INHALT
Die Monduhr
Die Privatbank
Ein kurzer Querlauf durch die Wirtschafts- und
Kulturgeschichte:
Fürstliche Schatzkammern und bürgerliche Uhrzeit,
Maschinen-Menschen und künstliche Welt, Goldakkumulation und Seelenheil
- Arbeitskraft und Geld
- Romantische Kunstmärchen und künstliche Welten
- Fortschrittsutopie: Mensch als Maschine und mechanische
Automation
Clemens Brentano
Jean Paul
- Denkmaschinen und die Horizonterweiterung durch
Cyberspace:
Novalis und
August Wilhelm Schlegel
Timothy Leary und Jaron
Lanier
Ikonen - Entracte über Entgrenzung und Sinnlichkeit der
Werbung
Andy Warhol, Chanel
und Breitling
Eine kleine „Kulturgeschichte“ der Finanzwirtschaft
- Goldrausch um nichts als einen Schatten
Adalbert von
Chamisso, "Peter Schlemihl"
Finanzalchemie
oder die „nihilistische Geldschöpfung“
Law, Necker,
Assignat-Inflation, Revolution
Johann Wolfgang
v.Goethe, „Faust II“ und Briefe an Zelter
Zum Schluss
DIE MONDUHR
HIGHSPACE
HORIZON. Ein plastisches Profil des Monds. Auf seiner von der Erde abgewandten Schattenseite
präsentiert OMEGA das Gehäuse der jüngsten Kreation ihrer SPEEDMASTER. Das
Sonnenlicht streift ein schmales von Kratern übersätes Segment am Rand des
Trabanten. Funkelnd schwarz hebt sich der matt gebürstete Edelstahl des
Gehäuses vom graphitschwarzen Mondschatten ab. Die gedrängten Markierungspunkte des
Tachymeterbands symbolisieren Beschleunigung, die Leuchtstäbe auf dem
Zifferblatt die Klarheit chronometrischer Ordnung. Mit dem Slogan THE DARK SIDE
OF THE MOON macht Werbung die Novität zur astronautischen Ikone, denn der knappe Untertitel spielt mit dem Reiz einer doppelgründigen Assoziation: „ONCE AGAIN,
THE MOON IS THE STAR!“
Der
unaufmerksame Betrachter bezieht die Botschaft wohl spontan auf die präsentierte
Uhr: Klar, der Mond ist die geheimnisvolle Bühne für den leuchtenden Auftritt, der umworbene Star am Himmel ist die SPEEDMASTER. Schaut er aber genauer hin, dann
gelingt ihm die Verfremdung. Er bezieht den Satz, so wie er steht, auf den Mond, er
fragt und erkennt die Doppeldeutigkeit: ONCE AGAIN - weshalb jetzt wieder? Die alte Heldengeschichte der Mondexpedition
aufersteht, genau! Die Werbung erinnert diskret an den Quantensprung der Raumforschung vor
fünfzig Jahren und die Ehre, dass die SPEEDMASTER damals als privilegierte Begleiterin
der Astronauten ihre Mondtaufe erhielt.
Natürlich,
die Uhr von OMEGA agierte in einer kleinen Heldenrolle der Geschichte. Die
Wendung „wieder einmal“ dürfte heute wohl auch auf die Tatsache anspielen, dass der Mond
in einem aktuellen Kontext erneut interessiert: Im Unterschied zum fernen Mars
rückt e r nun als Forschungsobjekt und Lieferant
seltener Rohstoffe wieder in eine Starrolle. Die Chinesen rüsten zur raumkolonialen
Expedition, ihr langfristiges Ziel ist die lukrative Ausbeutung des
Erdtrabanten. Auch der Mond aufersteht als ein Star in Greifnähe, um dessen
Schätze sich die Mächte reissen werden. OMEGA wirbt am erhofften Ende einer
Krise, welche uns die Kostbarkeit der Ressourcen einschärfte und unseren
selbstzerstörerischen Umgang mit ihnen deutlicher bewusst machte, für ein
Symbol des Optimismus und hofft von vergangenem Ruhm zu profitieren.
ONCE AGAIN! Etwas Retro Glam klingt natürlich an. Oh ja, sogar ziemlich viel! Die SPEEDMASTER ist ein automatischer Star mit Facelift. Auch eine längst verjährte Nebencharge ist kommerziell zweckdienlich, wenn man sie werbewirksam nutzt.
ONCE AGAIN! Etwas Retro Glam klingt natürlich an. Oh ja, sogar ziemlich viel! Die SPEEDMASTER ist ein automatischer Star mit Facelift. Auch eine längst verjährte Nebencharge ist kommerziell zweckdienlich, wenn man sie werbewirksam nutzt.
Von
Columbus soll die Wendung stammen: „Nie geht einer so weit, wenn er nicht weiss
wohin.“ Columbus hatte ein Ziel: Indien. Er verfehlte es ohne den Irrtum zu
erkennen. Von Cromwell wird der Aphorismus in umgewendeter Bedeutung
überliefert: „Niemand steigt so hoch und gelangt so weit wie der, der nicht
weiß, wohin er geht.“ Die Sicht der Variante ist wohl pessimistisch. Die Erde und
der Wagemut ihrer Erforschung scheinen zur Zeit der Reformation zweifelhaft zu
werden. Seine Glaubenszweifel erinnern den Menschen an die göttliche Allmacht
und die eigene Begrenztheit. Die neue
Botschaft stellt ihn als Individuum unmittelbar vor Gott und erklärt den Glauben
zur allein seligmachenden Kraft. Keine Mittler erwirken seine Auferstehung,
allein die Gnade. Gott ist unergründlich, aber er hat seinen Sohn als
Botschafter einer möglichen Versöhnung auf die Erde geschickt. An seinem Wort
hält der Mensch fest. Am Ende der Welt wird der Botschafter als Richter
erscheinen. Die Aufklärung vollzieht zweihundert Jahre nach der Reformation deren
säkulare Wende. Sie stellt den Menschen als ein mit Vernunft ausgerüstetes Wesen
auf sich selbst. Sie traut ihm zu, sich auf das Wagnis der Erkenntnis
einzulassen („sapere aude!“) und für die Konsequenzen seiner Entscheidungen die
Verantwortung zu übernehmen. Die Neugier treibt ihn, zu erfahren, wohin Experiment und Logik ihn führen.
Im
20.Jahrhundert öffnet die Technik den Zugang zum erdnahen Raum und erweitert
die optische Reichweite in die Tiefen des Kosmos. Die Technik schliesst neue Horizonte
auf. Sie inspiriert die Fortschrittsgläubigkeit und entfesselt die Energien einer
schwindelnden Produktivität. Aber sie provoziert auch Widerstand. Ein
ästhetisches Wunderwerk wie die SPEEDMASTER erscheint in der Perspektive
unseres OMEGA-Inserats als exquisites Symbol des Hochsprungs zum Trabanten. Werbung
verlockt, in ein Idol des technologischen Fortschritts zu investieren. Macht
sie die Armbanduhr zum teuren Fetisch gegen die Anfechtung des Zweifels?
Mit
der Uhr den Mond zu kolonisieren, unsere in Sekunden gemessene Zeit in die
Staubwüste des Kopernikus-Kraters zu exportieren - absurd! In Afghanistan
herrscht ein jahrzehntelanger brutaler Krieg, permanenter Terror. Jederzeit
anwesender Tod umgibt die Gebirgsbauern, welche mit Stockpflügen die staubige
Erde aufkratzen, mitten in ihrer gemessen ertragenen Mühseligkeit. Wie können
sie sich einen zukünftigen Frieden vorstellen - und wann wird er eintreten? Der
Afghane antwortet dem westlichen Besucher - Roger Willemsen: „Sie haben die
Uhr, wir haben die Zeit.“
Mir
fällt der paradox erheiternde Satz des Komikers Gerhard Bronnen ein, weil er
die Idee der Geschwindigkeit in einer den Sinn der Zitate variierenden Proposition
ins Spiel bringt: „Ich hab zwoar kha Ahnung wo i hin fahr, aber dafür bin i
g’schwinder dort.“ Die zeit- und zielgenaue Landung der "Philae"-Sonde
auf dem Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko nach einem Raumflug von
zehneinhalb Jahren kann schwankenden Glauben an die Präzision der Technik
wieder ins Lot setzen. Falls es glückt, vom All Aufschluss über die Herkunft
des Lebens zu gewinnen, bleibt doch die Ungewissheit, ob wir die
Geschwindigkeit des Fortschritts und seine konfliktreichen, das Leben
bedrohenden Auswirkungen auf der Erde meistern. Man möchte sich etwas weniger
Speed, dafür etwas mehr Zeit wünschen.
HIGH
ART OF HORIZON-EXTENSION. LGT, die fürstliche Privatbank der Zwergmonarchie
Liechtenstein, ist renommiert für „DIE KUNST, HORIZONTE ZU ERWEITERN“. Sie wirbt
unter Einsatz von Gemälden und Stichen der Kunstsammlung des Hauses. In einer
Kombination von preziösen Details aus der Sammlung und kurzen Szenen-Trailern
empfiehlt sie ihre Investment-Beratung unter dem Slogan „ZEIT FÜR NEUE
ANLAGEHORIZONTE“. In einem dieser eleganten „Deux-Pièces“ schreitet eine junge
Frau barfuss auf dem Sandstrand gegen einen luziden Horizont. Das seidene Pinkrosa
ihres Kleids, durch welches der sanfte Meerwind fliesst, verbindet sich mit der
zarten Farbe der sich öffnenden Pfingstrosenblüte eines kolorierten Stichs aus
dem 18.Jahrhundert. Der kurze Trailer symbolisiert die Leitidee.
Der
CEO SD Prinz Max von und zu Liechtenstein richtet sich in einer Leitadresse rück-
und vorausblickend an die geehrte Kundschaft. Er betont, dass die durch lange
partnerschaftliche Tradition begründete Kultur dem Unternehmen „eine starke
Identität“ verleihe und wirbt um ihr Vertrauen: „Das wirtschaftliche Umfeld war
in den letzten Jahren von grosser Unsicherheit geprägt. Gerade vor dem Hintergrund
der Finanz- und Verschuldungskrise haben traditionelle Werte wie Sicherheit,
Kompetenz und Integrität wieder eine
grosse Bedeutung und neue Aktualität erhalten.“
„Zeit, Vertrauen in Leistung umzusetzen“, lautet ein Slogan zum Anlage-Angebot. Die Bank steht mit ihrem Beraterservice zu Dienst, „wenn Sie Ihre Anlageziele mit einem verlässlichen Partner an Ihrer Seite erreichen möchten.“
Der
zu diesem Angebot aufgeschaltete Werbe-Trailer symbolisiert das Vertrauensverhältnis
durch den stummen szenischen Dialog zwischen einer Damenreiterin und ihrem
Pferd. Die Reiterin steht - offenbar zum Ausritt bereit - an der Flanke des
gesattelten Pferds. Mit einer Wendung ihres Gesichts nach der Seite sucht ihr
Blick das Auge des Tiers. Darauf lehnt sie, die Zügel locker in der linken
Hand, lächelnd ihren Kopf mit beinahe kosender Gebärde an seinen Hals.
Der
Blick der Dame verrät eine herzhaft-innige, ja geradezu intim-hingebungsvolle
Vertrautheit mit ihrem Pferd. Dieses verkörpert, wenn man die Gebärde mit dem
Wort des Leitbriefs übersetzt, die durch den CEO angepriesenen „starke
Identität“ des Geldinstituts. In der schlichten Szene ist ein Versprechen
umgesetzt: Die Partnerschaft zwischen dem Kunden/der Kundin und dem Bankhaus ist
durch ein tiefes gegenseitiges Verständnis begründet, von dem man annehmen
muss, dass es eitle Eigennützigkeit ausschliesst.
Doch
im Rückblick auf die heikle Vorkrisen-Geschichte finanzieller Interessenpartnerschaft
zwischen Banken und Anlegern entlarvt sich die Trailerszene als vollendeter
Edelkitsch. Man gestatte den Ausdruck. Retro-Glam im Stil einer
Courths-Mahler-Story soll „durch lange Tradition begründetes“ Wertverständnis
neu verankern, als ob die im verlogenen Genre idealisierte Finanzkultur einer
ancienne aristocratie bourgeoise, wenn sie je gelebt hat, nicht lange vor der letzten
Finanzkrise gestorben wäre. Vom Prinz-Patron sanktionierte Werbung soll bürgerliche
Redlichkeit aus ihrem Jahrhundertschlaf wachküssen und durch den Schwindel hemmungsloser
Finanzjongleure verlorenen Anlageoptimismus zurückzaubern.
Falls
Werbung also verlorenes Vertrauen restituieren will, ist ihr - selbst wenn ihr
Versprechen mit dem Segen der Kirche und der säkularen Garantie eines fürstlichen
oder nationalen Vermögens versehen wäre - ein solches Heilungswunder heute noch
zuzutrauen? Verdient Werbung überhaupt Vertrauen?
„Zeit,
Vertrauen in Leistung umzusetzen“, lautet der Werbeslogan zum Anlage-Angebot
der fürstlichen Bank. Von welcher Art und wie zu verstehen ist der Begriff
„Leistung“ unter den Umständen einer finanztechnischer Geldakkumulation, deren
Verselbständigung die Finanzkrise und den mit dem Einbruch einer tragenden
Eisdecke vergleichbaren Absturz der Werte auslöste? Wer weiss, vielleicht
leistet die Schatzkammer der Miniaturmonarchie von Vaduz ja Garantie für echte
Wert-Schätzung und eine neue Kultur des Anstands. Leisten der akkumulierter
Reichtum der fürstlichen Schatzkammer oder der Goldschatz der schweizerischen
Nationalbank in Zukunft auch die Garantie für jene Wert-Sicherheit, in welche
sich das umworbene Vertrauen sowohl der grossen Geldanleger wie auch der
kleinen Sparer investiert?
„Langfristig orientierte Eigentümerstruktur“ und eine „durch klare Werte geprägte Kultur“ stehen als Grundlage für die versprochene Sicherheit im Angebot. Das durch den kurzen Werbetrailer der fürstlich-liechtensteinischen Bank perfekt in Anschauung umgesetzte Einverständnis zwischen Kunden/Kundin und Institut ist als ein P a k t zu verstehen. Er ist die Besiegelung einer privaten Vereinbarung im wechselseitigen Interesse. Aber für die Vergangenheit, einschliesslich jener Zeit, welche der Rückblick des fürstlichen Prinzipals als „von grosser Unsicherheit geprägt“ charakterisiert, wird man annehmen dürfen, dass der Kontrakt, falls er ein juristisch begründetes Recht oder ein legitimes Interesse Dritter beeinträchtigte, stillschweigend ein Mitwissen der Geschädigten ausschloss, um den Partnern aus dem dadurch erwachsenen Vorteil einen wechselseitigen Gewinn zu garantieren.
In
jener Zeit, wo Bankinstitute Steuerfluchtgeldern einen „sicheren“ grünen (gemäss
dem juristischen Farbkreis grauen) Hafen weit offen hielten und Länder,
Ländchen oder Gemeinden reichen Steuerflüchtlingen und insbesondere Konzernen
Sondersteuer-Privilegien anboten, welche bis heute nicht abgeschafft sind, kann
man annehmen, dass ein Kontrakt, welcher einen wechselseitigen Vorteil auf
Vertrauensbasis garantierte, ein Geldinstitut nicht hinderte, sein
Eigeninteresse zu verfolgen. Es ist nicht auszuschliessen, dass dieses unter
Umständen dem Interesse des Privatkunden zuwiderlief, falls ihm zum Beispiel
gewisse Informationen zu Bedingungen oder Änderungen bewusst vorenthalten oder
nicht ausreichend erklärt wurden.
Es
war die Zeit, in welcher Banken das Recht beanspruchten, aus Geld, welches
ihnen von ihren Kunden anvertraut war, Geld zu schaffen oder „Geld aus dem
Nichts zu machen“, wie Bernd Senf, ein prominenter Kritiker des Zinssystems,
die Sache formuliert. Sie erwirtschafteten also mit Geld, das ihnen nicht
gehörte, schnell wachsende Gewinne, welche durch den Gesamtwert der
Realwirtschaft teilweise nicht abgedeckt und deshalb ungesichert waren. Die
ungedeckten Gewinne drohten sich in ebenso schnell wachsende Verluste zu verwandeln,
welche komplizierte Investitions-Konstrukte mit sich in den Abgrund ziehen und unter
fatalen Umständen im Sturz gigantische Werte vernichten konnten. Dieses
„produktive“ Geld gehörte eigentlich der Nationalbank und war den Banken
genauso wie ihren Kunden nur geliehen.
Gemäss
Credit Suisse und IWF stiegen die Privatvermögen weltweit seit 2000 von 117 auf
263 Billionen Dollar. Stellt man die Summe der Geldakkumulation dem Wachstum
der Weltwirtschaftsleistung gegenüber, nämlich von 33 auf 78 Billionen Dollar,
dann müsste man den Schluss ziehen, dass es im Geldsektor längst zur
sogenannten Kernschmelze hätte kommen sollen. Weshalb ist sie nicht
eingetreten? Der Finanzanalyst Mike Mayo hat darauf die entwaffnende Antwort,
mit der er auf Polanskis Film anspielt: Die Kreditindustrie, die das System am
Leben erhalte, sei eben „Chinatown“ - darum ändere sich das System auch nach
der Krise nicht!
In
der Schweiz - man darf Liechtenstein wohl einbeziehen - haben sich in 25 Jahren
die Vermögen der hundert Reichsten fast verfünffacht, das soziale Gefälle hat
sich derart verstärkt, dass im Kanton Zürich allein die zehn Reichsten das
Vermögen der 500‘000 ärmsten Einwohner wettmachen. Die dreihundert Reichsten
des Landes verfügen mit 374 Milliarden Franken Vermögen fast über die Summe
seines jährlichen Bruttosozialprodukts. Liechtenstein „ist in der Top-10-Parade
mit dem durchlauchtigen Fürsten höchstderoselbst vertreten, der mit sechs bis
sieben Milliarden Franken Vermögen Rang zehn besetzt“ (BILANZ).
Kapitalakkumulation,
welche den Realwert der Arbeit oder den Gebrauchswert von Land und Gütern
übersteigt, wächst und treibt in die Zone der Irrationalität, in den Bereich
der Ahnungen und Träume. Bekanntlich verwandeln sich Träume nicht selten
unvorhergesehen in Alpträume, denn sie werden ihrem Wesen gemäss von Mächten
gesteuert, welche sich der diskursiven Logik entziehen.
EIN KURZER QUERLAUF DURCH DIE WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE:
FÜRSTLICHE SCHATZKAMMERN UND BÜRGERLICHE UHRZEIT, MASCHINEN-MENSCHEN UND KÜNSTLICHE WELT, GOLDAKKUMULATION UND SEELENHEIL
ARBEITSKRAFT
UND GELD. In deutschen Landen hatte der revolutionskaiserliche
Kriegs-Merkantilismus verheerende Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Während
der napoleonischen Besetzung erwachten in Preussen aber der durch die Romantik
inspirierte Nationalgeist und der Wille zu politischer Reform. Auf die
Befreiungskriege folgte indessen die Restauration. Sie stellte in Preussen das
monarchische Prinzip über eine in der Volkssouveränität gründende Verfassung. Der
Mundkorb wurde wieder aufgezwungen. Die Spitzel spitzten ihre Ohren. Der Geist
der politischen Reformromantik überlebte die Reaktion, welche gegen radikale
Umtriebe mit Zensur, Geheimpolizei und Verfolgung vorging, im Rückzug einer
pragmatischen Selbstbeschränkung.
Die
Bauernbefreiung wurde von oben eingeschränkt und war in Zukunft durch die
Abgabe von Land an den adligen Grossgrundbesitz zu entgelten. Steins Idee der
Selbstverwaltung von Kreisen und Gemeinden ging in der Reorganisation der
Staatsverwaltung unter. Preussischer Bürokratismus förderte im 19.Jahrhundert die
Mentalität der Anpassung. Das Fieber des technischen Aufbruchs, die sozialen
Umwälzungen, der Konkurrenzdruck und die Spekulationsgier der Finanzaristokratie
während der Vormärz-Zeit - einer spiegelbildlichen Epoche politischer
Halbheiten und verlogener Loyalität privater Interessen - machte in der Epoche der
Industrialisierung idealistische Hoffnungen zunichte. Das durch die
Landabtretung (das „Bauernlegen“) und natürliche Bevölkerungszunahme
anwachsende Proletariat von Landarbeitern oder verarmten und überschuldeten
Kleinbauern wanderte in die Industrie ab, welche sich vor allem unter der 1834
gegründeten Zollunion rapide entwickelte und bei der enormen Reserve an
„Maschinenfutter“ in Zeiten der Hochkonjunktur sichere, wenn auch billige
Arbeitsplätze anbot. Gegen Arbeitsunfall und Arbeitslosigkeit in der Krise war
aber zur Zeit der frühen Industrialisierung und des Hochkapitalismus noch
keinerlei Schutz vorgesehen.
Träger des Kreditwesens, welches anfänglich auch die kapitalbedürftige Eisenindustrie und den Eisenbahnbau finanzierte, waren traditionelle private Bankhäuser wie die Sal.Oppenheimsche und die Schaafhausensche Privatbank oder die herzogliche Württembergische Hofbank. 1835 wurde als erste grosse Aktienbank die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank A.G. gegründet. Die Schaafhausensche Bank wurde im Jahr der Bürgerrevolution 1848 in Preussen durch ministeriales Zwangsdekret in eine Aktienbank umgewandelt, weil sie sich durch risikoreiche Spekulationsgeschäfte in der rheinländischen Schwerindustrie überhoben hatte. Durch die Aktiengesellschaften der „Gründerzeit“ erfolgte die Finanzierung des technisch-industriellen Fortschritts im grossen Stil.
Das
ärmliche, durch seinen Herrn von Wien aus verwaltete Reichsfürstentum
Liechtenstein erlangte durch Napoleon 1806 als Mitglied des Rheinbunds die
Souveränität und blieb nach dem Wiener Kongress ein selbständiger Kleinstaat im
Deutschen Bund. Die verkehrsgeografische und wirtschaftliche Isolation
verhinderte lange den Anschluss an die Industrialisierung. Schlechten Zusatzverdienst
bot noch im 19.Jahrhundert das von aufgeklärten Philanthropen und Aposteln der
Gemeinnützigkeit in den rückständigen Gebirgsregionen zum Hanf- und Flachsanbau
propagierte Spinnen und Weben. Ihre Ärmlichkeit streifte die nach dem
Zusammenbruch von 1918 neben Luxemburg einzige Kleinmonarchie Mitteleuropas
erst seit dem Zollvertrag mit der Schweiz ab. Damals - um 1920 - wurde die Bank
von Liechtenstein gegründet. In den folgenden drei Jahren wurde das
Bankgeheimnis verankert und der Schweizer Franken zur Landeswährung erhoben.
ROMANTISCHE KUNSTMÄRCHEN UND KÜNSTLICHE WELTEN. An Märchenwunder glaubte der rheinländische Dichter Clemens Brentano, welcher sich zur Zeit der napoleonischen Besetzung und in den ersten Jahren der nachfolgenden Restauration meist in Berlin aufhielt, nicht mehr. In der „Zueignung“ zur späteren Version seiner Märchennovelle „Gockel, Hinkel und Gackeleia“ enthüllt der Poet, dass er sich als „träumerischer Knabe“ 1791 bei der Kaiserkrönung in Frankfurt „für nichts mehr und nichts weniger als den verkannten privatisierenden Regenten von Vadutz“ gehalten habe und erinnert sich, wie seine blühende Kinderfantasie die „Schatz- und Kunstkammer“ seines eingebildeten Kleinfürstentums mit allen exotischen Wundern, Kuriositäten, Raritäten und Kleinodien ausgestattet hatte. Die überarbeitete Fassung des Märchens entstand nach 1835 in München und erschien 1838. Die Zollunion hatte die Schranken beseitigt. In den Rheinlanden entwickelte sich die Schwerindustrie. Borsig begann zu dieser Zeit in Berlin Lokomotiven zu bauen und die Eisenbahn befuhr die erste Fernstrecke von Dresden nach Leipzig. 1835 wurde in München die erste Aktienbank eröffnet.
In seiner Jenaer Zeit hatte Brentano das Potenzial entwickelt, die naive Kreativität seiner Fantasie aus der Distanz romantischer Ironie zu brechen. Leicht fällt es ihm daher, am Schluss der „Zueignung“ der Kritik seiner bürgerlichen Leserschaft zuzugestehen, dass seine Fantasie oft mit ihm „davongehe“. Er nutzt aber das Eingeständnis, um sich - aus Widerspruch zu einer als trügerisch erlebten geregelten Wert- und Güterordnung - freimütig zu seinem fatalen Medium und zur Märchensatire als Kunstgattung seiner Wahl zu bekennen. Alles an der zugeeigneten „Rarität“, verrät er, sei nichts als „ein Märchen“. Und er widerrufe nicht, „Vadutz“ bleibe für ihn noch im Alter „das Land der Schätze, Geheimnisse und Kleinodien“.
Gerade
er, Brentano, kannte bei seiner scheinbar realitätsfeindlichen Borniertheit die
Abgründe, die Unsicherheit menschlicher Existenz, und die Verwirrung, in welche
fehlgeleitete Erwartung die Gesellschaft stürzen konnte. Er, der Kaufmannssohn,
hielt an der kindlichen Einbildung und der Sprachmagie romantischer Fantastik
fest, obschon - oder gerade weil - ihn die Spekulationskrisen des frühen
Aktienkapitalismus wohl lehrten, dass die Schatzkammern des durch Renten auf
schwindelnden Mehrwert akkumulierten Kapitals keine Lebensgarantie für soziale
Sicherheit leisteten.
Novalis
und die frühe Romantik hatten die Magie der poetischen Fantasie und des Traums
entdeckt und das Märchen zur literarischen Gattung erhoben. Der romantische
Glaube an eine ursprüngliche Einheit von Gemüt und Welt, welche sich aus dem
Geist der Poesie restituieren sollte, war allerdings zweifelhaft geworden und
die absolut gesetzte Fantasie begann ihre dämonische Kehrseite herauszukehren.
Man denke etwa an E.T.A. Hoffmanns zwischen preussischer Beamtenkarriere und
den Heimsuchungen seiner halluzinativen Fantasie gespaltene Existenz, an seine
„Elixiere des Teufels“. Brentanos und Hoffmanns „gebrochenes Verhältnis
zwischen dichterischer Unmittelbarkeit und gesellschaftlicher Wirklichkeit“
(Friedhelm Kemp), weist weit über die Bürgerherrlichkeit der kapitalistischen
Gründerzeit und der Belle Epoque hinaus. Das poetische Konzept ihrer gut ein
Jahrhundert vor der Katastrophe des ersten Weltkriegs und der politischen
Umwälzung von 1917/19 entstandenen Dichtung gilt wie Kleists, Heines oder
Büchners Werk, um dieses Jahrhundert später wiedererweckt und entdeckt, als
„modern“.
Im
Unterschied zu den Spätromantikern Heine oder auch Eichendorff blieb Brentano
ein merkwürdig unpolitischer Dichter, ganz seinem Dämon Fantasie und dessen
Peinigungen sowie nach 1819 einer wahnhaften - vielleicht als Zuflucht zu
verstehenden - Religiosität verfallen. Einem begüterten Frankfurter
Kaufmannshaus entstammend war Brentano zunächst angehender Kaufmann. Doch
während seines Studiums emanzipierte er sich durch eine geistige Kehrtwende und
schloss sich der in radikalen studentischen Kreisen seiner Generation üblichen
Kritik am Philistertum an. Ein grossartiges literarisches Zerrbild des
karrierebewussten Bürgertums verfasste er 1807 zusammen mit Görres in der Fantasy-Satire
„Wunderbare Geschichte von Bogs dem Uhrmacher“.
UHRWERKE! Eine wissenschaftliche Kommission hat Bogs „Gesundheitsumstand“ zu begutachten. Die groteske Inspektion seines Kopfs ergibt, dass der Uhrmacher wie die Kehrseiten einer Münze zwei Gesichter hat. In seinen Gehirnhöhlen tickt, tönt, klingt und schwirrt ein Konzert von „hundert und tausend kleinen mikroskopischen Uhren von allen Gattungen und Arten“, wie Stutz, Schlag-, Repetier-, Kunst-, Flöten-, Sonnen- oder astronomischen Uhren. Ausserdem wimmelt, schreit, klappert, bellt, schellt und schnurrt es von einem in ihrem Innern hausenden „wunderlichen und unnatürlichen“ Sammelsurium von körperhaften Tönen, Gestalten und Sachen wie Hirschen, Hunden, Eulen, Fuhrwerken, Schlitten oder Springbrunnen.
Der
Uhrmacher Bogs ist - auf dem Hintergrund der faszinierenden und in akademischen
Kreisen damals heftig umstrittenen mechanistischen Auffassung - eine witzige
Allegorie des als Automat konzipierten und/oder zur Automaten-Puppe
konditionierten Menschen. Der Surrealismus der Groteske parodiert einen
philiströsen gesellschaftlichen Zustand, wie Brentano ihn einmal im Roman
„Godwi“ satirisch wie folgt umschreibt:
„Ach,
es ist sehr traurig, wie ungeschickt uns unsre Erziehung macht; unsere Seele
wird vom bürgerlichen Leben, wie von einem Tanzmeister, in eine wunderbare
steife Konsequenz und eine auswendig gelernte Mannigfaltigkeit geschraubt, die,
sobald wir in die Natur treten, zu höchstverderblicher Ungeschmeidigkeit und
Einseitigkeit führen.“
Und
in der „Wunderbaren Geschichte von Bogs“ wiederum karikiert er - anfangs der
sich in beschleunigtem Lauf entfaltenden
industriellen Revolution - den bürgerlichen Karrieristen, welcher mit der
Absicht in der Welt „zu Verstand kommt“, ein „gutes Rad oder eine gesunde
Speiche“ zu sein und also als Uhrmacher zu einem „Maschinenglied“ zu erwachsen.
Mit der Berufswahl setzt er seinem Leben den Zweck „Zeit zu gewinnen“ und ja
keine Zeit „zu verlieren“. Er legt das Bekenntnis ab, er wisse immer, „wieviel
an der Uhr ist, um nicht zu wissen, wieviel oder wenig an der Zeit ist“. In
einer Rede, welche sich zur Grabpredigt eines „vom Einerlei des Drehens und Gedrehtwerdens“
Ermüdeten steigert, verkündet Bogs, dass die dem „Erdenkloss“ Adam durch Gott
eingehauchte Seele eigentlich die metallene „Feder und Gewicht an der Uhr“ und
bei Licht betrachtet „gar die Uhr selbst“ sei.
Indem
Brentano durch die Folie des Märchens, das er zu einem krausen literarischen
Bilderbogen und Zerrspiegel ausgestaltet, die gesellschaftliche und politische
Ordnung parodiert, erfasst er intuitiv, was darin an Schönheit und
Schauerlichkeit verkorkst und verkapselt angelegt ist. Seine Verweigerung
gegenüber dem Anspruch der Konvention, seine „bizarre Manier“, wie er selbst
seine Hingabe an eine absolute
labyrinthische Poesie charakterisiert, weist ihn als einen der Vorläufer der
Poesie pure, des Surrealismus und der Dadaisten aus. Ein Wort Friedrich
Schlegels kann als poetologische Wegweisung gelten: „Der Anfang aller Poesie
(ist), den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft auszuheben
und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche
Chaos der menschlichen Natur zu versetzen.“ Novalis setzt das Programm der
Frühromantik 1798/99 in den divinatorischen Aphorismen seiner „Brouillons“,
wenn er zum Beispiel von „selbsttätiger, absichtlicher idealischer
Zufallsproduktion“ spricht.
Absichtliche
Zufallsproduktion? Paradox umschreiben die Stichworte des Aphorismus den
sprachschöpferischen Akt oder das Entstehen von Poesie. Novalis spricht von
einem freien „Spiel“ der Verkettung („Catenation“) und erläutert knapp: „Der
Poet braucht die Dinge und Worte wie Tasten und die ganze Poesie beruht auf
tätiger Ideenassoziation“. Das Attribut „selbsttätig“ übersetzt das im
18.Jahrhundert aus dem Französischen eingedeutschte Fremdwort „automatisch“.
Das Novalis-Zitat erfasst die romantische Wurzel der etwa vom Surrealismus und
Dadaismus praktizierten „automatischen“ oder „aleatorischen Poesie“. In einem
merkwürdigen und theoretisch - wie noch zu erklären sein wird - keineswegs
zufälligen Anklang an das Wort „Verkettung“ bildet die Zeit der digitalen
Automation und der Globalisierung zweihundert Jahre später ihr Universalwort
„Vernetzung“.
FORTSCHRITTSUTOPIE
- MENSCH ALS MASCHINE ODER DIE MECHANISCHE AUTOMATION. Jean Paul versteht in
seiner „Vorschule der Ästhetik“ das Spiel der zufälligen Verbindung von Ideen,
nach welchem er in seinem verwinkelten, von skurril-witzigen Einfällen
strotzenden Erzählwerk selber verfährt, als „wilde Paarung ohne Priester“ und
erlebt den Impuls seines humorvollen Dichtens im „Erstaunen über den Zufall,
der durch die Welt zieht, spielend mit Klängen und Weltteilen“. Jean Paul und
Brentano schöpften die Kunst des assoziativen Erzählverfahrens bis zur Grenze
aus. Mit Brentano verbinden Jean Paul die labyrinthische Form sowie Groteske
und überquellende Metaphorik, aber nicht das Dämonisch-Abgründige, der Drive
spätromantischer Ironie und Fantastik. Das Faszinosum menschlicher Automaten
oder die Dämonie des Doppelgänger-Motivs entdeckte vor allem E.T.A. Hoffmann
für die Spätromantik und die nachfolgende Fantasy-Literatur. Aber schon zur
Zeit der französischen Revolution, anderthalb Jahrzehnte vor Brentanos
„Uhrmacher Bogs“, hatte Jean Paul in witzig-satirischer Form das in der
Aufklärung verbreitete Thema des Maschinenmenschen aufgegriffen. Es ist nötig,
einführend in einem Rückblick auf die Zeit zu werfen, in welcher der Transfer
der technischen Errungenschaften in England nach Deutschland erfolgte und die
verspätete Industrialisierung auf dem Kontinent einleitete.
England
war im 18.Jahrhundert der „Workshop of the world“. In Deutschland erfolgte die
Mechanisierung der Manufaktur zuerst in der Textilbranche. Die mechanische Baumwoll-Spinnerei
und -Weberei hielt in den Rheinlanden oder in Sachsen um 1780 Einzug. Da auf
die Ausfuhr von Maschinen in Grossbritannien die Todesstrafe stand, war die
Bewerkstelligung des Technologietransfers nach Deutschland nur in Puzzleteilen
möglich. Der Aufbau von Fabrikanlagen innerhalb der Ländergrenzen des
buntscheckigen Reichs war wegen Industriespionage von Misstrauen und
Geheimniskrämerei umwittert. Die ersten technischen Fachkräfte wurden aus
England angeheuert. Die heimischen Arbeiter wurden unter rigider Kontrolle
beschäftigt. Grenzen und Zölle hemmten die Entwicklung. Als erste Fabrikanten durch
den Einsatz wassergetriebener Maschinen - etwa Baumwollkratzen und Arkwrights
weiterentwickelter Spinning Mule - das Gewerbe zentralisierten, fürchteten die
Heimspinner und -weber durch die vervielfachte Leistungskraft brotlos zu
werden. Es kam wie schon in England zu Unruhen. Hungersnot drohte, Familien
waren zu ernähren, die Verzweiflung trieb die Handwerker zum Aufstand. Es waren
Vorboten der Maschinenstürme des 19.Jahrhunderts. Truppen schlugen sie nieder.
Jean
Paul spielt in seiner im Revolutionsjahr 1789 erschienenen Satire „Wider die
Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen“ auf ein solches
Ereignis in Chemnitz an. Das eigentliche Thema seiner grotesken Zukunftsvision ist
nicht die Technik an sich. Vielmehr entwirft er unter dem Aspekt fortschreitender
Mechanisierung ein Zerrbild des durch seine technischen Bedürfnisse verformten
Menschen.
Jean
Paul verfährt mittels scharfsinniger ironischer Zergliederung der Phänomene, um die
Monströsität zukünftiger technischer Erfindungen, menschlichen Verhaltens und
gesellschaftlicher Einrichtungen blosszustellen. Der Mensch erscheint - in
ironischer Verfremdung - als Handwerker und Kopfarbeiter, als ein
sinnenbegabtes, sprechendes und denkendes Wesen in seinen zahlreichen
gesellschaftlichen Standeszuordnungen und Rollen. In der äusserst witzigen
Abhandlung zergliedert Jean Paul das vielseitig ausgerüstete und eingerichtete
Wesen Mensch und denkt sich alle einzelnen Glieder und Organe - die Hand, den
Magen, den Mund, die Sprache und auch das Hirn als Denkmaschine - durch
Automaten ersetzbar. Den Körper und die Seele stellt er sich beide im Sinn der
Leibnizischen Monadologie, wenn auch in witziger Übersteigerung, als zwei wie
Uhrwerke aufeinander abgestimmte, voneinander jedoch völlig unabhängig
agierende Wesenheiten vor.
Die
Abstimmung ist allerdings nicht perfekt und da die Seele sich leicht täuschen
und zum Selbstbetrug hinreissen lässt, während der Körper unbestechlich und genau funktioniert, kommt es dauernd zu Disharmonie
und Reibereien zwischen beiden Instanzen. Gemäss Descartes sind Tiere
bekanntlich reine Maschinen. Da ihre Körper als seelenlos vorgestellt werden, agiert das Tier, genauso wie
der Körper des Menschen an sich, als eine descartsche Maschine perfekt.
Die künstlichen Maschinen, welche der Homo technicus erfindet, sind folgerichtig
perfekter als ihr von Widersprüchen gebeutelter Erzeuger. Sie arbeiten „besser und schneller“, daher „laufen
sie den Menschen weit vor“. Da sie die Menschen „ausser Nahrung“ zu setzen
drohen, üben sie einen unwiderstehlichen Druck auf sie aus. So kommt es, dass angestellte
Arbeitskräfte ihre Energie daran setzen, "ganz maschinenmässig zu verfahren und wenigstens künstliche
Maschinen abzugeben (ver)suchen, da sie unglücklicherweise keine natürliche sein
können“.
Jean
Paul reflektiert im Zerrspiegel seiner Satire - in der Sache mit Descartes konform,
aber durchaus ironisch distanziert - das Verhältnis zwischen Denkorgan und Maschine.
Das Thema des Maschinenmenschen war durch Lamettries berühmte Schrift „L’homme
machine“ (1748) und die mechanistische Erklärung des Organismus längst populär
und regte nicht nur den Diskurs in den akademischen Clubs, sondern auch die
Konstruktion der im 18.Jahrhundert spektakulären menschlichen Automaten an. Bedenkt
man, dass Jean Paul seine groteske „Vision“ noch vor dem eigentlichen Anbruch
der industriellen Revolution in Deutschland niederschreibt und damals den spielerischen
Schluss zieht, dass die Maschine als eine Art von Superhirn den Menschen konditionieren
würde, dann darf man ihm Weitsicht attestieren.
Seine
satirische Utopie treibt der Autor in einer skurril anmutenden Hyperbel sogar
so weit, hypothetisch die Möglichkeit durchzuspielen, dass maschinenmässige
Konstruktionen nicht bloss die Hände, Beine, Augen und alle Sinne, sondern in
der „Denkmaschine“ sogar das Denken und die Identität des Menschen ersetzen und
potenzieren könnten. Jean Pauls „Einbildung“ des Menschen „auf einer höheren
Stufe der Maschinenhaftigkeit“ nimmt die absolute Perfektionierung des Roboters
vorweg. Sie ersetzt zum Beispiel durch ein „Gehwerk“ oder einen „Laufwagen“ zur
Fortbewegung die Beine, durch eine „Hydraulik“ die Peristaltik der Verdauung,
zieht allerdings die elektrische Energie, mit welcher die Aufklärung bereits
experimentiert, als „Betriebskraft“ des Organismus noch nicht in Betracht - sie
erst könnte den mechanischen Automaten zum autonomen Androiden der Science
Fiction machen. NB. Elektrisiermaschine und Kondensator waren immerhin schon um
die Jahrhundertmitte entwickelt und das Ergebnis der Experimente Galvanis zur
tierischen Elektrizität erschien 1791.
Jean
Paul schliesst die in einen ellenlangen Satz gefasste literarische Eskalation des
„vollkommenen“ technischen Zustands, in welchem Erleuchtete wohl den Eintritt
des „jüngsten Tags“ erkennen müssten, mit der pessimistischen Bemerkung: „Die
Sache wäre verflucht arg und die natura naturans verflöge endlich und nichts
bliebe als die natura naturata und bloss die Maschine ohne den
Maschinenmeister.“ Und am Ende seiner satirischen Abhandlung „Der Maschinenmann
nebst seinen Eigenschaften“ (1789), von dem er den „Saturnianern“ erzählt,
umreisst Jean Paul seine Vorstellung der menschlichen Gesellschaft in einer
durch Maschinen vollkommen automatisierten Welt: „Mit welchen Vollkommenheiten
würde der überzählende Kopf die Erde dann wohl übersäet finden? Namentlich mit
Fohismus (Überfluss), vollständiger Apathie, Quietismus, Rentierer- und
Hofdamenleben, Nichtsein und Alleskönnen, woran aber wirklich vor Deutschlands
neunzehntem Jahrhundert gar nicht zu denken ist.“
Die
schlaraffische Stagnation ist nicht eingetreten, die satirische Prognose hat
sich nicht erfüllt. Denn: Ziel der Automation ist die Berechenbarkeit und
Steigerung der Produktion. Sie erhöht die Effizienz, senkt die Kosten,
vergrössert den Mehrwert. Als die logische Fortsetzung der zur Zeit des
Merkantilismus systematisch erweiterten Rationalisierung ist sie ein unaufhaltsamer
ökonomisch begründeter Prozess. Aus historischer Sicht ist sie kausal verbunden
mit der Entwicklung der Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft. Die
Erfolgsgeschichte der modernen Industriegesellschaft umfasst etwa die Ausdehnung,
Differenzierung und Globalisierung des Markts, die Demokratisierung und
Systematisierung der Bildung, die Entstehung
einer hochspezialisierten Grundlagenforschung, die gezielte Entwicklung
von Produktion und Handel, staatliche Lenkungs- und Förderungsmassnahmen,
Entwicklungsplanung und gesetzliche Aufsicht. Der hohe Leistungsanspruch
differenziert den Arbeitsmarkt, multipliziert die Beschäftigung. Die negative Bilanz
des technisch-industriellen Wachstums umfasst indessen gravierende
Fehlentwicklungen wie: eine masslose Steigerung der Ansprüche und des
Verbrauchs, eine mit der anfänglichen Blindheit für die Grenzen des Wachstum
verbundene Verschleuderung von Rohstoffen, Energien und Land, daraus wiederum erwachsend
eine Steigerung umweltstörender und gesundheitsschädigender Emissionen, Stress
und Überforderung bis an die Sinngrenze, Umweltgefährdung mit unabsehbaren
Auswirkungen für die menschliche Zivilisation wie die heute eingetretene Klimaveränderung.
Der
Mensch bleibt als Arbeitssubjekt in die Fortschritt generierende
Mehrwert-Produktion eingespannt. Das Attribut „selbsttätig“, das im
18.Jahrhundert aus dem französischen „automate“ eingedeutschtes Pionierwort der
Aufklärung, ist heute weitgehend durch das Fremdwort verdrängt worden. Die
Revolution hat die politisch Rechtlosen formal aus „stumpfer“ Erbuntertänigkeit
und Standesbindung in die „Freiherrlichkeit“ mündiger Staatsbürger entlassen.
In der Praxis erhob die anbrechende Revolution die ehemaligen „Subjekte“ in
ihrer grossen Mehrzahl zu lohnabhängigen Arbeitern und Angestellten und
unterwarf sie damit den Bedingungen, welche die maschinelle Produktion, die
hochorganisierte Arbeitsteilung und der „freie“ Arbeits- und Gütermarkt mit
seinen Regeln des Preiswettbewerbs und Lohndumpings zur Zeit des
Hochkapitalismus rigoros determinierte. Den Höhepunkt der Unterwerfung der
Arbeitskraft unter das Diktat der Maschine erreichte die Mechanisierung im
frühen zwanzigsten Jahrhundert mit der Fliessband-Produktion. Der starre
Arbeitstakt, welcher sich Kopf und Hand aufzwang, verwandelte den
Fliessband-Arbeiter selbst zum menschlichen Automaten. Die Verrichtung des Subjekts
wurde im 19.Jahrhundert durch die Maschine zur Abrichtung perpetuiert. Die
Standardisierung der Arbeit erstreckte sich auch auf Verrichtungsbereiche der
Angestellten - etwa der Schreibkräfte an der Tastatur der Schreibmaschinen, der
Telefonistinnen an den Stöpseln. Das von Novalis noch programmatisch zur
Umschreibung des freien poetischen Akts verwendete Attribut „selbsttätig“ hat
sich inzwischen die schon in der Frühzeit der industriellen Revolution
dominante Bedeutung „automatisch funktionierend“ zugelegt und steht sinngemäss auch
für „mechanisch“ und „maschinell“.
Die historische Perfektionierung der Automation und ihre psychologischen, sozialen und politischen Auswirkungen auf die Gesellschaft sind ein Generalthema der utopischen Literatur jeden Genres und seit einem Jahrhundert des Films. In der modernen Marktwirtschaft bleibt die Stimulierung und Erhaltung der industriellen Wohlstandsutopie massgeblich das Geschäft der Werbung. Den Menschen zu seinem Glück zu verführen ist das prominente, wenn auch angemasste Vorrecht der Branche, welche im 20.Jahrhundert - in prekärer Symbiose mit der sogenannten „Bewusstseinsindustrie“ und unter Assistenz einer raffinierten Psychologie - zum milliardenschweren Unternehmen hochgewachsen ist. Sie nennt sich auch: Public Relations. Doch Glück ist weder Ausfluss des materiellen Angebots noch des Potentials zu seinem Erwerb. Glück ist nicht käuflich, hat keinen Warenwert und kein Qualitätssiegel. Es ist eine personale Angelegenheit jenseits raffiniert kalkulierter Beeinflussung durch den Markt und die Fülle seines Angebots. Es setzt die Selbstbestimmung des Einzelnen voraus und bleibt letztlich Resultat des Zusammenwirkens zweier Faktoren: eines in seinem Grund unbeeinflussbaren Entscheidungsvermögens und einer Determination, welche sich jeder Berechnung entzieht.
DENKMASCHINEN UND DIE HORIZONTERWEITERUNG DURCH CYBERSPACE. Jean Paul erwähnt in seiner zeitkritischen Satire „Wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen“, dass die Erfindung der Druckpresse die Federkopisten brotlos gemacht habe. Und er erinnert vorausblickend, dass die in Europa immer noch „unnachgemacht gebliebene Büchermaschine“, welche Gulliver in der Akademie der utopischen Pazifik-Insel Lagado vorgeführt wurde, den Druckern und Autoren auf ähnliche Weise „den Garaus machen“ würde wie die Druckpresse. Es bleibt dem Urteil der Literatur- und Technologie-Historiker überlassen, ob Swifts kompliziert verdrahtete Maschine der Lagado-Akademie tatsächlich, wie einige vermuten, ein Prototyp oder eine Prophezeiung des Computers gewesen sein könnte, welcher gegenwärtig die „Bücherdämmerung“ des 21.Jahrhunderts auslöst. Es scheint immerhin, dass der Content der Swiftschen „Büchermaschine“ die Menschen auf Lagado nicht weniger in Trab und unter dauerndem Beschäftigungsdruck hielt als die virtuellen Inhalte gedruckter Bücher, Zeitschriften und Bibliotheken seit bald fünf Jahrhunderten. Der Sog der durch die digitale Automation ins Unermessliche wachsenden virtuellen Zwischenwelt wird den Grad der Beschäftigung in voraussehbar potentieller Zunahme weiter steigern. Weder die Akademie noch der Boulevard wird in Zukunft mit Entzug und Entlassungen rechnen müssen.
Im selben Jahrzehnt, an dessen Anfang Jean Paul seine Androiden-Satiren verfasst - es ist die dramatische Wendezeit der französischen Revolution und der Revolutionskriege - öffnet die romantische Poetik den Blick nach innen und entdeckt das „Organ“, welches den in Fesseln geschlagenen Menschen zu gewaltlos-selbsttätiger Erlösung befreit. „Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe oder in die Tiefe oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns?“ fragt Novalis ebenso vielbedeutend wie vieldeutig in einem seiner berühmten Aphorismen. Der schwärmerische Ton erstaunt - und er spricht auch vom Staunen. Die Erwartungen, welche die Poetik des „magischen“ Idealismus - zur Zeit als Fichte in Jena seine Philosophie einer transzendentalen Subjektivität verkündete - in die schöpferische Potenz der Poesie setzte, waren ähnlich hoch gestimmt wie die Erwartungen, welche vor einer Generation die theoretischen Wegbereiter von Cyberspace in der enthusiastischen Terminologie einer Grenzwissenschaft zu formulieren begannen. In den Dokumenten manifestieren sich einzelne in den Wortlaut hinein reichende Übereinstimmungen:
Cyberspace
„ist der Ort, wo das interpersonale, interaktive Bewusstsein des Weltintellekts
zum Vorschein kommt“, formulierte Timothy Leary, der Guru der Hippiekultur und radikale
Vordenker einer Bewusstseinserweiterung durch Drogen und künstliche
Intelligenz. Der Informatiker und Künstler Jaron Lanier begreift die virtual
reality als „Erweiterung der Wirklichkeit“ in einem „umfassenden“, durchaus
transzendentalen Sinn. Sie ist „eine Welt ohne Grenzen… so unbegrenzt wie die
Träume“. Der menschliche Geist „kann sich in ihr seine Wirklichkeit erfinden
und… mit anderen teilen“, sie ist „wie ein kollektiver luzider Traum“. In ihr
schafft sich die kollektive Erweiterung des Bewusstseins Raum. Die virtuelle
Welt ist von kosmischer Dimension. Sie ist, wie Lanier gleichnishaft formuliert,
„ein fiktiver Planet mit neuen Kontinenten, in die man eintauchen kann, um neue
Wirklichkeiten zu finden“.
Der
Literaturkritiker, Philologe und Indologe August Wilhelm Schlegel - er zählte zum
Jenaer Kreis - formuliert um 1800 die grundliegenden Ideen einer romantischen
Poetik. Für ihn gilt Sprache als „das Medium der Poesie…, wodurch der
menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt“, heisst es in Anlehnung an die
von Herder angeregte zeitgenössische Spekulation um den Ursprung der Sprache
und einer Urpoesie der Völker. Poesie „ist nicht an Gegenstände gebunden,
sondern sie schafft sich die ihrigen selbst“, ist als „umfassendste aller
Künste… gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Universalgeist.“ Schlegels
Dichterkollege Novalis reflektiert das Verhältnis von Aussenwelt und Innenwelt:
„Das Äussre ist ein in Geheimniszustand erhobnes Innere. - (Vielleicht auch
umgekehrt.)“ Die Poesie ist verwandt mit dem Traum. Als eine virtuelle „Welt in
der Welt“ ist sie das „wechselseitig realisierende Prinzip“, das heisst eine
vermittelnde kreative Potenz, durch welche die ursprüngliche Identität von
Gemüt und Welt sich wieder herstellt. Der Aufschwung zum Kosmos findet sich bei
Novalis, von Fichte inspiriert, als ein Vordringen in die „Tiefen unseres
Geistes“. Der oben im Ansatz zitierte Aphorismus bestätigt die zum Lanier-Zitat
analoge Perspektive: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall… Nach innen geht
der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten,
die Vergangenheit und die Zukunft.“
In
1987, two software moguls, Bill Gates and Dr. Timothy Leary, were asked by Omni
to make predictions about life 20 years in the future. Gates was more accurate
in his prognostications, though Leary provided some gems like this one: “What
will you be? A performer. Everyone will be performing.”
Die poetologischen Theorien der Romantik und die Spekulationen um die Cyberspace erfassen ihr Medium im Blick auf ein universales Ziel: Es dient der Erweiterung des Bewusstseins. Wenn beide auf die potenzierte Wirklichkeit des Traums und der Phantasie Bezug nehmen, dann stellen sie die Frage nach der Verbindung des Zufälligen und Notwendigen sowie nach dem Zusammenhang zwischen Erkennen und Welt oder der vernetzten Struktur der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Allerdings ist der Vergleich erst erhellend, wenn man den tiefgreifenden Unterschied zwischen intuitiver und digitaler „Entschlüsselung“ des als universal beschworenen Zusammenhangs klarstellt. Der menschliche Geist findet und erfindet sich gemäss der Imagination Laniers „neue Wirklichkeiten“ nicht unmittelbar in intellektualer Anschauung - auf seinem Weg „nach innen“, wie Novalis formuliert -, sondern „in ihr“, nämlich über die Potenzierung durch das digitale Medium „in“ der Cyberspace. Die Romantiker begründen ihre Vision - noch vor dem Anbruch der industriellen Revolution auf dem Kontinent - idealistisch. Die enthusiastische Prognose der „Cyberologen“ verkündet den intellektuellen Evolutionssprung zwei Jahrhunderte nach Novalis oder Schlegel in den frühen Jahrzehnten der digitalen Revolution. Die menschliche Gesellschaft verfügt nun - vor der Wende zum 21.Jahrhundert - über eine technologische Hardware zur kollektiven Erweiterung ihres Bewusstseins-Horizonts.
Das
Überhirn ist erfunden, die Denkmaschine erschafft nicht, aber simuliert
mögliche Welten. Allein, sie sind immer, wie die Kreationen der Literatur, der
Bühne oder der Filmindustrie, aus der Fantasie herausgesetzte, virtuelle Umsetzungen
unserer Wahrnehmungen, Erfahrungen, Intentionen, Erinnerungen, Träume. Das
digitale Medium schafft zwar einen Quantensprung an Möglichkeitsproduktion. Ob
deren Summe den kollektiven Bewusstseins-Horizont erweitert oder bloss neu
konditioniert, steht bislang zur Diskussion. Das Gehirn erzeugt Projektionen,
Fiktionen, Entwürfe, virtuelle Situationen, Szenarien, Hypothesen. Seine
kontinuierliche Aktivität schärft die Intention, bereitet den von Franz Brentano
definierten „bewusstseinstranszendenten intentionalen Akt“ vor. Die intentionale
Spannung versetzt das Individuum in die Lage, sich im Fluss der Augenblicke zu
orientieren und zu entscheiden. Oder anders: seine Identität etwa im emotional
widerspruchsvollen Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt - zu den
Mitmenschen und zur gesellschaftlichen Ordnung - einzuschätzen und im Hinblick
auf die laufenden Entscheidungssituationen zu klären. Identität ist eine „irgendwo“
zentrierte, intensiven unterschwelligen Einflüssen und formenden Konditionen
ausgesetzte, durch Anlagen und Entscheidungen bestimmte Einheit. Einer
komplexen, sich stets verwandelnde Wirklichkeit korrespondiert ein ebenso
komplexes Steuerungsorgan der Wahrnehmungen und Entscheidungen. Der Computer
erweitert zwar als technologische Schöpfung die Kapazität oder rationale
Sphäre, aber er trifft keine autonomen Entscheidungen jenseits der vorgegebenen
Programme. Die elektronische Datenverarbeitung wird dem Menschen die VERANTWORTUNG
für seine Entscheidungen niemals abnehmen.
IKONEN - ENTRACTE ÜBER ENTGRENZUNG UND SINNLICHKEIT DER WERBUNG
WERBUNG ALS NÄHRSULZ UND SPIEGEL DER BEDÜRFNISSE. Werbung ist der Spiegel, welcher unsere Bedürfnisse virtuell objektiviert und als Spielbälle zurückwirft. Ihre Vorspiegelung gleicht einem Urentwurf, ist die Fortsetzung einer mythischen Situation. Im geheimnisvollen Land der Seemärchen trägt der Riese Atlas die Himmelskuppel und bewachen verführerische Nymphen, die Hesperiden, die nach ihnen und ihrer fernen Atlantikinsel benannten goldenen Äpfel. Adam und Eva brechen das Tabu, um im gleichen Augenblick unter dem verbotenen Baum die Erkenntnis zu erfahren, dass sie nackt und aus dem Paradies verstossen sind. Die berauschenden, aber verbotenen Äpfel sind Sinnbild einer Sehnsucht, deren schuldlose Erfüllung vielleicht einst einer Kaste von Geweihten vorbehalten war. Ihren profanen Genuss bestrafte indessen der Entzug. Der entzugsfreie Genuss einer Droge war nur möglich, solange ihre Verfügbarkeit gesichert war. Ökonomisch betrachtet könnte man ihr Verbot als Reservation einer Mangelware für Privilegierte auslegen.
Die Perversion des religiös begründeten Sonderrechts einer Kaste oder Klasse konnte in der Frühgeschichte und im europäisch-christlichen Kulturraum über die Reformation hinaus bis zur Aufklärung, deren säkularen Wende, gerechtfertigt und symbolisch verankert werden: theologisch durch Lehre und Kult, politisch durch die Idee des Gottesgnadentums. Seit „Gott tot“ ist, sind Treu und Glauben käuflich. Markt, Macht, Profit, Überzeugung und Gefolgschaft entscheiden. Im sozialistischen „Arbeiterparadies“ der SED konnte sich „Luxusgüter über die Hintertüre“ aus dem kapitalistischen Westen leisten, wer wie die Machtelite über Westmark verfügte. In Diktaturen brauchte die Elite ihre Ansprüche nicht zu rechtfertigen, häufig galten gewaltsame Bereicherung und der Erwerb von Luxusgütern etwa als ein durch Waffen im Tausch gegen wirtschaftliche Lizenzen gesichertes Recht der Stärkeren. Dass sich elitäre Kreise, zum Beispiel im Milieu von Wallstreet und der New Yorker Kulturschickeria, durch ihre Zahlungskraft den Zugang zu illegalen Drogen sichern konnten, ist vor allem seit der Finanzkrise ruchbar. Wo immer Korruption im Spiel ist, gelangen wir zurück zum verzweigten Wurzelwerk der Ursünde im Untergrund des von den exotischen Düften seiner blühenden Schlingpflanzen durchwobenen Paradise Lost. „Chanel“, „Diesel“, „Lamborghini“, „Warhol“ sind Beispiele von Formeln und Emblemen seiner phantastischen und durch ihren Preis exklusiven Surrogate. Seit wir uns als nackt erkennen, restituieren wir den paradiesischen Zustand für flüchtige Augenblicke gegen Bezahlung in unseren Konsumparadiesen. Denn wo man’n hat, den Touch, den Stoff, den Smell, den Chill, da ist EDEN.
WERBUNG - vor allem der über die Bildschirme transportierte Dauerstream an Video-Trailern und ihre aus dem „Leben“ gegriffenen, Wirklichkeit vorspiegelnden Shortstories - ist die CYBERSPACE, welche die urbane Zivilisation einer durchsichtigen Gallertsphäre vergleichbar umgibt. Werbung ist Nährlösung unseres Konsumbewusstseins. Werbung ist immer absichtsvoll, künstlich, in der Regel aufdringlich, auch wenn sie ihren Zweck clever versteckt. Selten allerdings gelingt ihr spielerische Leichtigkeit, Verspieltheit oder zumindest die Vorspiegelung davon. Auf Dauer verwandelt sich selbst das Gelungene durch Wiederholung in abstumpfende Routine, wird als Mittel zum Zweck durchschaubar und provoziert Langeweile oder - wo sie nicht koscher ist - Irritation. Chamäleonartiger Wandel in der Dauer ist daher ihre normale Erscheinungsform. Doch Dauerhaftigkeit ist der Werbetrumpf, wenn es um Investition in sogenannte „wahre Werte“ geht.
CHANEL. Die mit Gisele Bündchen als nereidenartige Wellensurferin und Michiel Huisman als auf Nadeln gespannter Liebhaber hinreissend-dramatisch inszenierte, reichlich mysteriöse Geschichte einer Liebeserlösung - Meerbraut küsst Märchenprinz! - schenkt uns Sternsekunden der Sphäre, in welche wir vor dem Bildschirm eintauchen. Chanel No.5 wählt als Raum für die exaltierte Werbestory das rauschende Meer, den Zauber der nächtlich illuminierten Stadt und - für die intime Erlösung - die Loge der Pariser Oper. Weniger wäre in diesem Fall nicht mehr. Baz Luhmann, der Schöpfer von „The Great Gatsby“ zeichnet für brillante Regie und Pathos. Die delikate Sendezeit des teuren Trailers: Die letzten Tage der zu Ende gehenden Zeit vor Weihnachten und Happy New Year. Top-Label erzeugt die Magie schicksalhafter Augenblicke, doch clevere Werbung drängt sich nicht auf, sondern erzählt eine gute Geschichte. Hier wird sie zur Geschichte eines magischen Dufts. Sie schafft, was die Konkurrenz überflüssigerweise durch die Werbefloskel suggeriert: Le parfum découvre les secrets du destin.
CHANEL. Die mit Gisele Bündchen als nereidenartige Wellensurferin und Michiel Huisman als auf Nadeln gespannter Liebhaber hinreissend-dramatisch inszenierte, reichlich mysteriöse Geschichte einer Liebeserlösung - Meerbraut küsst Märchenprinz! - schenkt uns Sternsekunden der Sphäre, in welche wir vor dem Bildschirm eintauchen. Chanel No.5 wählt als Raum für die exaltierte Werbestory das rauschende Meer, den Zauber der nächtlich illuminierten Stadt und - für die intime Erlösung - die Loge der Pariser Oper. Weniger wäre in diesem Fall nicht mehr. Baz Luhmann, der Schöpfer von „The Great Gatsby“ zeichnet für brillante Regie und Pathos. Die delikate Sendezeit des teuren Trailers: Die letzten Tage der zu Ende gehenden Zeit vor Weihnachten und Happy New Year. Top-Label erzeugt die Magie schicksalhafter Augenblicke, doch clevere Werbung drängt sich nicht auf, sondern erzählt eine gute Geschichte. Hier wird sie zur Geschichte eines magischen Dufts. Sie schafft, was die Konkurrenz überflüssigerweise durch die Werbefloskel suggeriert: Le parfum découvre les secrets du destin.
DIE TRAUMMATRATZE. Der dümmliche Matratzen-Flugtraum, der sich schon jahrelang zur teuersten Sendezeit in zwei Varianten wiederholt, wird dagegen zur Folter: Matratze als schwebendes waberndes Trampolin und Landeplatz für ein verliebtes Traumtänzerpaar oder Matratzen als Dominokette zur Klaviertastatur gereiht, über welche eine Traumwandlerin zu klassischen Tönen hüpft. Matratze exklusivster Machqualität erfüllt zwischen Klick zu abendlicher Entspannung und Schlaf durch endlose Werbeserie billigster und irritierend aufdringlicher Qualität publikumszielgenau ihren Zweck. Wer zweifelt noch! Ob das Label durch „tiefen, sanften“ Schlaf sein Werbeversprechen jede Nacht wieder bestätigt und seinen Preis als Luxusgut rechtfertigt oder nicht, wird die schweizweite Propagandawelle jahraus-jahrein eine Menge kuschelfreudiger Traumpaare in die Einrichtungshäuser spülen. Man schläft vorzüglich Label. Mit lebenslanger Garantie? Die rheumatischen Beschwerden kommen auch ohne. Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, ein roter Schmetterling macht die Unterlage für Romantik in Schweizer Schlafzimmern noch nicht zur Ikone.
BREITLING oder ORIS – „WATCHS FOR REAL PEOPLE“. Das Markenzeichen garantiert Echtheit. Es verleiht sie auch dem Träger des Artikels und macht ihn damit zugleich zum Werbeträger. Echtheit bedeutet Wirklichkeit. Wirklich sein bedeutet: wahres Sein oder eine Identität haben. Das starke Gefühl wirklich zu s e i n erlangt man in der Herausforderung von Grenzsituationen. Breitling stellt seinen Werbeträger - den Fussballstar David Beckham - im Nahporträt auf das Rollfeld. Im Hintergrund steht startklar der Kampfjet. Oder wechselweise ein VIP-Jet. Oder ein sportives Luxuscabriolet - „BREITLING FOR BENTLEY“. Bond alias Beckham ist stoppelbärtig. Der linke Ellbogen ist in Brusthöhe auf den rechten Unterarm aufgestützt. Die linke Faust ballt sich auf der Höhe des Kinns. In die Haut des nervigen Handrückens gestochen sind die blauen Schnörkel eines Tatoo, um das Handgelenk geschnallt ist die Watch. Dunkelblaue Eleganz. Der Himmel ist stahlgrau. Beckham, in tadellosem blauem Anzug mit Krawatte, wendet den Kopf nach links und schiesst einen herausfordernden Blick auf den Betrachter. Darin flammt die Botschaft: Keine Breitling-Watch tragen bedeutet kein Markenzeichen einer starken Identität haben, nicht wirklich „echt“ sein. Breitlings Brand-Ambassador Beckham suggeriert: „Ich mag das Zusammenspiel von ultraleistungsstarken Motoren, die Schweizer Spitzenkönnen reflektieren, und athletischer Ästhetik.“ Geballte Echtheit in einer virilen Floskelbombe! Wer will nicht Ambassador „wahrer Werte“ werden?
EINE KLEINE "KULTURGESCHICHTE" DER FINANZWIRTSCHAFT
AKKUMULATION VON KAPITAL, das nur zur Hofhaltung der eigenen Geltungssucht verbraucht wird, sich aber unerschöpflich - gewissermassen zum Selbstzweck - reproduziert, ist absurd. Sie ist immerhin vorstellbar, wenn man gemäss Piketty eine vollautomatische Fabrik als das vorausgesetzte Betriebskapital endlos Machwerk produzieren lässt, das sich auf einem unersättlichen Markt verkauft. Doch den gibt es so wenig wie das Perpetuum Mobile. In der Realität wird sich die Nachfrage irgendwann auf einem von der Ware übersättigten Markt erschöpfen oder - die wahrscheinlichere Variante - wegen fehlender Kaufkraft versiegen, da das akkumulierte Kapital nicht in produktive Arbeit und Entwicklung investiert wird.
Absurd?
Ja, aber so funktioniert im Prinzip die Erzeugung der Finanzkrise. Die
„Leistung“ der vollautomatischen Fabrik entspricht der Grenzproduktivität des
Kapitals auf einem deregulierten Finanzmarkt. Unter seinen Bedingungen wird es
- nach Pikettys Analyse - für einkommensstarke Kreise „immer leichter an
Kredite zu kommen“ und zwar „mit Hilfe wenig skrupulöser Banken und
Anlageberatern, die darauf aus sind, gute Renditen für enorme Ersparnisse zu
erwirtschaften, mit denen die Begüterten das System geflutet haben“, während
gleichzeitig „die Kaufkraft der unteren
und mittleren Schichten… stagniert“ und die Verschuldung anwächst. Der Wert der
reinen Finanzprodukte übersteigt das Zehnfache des Welt-BIP! In der Krise
fliesst Geld, das an anderen Orten fehlt, in sogenannt „sichere“ Anlagen. So funktioniert
Wertschöpfung ex nihilo. Die Produkte der Luxus-Industrie sind ein blendendes
Geschäft. In abstrakte Finanzprodukte und handfesten Luxus investiert entzieht
sich das Geld dem brachliegenden Potential zur sozialen Wertschöpfung.
GOLDRAUSCH UM „NICHTS ALS EINEN SCHATTEN“. Im Schicksalsjahr 1813, welches mit den Befreiungskriegen den Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft besiegelt und auf dem Kontinent die endgültige Ablösung des Merkantilismus durch die kapitalistische Marktwirtschaft einleitet, entsteht in Berlin unter dem Titel „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ die bald berühmte Märchennovelle eines französischen Emigranten. Ihr Autor, Adalbert von Chamisso, zählt mit Brentano zum Berliner Dichterkreis der „Christlich-Teutschen Tischgesellschaft“. Auf die Zeit zurückblickend bekennt Chamisso in einer später verfassten Selbstbiografie, dass er sich nach Jahren des Selbstzweifels und durch politische Veränderungen begründeter Unsicherheit entschlossen habe, „handelnd und bestimmend in seine Geschichte einzutreten“ und sich „auf der Universität zu Berlin dem Studium der Natur zu widmen“. Beim Neuanfang hätten ihn die dramatisch eintretenden „Weltereignisse“, an denen er als Vaterlandsloser im Exil „nicht tätig Anteil nehmen durfte“, zwar „vielfältig zerrissen“, jedoch von seinem grundsätzlichen Entschluss nicht abgelenkt. Der Ausnahmezustand schenkte Chamisso indessen im Sommer 1813 auf einem Landgut in Kunersdorf die Musse, sein kleines, philosophisch tiefsinniges, zauberhaft packendes und im positivsten Sinn des Worts rührseliges Werk zu verfassen, dessen „wundersamer“ Schluss sein zukünftiges Schicksal als Naturforscher und Teilnehmer einer Nordmeerexpedition und Weltumsegelung vorwegnimmt. Diese Beziehung verrät die Identifikation des Verfassers mit dem ungewöhnlichen „Helden“ des Märchens, welcher wie er auch ein Heimatloser ist.
DER
SCHATTENHANDEL. Als der mit einem Empfehlungsschreiben versehene Bittsteller
Schlemihl das Landhaus des Herrn Thomas John erreicht, dessen Marmorsäulen
durch das Grün eines Parks schimmern und Stattlichkeit ankündigen, wischt er
mit dem Schnupftuch den Strassenstaub von seinen Schuhen und zieht „in Gottes
Namen die Klingel“, worauf die Türe - wie durch eine Automatik bedient -
aufspringt. In der Halle hält ihn der Portier zu einem „Verhör“ auf, das er
besteht, um angemeldet in den Park
komplimentiert zu werden, wo der wohlbeleibte Hausherr sich eben auf dem Rasen
„mit einer kleinen Gesellschaft ergeht“. In einer Konversation mit seinen Gästen
begriffen, empfängt ihn der Adressat des Empfehlungsschreibens jovial, wenn
auch beiläufig „wie ein Reicher einen armen Teufel“. Ohne sich von der
Gesellschaft abzuwenden, erklärt der Gastgeber, mit dem empfangenen Bittbrief
auf einen Hügel weisend, sein neuestes Bauvorhaben und prahlt, während er das
Siegel des Schreibens aufbricht, von seinem Reichtum. „Wer nicht Herr ist
wenigstens einer Million“, wirft er in die Runde, „der ist, man verzeihe mir
das Wort, ein Schuft.“
Schlemihl,
der auf die blasierte Rede mit dem Ausruf „O wie wahr!“ die freundliche
Zuwendung des Mächtigen erschmeichelt, erlebt nun mit wachsendem Erschauern,
wie „ein dünner, hagerer, länglicher Mann“, welcher der Gardenparty unauffällig
beiwohnt, jeden Wunsch der Gäste sogleich erfüllt, indem er das Verlangte aus
der Schosstasche seines Rocks zieht und „mit devoter Verbeugung“ überreicht,
ohne die geringste Aufmerksamkeit oder besonderen Dank zu empfangen: ein
schönes Dollond-Fernrohr, einen golddurchwirkten türkischen Teppich, um sich
niederzulassen, das nötige Zeug zum „prachtvollsten Lustzelt“ und schliesslich
drei gesattelte Reitpferde. All diese Dinge zieht der Graue „mit bescheidener,
ja demütiger Gebärde“ auf Wunsch aus seiner Rocktasche und sie werden von der Gesellschaft
ohne Wimpernzucken als selbstverständlich entgegengenommen. Schlemihl, dem es
bald „graulich zumut“ ist, beschliesst „sich aus der Gesellschaft zu stehlen“.
Doch
der unheimliche Graue stellt dem Ausreisser nach und eröffnet ihm auf einem freien
Rasenplatz unter dem Rosenhain nach umständlichen Verbeugungen und
Entschuldigungen einen Antrag. Er verführt den Eingeschüchterten mit manierlichen
Worten, ihm seinen „edeln“ und „unschätzbaren Schatten“ zu überlassen, für den er
den „höchsten Preis zu gering halte“. Als „Beweis seiner Erkenntlichkeit“ wolle
er ihm die Wahl unter „allen Kleinodien“, welche er in seiner Tasche mitführe,
anheimstellen. Mit einem schlau eingefädelten Pakt, der, wie sich später
herausstellt, bloss vorläufig - auf Probe oder Zusehen - geschlossen ist,
beginnt die Geschichte. Schlemihl tauscht seinen Schatten in einem Augenblick
der Schwäche - ein Schwindel ergreift ihn beim Angebot - als Pfand gegen einen ledernen
Beutel voller Golddukaten ein, welcher nie leer bleibt, sondern die Summe, welche man ihm entnommen hat,
automatisch ergänzt. Kaum hat er in den Handel eingeschlagen, löst der Graue
den Schatten gewandt vom Boden, rollt ihn zusammen, steckt ihn in seine
Rocktasche und verschwindet mit einer artigen Verbeugung.
Schlemihl
erwirbt sich durch den Verzicht auf seinen Schatten das, was einem Mann in der
Gesellschaft Format gibt: Zahlungskraft. Er kann als grosser Herr auftreten,
gilt sogar kurze Zeit als ein inkognito reisender König, aber es ist ihm etwas
abhandengekommen, was zu einem „ordentlichen Menschen“ gehört, der natürliche
Schatten. Der Mangel macht seine Erscheinung unheimlich, die Leute rücken auf
Distanz, er kommt ins Gerede. Die Angst vor Ächtung und Verfolgung peinigt und
zwingt ihn, sich im Licht der Öffentlichkeit dauernd zu tarnen, seinen Mangel
zu verstecken. Als er sich in ein einfaches Mädchen verliebt, verrät ein
betrügerischer Diener sein Geheimnis. Vom Vater der Geliebten vor ein Ultimatum
gestellt, ist ihm, „als schliesse sich hinter ihm die Welt“.
Im
Augenblick seiner höchsten Verzweiflung hält ihn der Graue wieder am Ärmel und
bietet ihm an, seinen Schatten zurück zu tauschen, wenn er ihm dafür mit Blut
seine Seele verschreibt. Als Schlemihl der Handel „bedenklich“ erscheint, höhnt
er, was es denn für „ein Ding“ sei, seine Seele, und was er damit anzufangen
denke, wenn er tot sei, und argumentiert durchaus zeitgemäss mit einer
Anspielung auf den Stand des philosophischen Disputs, welchen ein naturwissenschaftliches Experiment auslöste. Die Entdeckung des Phänomens tierischer Elektrizität durch
Luigi Galvani bekräftigte Ende des 18.Jahrhunderts die materialistische
Hypothese und stellt den traditionsbelasteten Begriff der Seele als
immaterielle präexistierende Substanz in Frage: „Dieses X, dieser galvanische
Kraft oder polarisierenden Wirksamkeit“, seine „Seele“, meint der Graue zynisch,
sei bloss ein „närrisches“ Hirngespinst und nichts „Leibhaftiges“ wie der
Schatten, mit welchem er sie ihm ja „bezahlen“ wolle, das Pfand für den Goldbeutel,
den er ihm fortan ohne Entgelt überlasse.
Schlemihl
schlägt das neuerliche Angebot aus, aber der Graue lässt im weiteren Verlauf
der Geschichte nicht locker. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, er bedrängt
ihn, erscheint in verwandelter Gestalt, will sogar grosszügig noch die
Tarnkappe in den Handel geben, um Schlemihls nachhaltige Zweifel zu zerstreuen,
und treibt seine Pein bis zur Ohnmacht. In einer einsamen Höhle, wo er ihn
erneut heimsucht, zieht er am Ende widerwillig, denn er muss Schlemihl als
dienstbarer Geist gehorchen, Thomas Johns verdammte Seele in der Gestalt eines verschrumpelten
Homunculus aus der Tasche. Der Anblick gibt den Ausschlag. Das Exempel des mittelalterlich
anmutenden Höllenschrecks verhindert die Märchenversion eines faustischen
Pakts, auf den alle Machinationen des Grauen zielten.
Indem
Schlemihl sein Selbst der Äusserlichkeit des Schattens und seiner Geld- und Geltungssucht
wegen verleugnet, macht er sich zur Kreatur des Grauen, zu einer jämmerlichen
Marionette der Verlogenheit. Er durchschaut den zynischen Nihilismus des
Angebots, schleudert den Goldbeutel, der ihn von den Erpressungen des Grauen
abhängig macht, in den Abgrund und ist entschieden, schattenlos und ohne
Reichtum aber frei, fern von der Gesellschaft in einem selbstgewählten Exil zu
leben. Durch Zufall stösst er beim Kauf von Wanderstiefeln auf ein magisches
Vehikel aus dem Arsenal der Märchengaben. Siebenmeilenstiefel tragen ihn von
nun an kreuz und quer an die entlegensten Orte aller Klimazonen der Erde.
Zeitgemäss ausgerüstet mit den Utensilien des Botanikers erforscht er ihre
Biosphäre. Seine Schattenlosigkeit ist nun nicht mehr Stigma seiner mit Hilfe
des teuflischen „Physikus“ erschwindelten Rolle als reicher Mann, sondern
Merkmal des Naturforschers, der seine Ausgrenzung als freien Verzicht zugunsten
der Wissenschaft in Kauf nimmt. Im abenteuerlichen Schlussteil seiner populären
Erzählung gestaltet sich Chamisso, wie schon erwähnt, in märchenhafter Form
sein eigenes Lebenskonzept.
Durch
zweifelhafte Mittel ist Schlemihl zum Gold-Millionär geworden. Er spielt eine
Rolle, die seinem Wesen widerspricht, spielt etwas vor und lebt daher in Angst.
Ist der Schatten ein Sinnbild für das preisgegebene bessere Ich? Oder steht er
für die Konformität im Sinn der Redensart „einen tadellosen Schatten haben“ -
also für Angepasstheit an gesellschaftliche Normen? Der Text belegt wohl beide
Möglichkeiten - und zugleich deren Widerspruch. Er schliesst mit den Sätzen,
welche die didaktische Konsequenz der Wahl des Lesers anheimstellen: „Willst du
unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das
Geld. Willst du nur dir und deinem besseren Selbst leben, so brauchst du keinen
Rat.“ Der Artikel im „Kindler“ gibt eine plausible Interpretation, welche
vielleicht einen Weg weist, den Widerspruch aufzulösen: „Das ‚Songez au solide‘
aus der Vorrede der französischen Ausgabe ist zwar die notwendige Antithese zu
Schlemihls romantischer Heimatlosigkeit, zugleich aber der Hinweis auf eine
Existenz, die von der Macht ökonomischer Privatinteressen geprägt ist.“
(Literaturlexikon)
Chamisso
porträtiert in der Gestalt des Millionärs Thomas John deutlich die
selbstherrliche Pose des Grundherrn und
Tycoons, den Typus des bürgerlichen Emporkömmlings und Investors, welcher das
in der Grossbritannien schon im 18.Jahrhundert angebrochenen Finanz- und
Industriezeitalter zu dominieren beginnt und sein Kapital in den
Kolonialgeschäften vermehrt. Der Graue ist Thomas Johns dienstbarer Geist, der
heimliche Garant seines Reichtums.
Im
Park des Landhauses erhandelt sich der arme Schuft Schlemihl vom Grauen mit dem
Goldbeutel ein Konto Perpetuum für seinen eigenen nutzlosen Schatten. Er
bezahlt mit einem Attribut, das ebenso wertlos ist wie etwa ein rechtslos
gewordener Adelstitel. Der magische Gewinn für ein Nichts ist vergleichbar mit
einer fliessenden Dividende auf ein unversiegbares Edelmetall, welches einen
Marktwert von garantiert unerschöpflicher Nachfrage darstellt. Vielleicht ist
mit Blick auf den erwähnten Titel ein Hinweis auf die Herkunft des Autors
angebracht: Das Geschlecht der Chamisso gehörte bis zur Revolution zum
begüterten französischen Adel. Als die Familie Frankreich in äusserster Notlage
verliess, musste sie auf die Einkünfte ihrer Grundrechte oder die Grundlage
ihres sich gewissermassen automatisch (aus sich selbst) fortgenerierenden Vermögens
verzichten. Als sie sich verarmt in Berlin niederliess, verhalf das
Adelsprädikat wohl zu Beziehungen. Chamisso trat 1796 vorerst als Kammerdiener
in königliche Dienste und wurde dann preussischer Offizier, doch er machte für
sein weiteres Auskommen wenig Gebrauch von seiner Abstammung.
FINANZ-ALCHEMIE
ODER DIE „NIHILISTISCHE GELDSCHÖPFUNG“. In London verkaufte sich am 1.März 1711
die Erstausgabe der täglich bis Ende desselben Jahres erscheinenden Zeitung
„The Spectator“. Sie wurde zu einer der bedeutendsten Initialzündungen der
frühen Aufklärung. In ihren Ausgaben publizierten unter anderen Jonathan Swift
und Alexander Pope. Sie empfahl sich ihren Lesern als Teil des täglichen
Teegedecks. In ihrer Erstausgabe erschien ein Essai des Schriftstellers Joseph
Addison, der zu ihren Begründern gehört. David Graeber zitiert Addisons
satirische Vision in „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“. Sie sieht den
englischen König als feiste Verkörperung des „Öffentlichen Kredits“ mit der
Magna Charta über dem Haupt auf seinem Thron in Grocer‘s Hall sitzen: „Seine
Berührung verwandelt alles in Gold. Hinter ihm türmen sich mit Münzen gefüllte
Säcke bis zur Decke.“ Eine durch die Thronfolge ausgelöste Krise hat fatale
Folgen: „Die Geldsäcke schrumpfen wie angestochene Blasen. Die Berge von
Goldmünzen verwandeln sich in Lumpenbündel.“ Der Staatsschatz schrumpft durch Vertrauensverlust
und Überschuldung. Addisons Satire enthülle „die Abhängigkeit der Bank of
England (und damit des britischen monetären Systems) vom Vertrauen der
Gesellschaft in die politische Stabilität der Krone“, denn mit der
Glaubwürdigkeit des Königs löse sich auch sein Geld in Nichts auf, schreibt
Graeber und kommentiert im finanzkulturellen Kontext des 17.Jahrhunderts: „So
verschmolzen Könige, Zauberkünstler, Märkte und Alchemisten in der öffentlichen
Phantasie miteinander, und noch heute sprechen wir von der Alchemie des Marktes
und von Finanzmagiern.“
Das
Papiergeld führte der Schotte John Law als goldreicher Financier um 1720 in
Frankreich ein. Er kaufte der Monarchie ihre Schulden ab und wandelte sie in
Aktien einer Compagnie um. Dann liess er die Administration das Edelmetall als
Zahlungsmittel verbieten und die Notenpresse rotieren. Die Aktien bot die
Compagnie als langfristige Anlagen zum Verkauf an. Doch der Markt zog sie
munter in den Handel, sie verkauften sich weiter, ihr Kurs stieg und mit der
Menge des gedruckten Geldes auch die Preise der Immobilien und Lebensmittel.
Die Gewinnsucht und der Papiergeldboom beschworen eine Inflation herauf.
Derselbe
Schwindel, Druck und Ausgabe von Assignats zum Aufkauf säkularisierter
Kirchengüter, soll 1789 notfallmässig die durch die Kolonialkriege gegen
England und verschwenderische Hofhaltung aufgeblähten Staatsschulden
Frankreichs tilgen. Der königliche Finanzminister Necker, calvinistischer
Bankier aus Genf, wo Rousseau, der Vordenker der Revolution im Exil gelebt hat,
macht durch ein Rendre Compte die prekäre finanzielle Lage der Monarchie
öffentlich, hat aber weder eine staatspolitische Vision noch brauchbare
Vorschläge an die wieder einberufene Versammlung der Generalstände, wie das
Problem zu lösen wäre. Mit seiner abenteuerlichen Politik der Staatsanleihen ist
Necker ein Jahrzehnt zuvor schon gescheitert. Der König entlässt ihn. Man
entscheidet sich für Talleyrands Sanierungsplan, bietet die Kirchengüter feil,
druckt eine Menge Assignats und vermehrt sie willkürlich zu Papiergeld mit
Zwangskurs, um durch den Verkaufserlös die Schulden zu bezahlen. Doch
Spekulation grassiert, die Scheine verlieren dramatisch an Wert, eine
Hyperinflation tritt ein. Die Rettungsaktion beschleunigt mit ihren Folgen - Verarmung
und Hungeraufständen - Ende des 18.Jahrhunderts die politische Katastrophe der
Monarchie. Die Umverteilung der Macht, durch die Aufklärung ideologisch
vorbereitet, nimmt um diese Zeit bereits ihren unberechenbaren Lauf. Die
Konsequenzen des sich durch die Ereignisse faktisch vollziehenden Schuldenschnitts
und die Entartung der Revolution zur Schreckensherrschaft, sind 1789 noch kaum
vorhersehbar. Der Erfolg der finanzpolitischen Massnahme der letzten Stunde
ist, dass eine aufsteigende Klasse ihr Papiergeld zur Vermögensbildung
gesichert in Grundstücken anlegt, statt sie in die inflationäre Wirtschaft zu
investieren. Während der Adel entmachtet wird, stärkt das neue Besitzbürgertum
seine Stellung im Hinblick auf die Gestaltung der Republik nach dem Spuk des
Machtwechsels.
Die literarische Auseinandersetzung mit der Motivwelt der Alchemisten, Goldmacher und Schatzschwindler nimmt Goethe um die Revolutionszeit mit dem historischen Fauststoff auf. 1790 erscheint sein „Faust-Fragment“. Mehr als zwei Jahrzehnte später verbindet er den traditionsgeladenen Stoff in den Kaiserhof-Szenen von „Faust II“ mit der aktuellen Variante der Schatzakkumulation durch Anleihescheine und Papiergeld. 1792 erlebte er befremdet die Verwandlung der Assignats in inflationäres Notengeld im Frankreich der republikanischen Revolution. Während den napoleonischen Kriegen und der Besetzung nimmt der Weimarer Hofrat bereits die intensive Arbeit am zweiten Teil des Faustdramas auf. Die europäischen Monarchien sind zu dieser Zeit durch Kontinentalsperre, Kriegskosten, Kontributionen und Plünderung des Staatsschatzes im grossen Stil dauernd am Rand des Bankrotts. Sie erheben zur Entschuldung Vermögens- und Sondersteuern, ziehen sogar das Privatsilber ein, was Aufruhr auslöst. Während die Wirtschaft ausblutet und die Bürger verarmen, greifen die Regierungen zum riskanten Mittel von Staatsanleihen und Fremdkrediten oder drucken Papiergeld und nehmen die Inflation in Kauf. Der faktische Schuldenschnitt durch die Befreiung und die historische Wende entschädigt nicht die Bürger, sondern dient der finanziellen Sicherung der Restauration. Nur allmählich bringt die verspätete Industrialisierung im folgenden Jahrzehnt wieder Aufschwung.
Als
Beispiel der Literatur des frühen 19.Jahrhunderts zitiert Graeber anschliessend
an Addisons Spectator-Satire die berühmte Szene in Goethes „Faust II“, in
welcher der Kaiser seine Unterschrift unter einen Zettel setzt und einen hohen
Betrag als durch „gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland“
gesichert erklärt. Zu diesem „Zaubertrick“ wird er durch zwei vagierende
Besucher ermuntert. Graeber führt aus: „Der Kaiser stöhnt unter der Last
gewaltiger Schulden, die er angehäuft hat, um die extravaganten Vergnügungen
seines Hofes zu bezahlen. Faust und sein dienstbarer Geist Mephisto überzeugen
(ihn), dass er seine Gläubiger bezahlen kann, indem er Papiergeld herausgibt
und mit den ungehobenen Bodenschätzen seines Reichs besichert.“ Goethe verlegt
den politische Hexentanz und die Finanzmanipulationen seiner Zeit literarisch
ins historisch kaum greifbare Umfeld eines mittelalterlich anmutenden
Kaiserhofs und die Walpurgisnacht aus ihrem deutsch-romantischen Umfeld ins klassische
Griechenland seiner Helena-Tragödie. Der mit fürstlichen Privilegien
ausgestattete Dichter sublimiert die Realität nihilistischer Finanzpolitik und
ihrer verheerenden sozialen Konsequenzen in die Zeitlosigkeit der Mythologie
und des „ewig-menschlichen“ Dramas.
In seinen Briefen an Zelter von 1825/27 erkennt Goethe, nicht ohne Verachtung, im Anbruch des technischen Fortschritts - der sich mit seinen Eisenbahnen, Schnellposten und „aller möglichen Fazilitäten der Kommunikation“ dem Alltag aufdrängt - den Charakter einer neuen Epoche der Halbkultur, der materialistisch-mittelmässigen Gesinnung und des sich hektisch übersteigernden Tempos. Doch beim Blick auf wirtschaftliche und grosstechnische Projekte wie den Panama-Durchstich und auf das Zivilisations-Potential, welches die noch „jugendlichen“ Vereinigten Staaten durch sie in der Welt entfalten könnten, gewinnt ihm seine Schilderung sogar einen schwärmerischen Ton ab, welcher den Humanisten Goethe beinahe als einen Wegbereiter des Imperialismus denunzieren könnte. Sein „böser Genius“ Mephisto, welcher Faust nach seiner Rückkehr aus der trügerischen Helena-Vorwelt auf die zerklüftete „Oberfläche“ der Wirklichkeit wieder belästigt, bleibt indessen im Unterschied zu Chamissos grauem „Physikus“, dem aufgeklärten Teufel des kapitalistischen Financiers, ein magischer Vagant herkömmlichen Stils, dem es vor dem Geist des technischen Fortschritts im Grunde graut. „Das heiss ich endlich vorgeschritten“, prahlt Mephisto zwar, als seine Siebenmeilenstiefel wie ein Schnellzug forteilen. Aber die grenzenlos verlängerten - ihren mittelalterlichen Mauern entwachsenden Vorstädte - in denen er Faust in der folgenden Verführungsszene endlich zur Genusssucht zu verlocken hofft, bieten seinem beschränkten Sinn nicht mehr als die „Freude an Rollekutschen, am lärmigen Hin- und Widerrutschen, ewigen Hin- und Widerlaufen“ oder eben das Amüsement, in dessen Zirkel sich jede Fortschrittsvision auflöst. Mephisto ist es wohler, wenn er im mittelalterlichen Muff beim Tanz unter Geistern seinesgleichen den Pferdefuss schwingt. „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ ist zwar ein Kunstmärchen, welches das Arsenal an magischen Requisiten des Volksmärchens ausschöpft. Doch ist nicht nur die ungreifbare eiskalt-galante Gestalt des Grauen, trotz seines altfränkischen Rocks, zeitgemässer als Goethes diabolischer Gaukler mit dem Federhütchen. Auch Chamissos Konzept ist unter einem besonderen Aspekt moderner als jenes des Faust-Dramas: Es kommt überhaupt nicht zum eigentlichen Pakt unter Bedingungen, durch deren Erfüllung sich Fausts Erlösung oder die Frage um Sein oder Nichtsein im metaphysischen Sinn zur Entscheidung stellt, nämlich im Himmel - also im „Herrschafts“-Raum der mythisch-religiösen Weltordnung des „Faust-Prologs“. Vielmehr vollzieht sich durch den Verzicht Schlemihls auf den Eintausch des verkauften Schattens gegen seine Seele, mit dem er der unbedingten Verdammung entrinnt, ein Akt der Selbsterlösung im existenzialistischen Sinn, ein Akt der Befreiung zur Passion, nämlich seiner unbedingten Hingabe an die wissenschaftliche Erforschung der Erde und das Abenteuer der Weltentdeckung.
Goethes
Verklärung des amerikanischen Pioniergeists im Brief an Zelter ist wohl
Ausdruck seiner idealistischen Hoffnung, dass die junge Demokratie der
Vereinigten Staaten im Unterschied zur Alten Welt, deren Staatswesen unter der
Last vererbter Schulden in ihrer reaktionären Ordnung zu versinken drohten, fähig
wäre, eine im Geist der Humanität verfasste liberale Weltordnung zu begründen. 1776
hatten die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit erklärt. Peter Sloterdijk
untersucht im Kapitel „Von Abstammung kein Wort mehr“ (in: „Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit“) den von Jefferson, dem zweiten Präsidenten der Vereinigten
Staaten, in die amerikanische Verfassung eingebrachten „autarkistischen
Generationenbegriff“ und kommt zu einem vernichtenden Urteil über die
Finanzkultur der modernen USA. Jefferson sanktionierte im 18.Jahrhundert so
etwas wie einen Schuldenschnitt, welcher jede nachfolgende Generation von der
ihr durch die vorangehende Generation aufgebürdeten Verantwortung entband. Er
wollte, dass damit das Grundrecht jedes Menschen auf „Leben, Freiheit und
Streben nach Glück“ für immer garantiert wäre, das heisst in anderen Worten:
dass jeder Bürger in Zukunft unabhängig von Altlasten stets aufs Neue seine
Chance auf Selbstverwirklichung wahrnehmen könne. Der radikale Grundsatz
Jeffersons wollte nichts weniger als das Menschenbild der Aufklärung, wie es
zum Beispiel Kant definierte, in der Verfassung verankern.
Mit Blick auf den Zustand der Union im dritten Jahrhundert ihres Bestehens schreibt Sloterdijk: „Unter den Urhebern der amerikanischen Verfassung hatte sich keiner vorstellen können, dass ihr Land im späteren 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert durch eine über Jahrzehnte hinwegbetriebene Praxis nihilistischer Geldschöpfung in die Lage geraten würde, das Recht auf Neubeginn ausschliesslich durch einen epochalen Staatsbankrott ausüben zu können, wie er sich gegenwärtig durch die Überschuldung des amerikanischen Bundesstaates ankündigt - obschon es so gut wie undenkbar scheint, er dürfe je vollzogen werden. Niemand vermag vorherzusagen, ob den Bewohnern der Vereinigten Staaten im 21.Jahrhundert die Trennung von ihren Gläubigern - den monetären Erinnyen - so leicht gelingen wird wie seinerzeit die Losreissung von der britischen Krone.“ Versteht Sloterdijk unter der „Trennung von den Gläubigern“ die Überwindung der Schuldenkrise durch die „Losreissung“ von Wallstreet oder von weltweiten monetären, wirtschaftlichen und besonders kostspieligen militärischen Verpflichtungen der heutigen Grossmacht? Die Antwort ist offen. Die radikale Entschuldung durch einen solchen Akt wäre mit Blick auf die weltgeschichtlichen Konsequenzen zweifellos kompliziert. Analoge Fragen kann man mit Bezug auf die inneren Probleme der Europäischen Union stellen, welche sich zum Beispiel mit dem jüngsten Beschluss der EZB, durch massenhaften Anleihekauf die Gefahr einer Deflation abzuwenden, erheblichen Risiken aussetzt. Auf dem Spiel stehen immerhin mindestens 600 Milliarden EURO. Welche Idee wäre in die zukünftige EU-Verfassung einzubringen, um Recht und Chance der Länder auf ihre Selbstverwirklichung und zugleich die sozialen Menschenrechte aller Bürger zu garantieren?
Mit Blick auf den Zustand der Union im dritten Jahrhundert ihres Bestehens schreibt Sloterdijk: „Unter den Urhebern der amerikanischen Verfassung hatte sich keiner vorstellen können, dass ihr Land im späteren 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert durch eine über Jahrzehnte hinwegbetriebene Praxis nihilistischer Geldschöpfung in die Lage geraten würde, das Recht auf Neubeginn ausschliesslich durch einen epochalen Staatsbankrott ausüben zu können, wie er sich gegenwärtig durch die Überschuldung des amerikanischen Bundesstaates ankündigt - obschon es so gut wie undenkbar scheint, er dürfe je vollzogen werden. Niemand vermag vorherzusagen, ob den Bewohnern der Vereinigten Staaten im 21.Jahrhundert die Trennung von ihren Gläubigern - den monetären Erinnyen - so leicht gelingen wird wie seinerzeit die Losreissung von der britischen Krone.“ Versteht Sloterdijk unter der „Trennung von den Gläubigern“ die Überwindung der Schuldenkrise durch die „Losreissung“ von Wallstreet oder von weltweiten monetären, wirtschaftlichen und besonders kostspieligen militärischen Verpflichtungen der heutigen Grossmacht? Die Antwort ist offen. Die radikale Entschuldung durch einen solchen Akt wäre mit Blick auf die weltgeschichtlichen Konsequenzen zweifellos kompliziert. Analoge Fragen kann man mit Bezug auf die inneren Probleme der Europäischen Union stellen, welche sich zum Beispiel mit dem jüngsten Beschluss der EZB, durch massenhaften Anleihekauf die Gefahr einer Deflation abzuwenden, erheblichen Risiken aussetzt. Auf dem Spiel stehen immerhin mindestens 600 Milliarden EURO. Welche Idee wäre in die zukünftige EU-Verfassung einzubringen, um Recht und Chance der Länder auf ihre Selbstverwirklichung und zugleich die sozialen Menschenrechte aller Bürger zu garantieren?
ZUM SCHLUSS
Mutmassungen haben Konjunktur. Wir stehen zwei Jahrhunderte nach der Romantik und der politischen Neuordnung von 1815, ein Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der grossen Monarchien, siebzig Jahre nach einem unvollendeten Sieg über den Faschismus und fast dreissig Jahre nach dem Sieg der sogenannt freien Marktwirtschaft über den sozialistischen Totalitarismus in der unabsehbaren Dialektik der Geschichte nach aller Wahrscheinlichkeit in einer weiteren Wende.
Die
KEHRSEITE DES MONDS könnte ein Symbol für die Entdeckung eines alternativen
Sehhorizonts sein, welcher den Blick auf den gesellschaftlichen Zustand
verfremdet und den Irrationalismus sich selbst zusehends in blinder
Unselbsttätigkeit eingrenzender Systeme durchschaubar macht. Es geht um das
Wagnis, aus ihrem labyrinthischen Zwang wieder zur Selbsttätigkeit
herauszufinden, um den Mut - etwa im Sinn der Gestalttheorie - die Wahrnehmung
für die Offenheit der Welt, die Fantasie und die eigene Körperlichkeit zu
sensibilisieren. Auch das reflektierte Vergnügen für den Einfallsreichtum guter
Werbung zu trainieren, ja, ihr ohne falschen Vorbehalt ihren legitimen Platz in
der Kultur zu reservieren. Unvermeidbar ist es allerdings bei möglichst weitgefasster Toleranz kritisch sehen zu lernen! Zu durchschauen - etwa: die Vorspiegelungen einer sich in rücksichtsloser Übersteigerung
widersprüchlicher Theorien verwirrenden Finanzökonomie; den Immobilismus eines
sich unter Konkurrenzdruck im Kreiselverkehr technologischer Übersteigerung
totlaufenden Automobilismus; die Übersättigung durch Überfluss, durch eine
Masse an Produkten, die wir nicht wirklich brauchen oder die unsere Gesundheit
ruinieren. Und mit dem nötigen Scharfblick verstehen zu lernen die Logik des Zusammenhangs zwischen Wachstum und Wahn: die Paradoxien zwischen dem Anspruch auf mehr Sicherheit/Wert und Verlust; zwischen dem Anspruch auf mehr Zeit und sinnloser Temposteigerung; zwischen dem Anspruch auf
mehr Raum und Schrumpfung.
ZEIT!
Statt die auf der Erde für gültig erklärte Chronometrie, welche unsere
Aktivitäten steuert, auf den Mond zu projizieren, wäre das Experiment eher an
der Zeit, wieder zu begreifen, dass auf dem Mond eine ganz andere Zeit gilt.
Eine Zeit, für die wir nicht einmal einen Namen, geschweige denn einen auf
Erfahrung gegründeten Begriff haben. EWIGKEIT ist zu einem Euphemismus
verkümmert, zumal die Aufklärung die damit verbundenen Schrecken samt ihrer
Alternative sublimiert hat. Die Kirche hat das eine bis heute nie verdammt und
stellt das andere immer noch in Aussicht. Die Physik revidierte durch
fortwährend erweiterte Hypothesen den zum Klischee gewordenen Begriff. Ob sie
die Zeit als Pfeil oder mit Einstein als eine Illusion erklärt, sie löst das
alte Dilemma des Determinismus, welches neuerdings die Hirnforschung aufgreift,
weder durch die eine noch die andere Hypothese und bietet für das
traditionsbelastete Wort Ewigkeit keinen bequemen Ersatz. Die Liste der
Literatur zur Frage was Zeit sei ist endlos. Ein Beweis für die Popularität der
Frage.
Vielleicht
ist angesichts der Einbildung, die Zeit durch Tempoübersteigerung zu vernichten
die Selbstbescheidung angemessen, welche sich im Epigramm des Cherubinischen
Wandersmanns vom 17.Jahrhundert eingetragen hat: „Du selber machst die Zeit:
das Uhrwerk sind die Sinnen; hemmstu die Unruh nur, so ist die Zeit von hinnen.“ Augustinus erkannte in einer
Zeit zunehmender politischer Auflösung: „Es ist seltsam: Die Menschen klagen
darüber, daß die Zeiten böse sind. Hört auf mit dem Klagen. Bessert euch
selber. Denn nicht die Zeiten sind böse, sondern unser Tun. Und wir sind die
Zeit.“
DER
LÄUFER. Wer mit der Uhr im Kopf durchs Leben rennt und ausruft „Hoffentlich
verpasse ich nichts!“, der verpasst alles. Er gleicht dem Läufer, der es nie
schafft, die Schildkröte zu überholen, weil sich beim entscheidenden Schritt
die Zeit komprimiert, die Sekunde sich in unendlich viele Bruchteile teilt. In
diesem schwindelnden Zeitraffer versäumt er den Lauf abzubrechen, tief atmend
still zu stehen und zu spüren, dass die Schildkröte ihn mit ihrer Nase sanft am
Fussknöchel stupft und zu ihm hochschaut. Lewis Carroll, der sich als
Mathematiker mit dem Schildkröten-Exempel Zenons auseinandersetzte, schuf in
seiner Fabelwelt die Gestalt des Wettläufers im Hasen, welcher am Anfang seines
berühmten Buchs mit der Taschenuhr in der Pfote vorüberrennt und klagt, er
komme zu spät, er komme zu spät! Der Hase läuft auf seinen Läufen davon,
verschwindet im Erdloch (wo die Abenteuer der Alice beginnen) und – verrennt
sich im Ganglabyrinth, welches Generationen seiner Vorfahren vor ihm unter der
Erde gegraben haben.
NICHTS
ALS EINE SATIRE. Eine Bank schliesst eine Wette auf den Aktienkurs der
Rückseite des Monds ab und verbucht ihren Gewinn im Vorwissen darauf, dass dort
im nächsten Jahrhundert nichts zu holen ist. Sie schliesst für ihren Klienten samt
einer Lebensversicherung noch eine Ertragsrisiko-Versicherung auf Lebenszeit ab
und akkumuliert aus dem Nichts einen Gewinn auf Raten ohne einen Cent in den
Mond zu investieren. Sie investiert in die Werbung, welche den Zauber schafft,
dass der Glaube nicht nachlässt, dass auch auf dem Mond in nützlicher Zeit
Kapitalwachstum zu holen ist, obschon es auf der Erde auch weiterhin 85% der
Menschen an Kaufkraft fehlt. Es gibt übrigens in der Welt immer einen
privilegierten Horizont, wo sich die Rhetorik der Swiftschen Akademie tummelt
und - von hervorragenden Ausnahmen abgesehen - im Genuss ihrer Medienpräsenz
brillant das virtuelle Bewusstsein der Fakten pflegt.