwährend erweiterte Hypothesen den zum Klischee gewordenen Begriff. Ob sie die Zeit als Pfeil oder mit Einstein als eine Illusion erklärt, sie löst das alte Dilemma des Determinismus, welches neuerdings die Hirnforschung aufgreift, weder durch die eine noch die andere Hypothese und bietet für das traditionsbelastete Wort Ewigkeit keinen bequemen Ersatz. Die Liste der Literatur zur Frage was Zeit sei ist endlos. Ein Beweis für die Popularität der Frage.

Vielleicht ist angesichts der Einbildung, die Zeit durch Tempoübersteigerung zu vernichten die Selbstbescheidung angemessen, welche sich im Epigramm des Cherubinischen Wandersmanns vom 17.Jahrhundert eingetragen hat: „Du selber machst die Zeit: das Uhrwerk sind die Sinnen; hemmstu die Unruh nur, so ist die Zeit  von hinnen.“ Augustinus erkannte in einer Zeit zunehmender politischer Auflösung: „Es ist seltsam: Die Menschen klagen darüber, daß die Zeiten böse sind. Hört auf mit dem Klagen. Bessert euch selber. Denn nicht die Zeiten sind böse, sondern unser Tun. Und wir sind die Zeit.“

DER LÄUFER. Wer mit der Uhr im Kopf durchs Leben rennt und ausruft „Hoffentlich verpasse ich nichts!“, der verpasst alles. Er gleicht dem Läufer, der es nie schafft, die Schildkröte zu überholen, weil sich beim entscheidenden Schritt die Zeit komprimiert, die Sekunde sich in unendlich viele Bruchteile teilt. In diesem schwindelnden Zeitraffer versäumt er den Lauf abzubrechen, tief atmend still zu stehen und zu spüren, dass die Schildkröte ihn mit ihrer Nase sanft am Fussknöchel stupft und zu ihm hochschaut. Lewis Carroll, der sich als Mathematiker mit dem Schildkröten-Exempel Zenons auseinandersetzte, schuf in seiner Fabelwelt die Gestalt des Wettläufers im Hasen, welcher am Anfang seines berühmten Buchs mit der Taschenuhr in der Pfote vorüberrennt und klagt, er komme zu spät, er komme zu spät! Der Hase läuft auf seinen Läufen davon, verschwindet im Erdloch (wo die Abenteuer der Alice beginnen) und – verrennt sich im Ganglabyrinth, welches Generationen seiner Vorfahren vor ihm unter der Erde gegraben haben.

NICHTS ALS EINE SATIRE. Eine Bank schliesst eine Wette auf den Aktienkurs der Rückseite des Monds ab und verbucht ihren Gewinn im Vorwissen darauf, dass dort im nächsten Jahrhundert nichts zu holen ist. Sie schliesst für ihren Klienten samt einer Lebensversicherung noch eine Ertragsrisiko-Versicherung auf Lebenszeit ab und akkumuliert aus dem Nichts einen Gewinn auf Raten ohne einen Cent in den Mond zu investieren. Sie investiert in die Werbung, welche den Zauber schafft, dass der Glaube nicht nachlässt, dass auch auf dem Mond in nützlicher Zeit Kapitalwachstum zu holen ist, obschon es auf der Erde auch weiterhin 85% der Menschen an Kaufkraft fehlt. Es gibt übrigens in der Welt immer einen privilegierten Horizont, wo sich die Rhetorik der Swiftschen Akademie tummelt und - von hervorragenden Ausnahmen abgesehen - im Genuss ihrer Medienpräsenz brillant das virtuelle Bewusstsein der Fakten pflegt.