Montag, 11. November 2019

Aufsteiger und Revolutionär: Zwei Lebensgeschichten zur Zeit der Zürcher Regeneration





AUFSTEIGER UND REVOLUTIONÄR: DAVID SPRÜNGLI UND GEORG BÜCHNER



Die Schweizer Kantone hatten hatte schon 1803 den Zentralismus der helvetischen Republik abgeschafft und mit der Zustimmung des Revolutionskaisers die föderalistische Tradition erneuert. 1815, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft, richteten sie ihre alte Souveränität und das Ancien Regime mit geringen Modifikationen wieder auf. Untertanenlande blieben zwar aus dem Bestand gestrichen, nicht aber die Untertanenverhältnisse, denn die im konservativen Geist restaurierten Verfassungen hoben unter Berufung auf eine gottgewollte ständische Ordnung die Rechtsgleichheit der Revolutionszeit wieder auf.

Die französische Julirevolution von 1830 gab den Anstoss zur Regeneration. Der Liberalismus erlebte in der Mehrheit der Stadtkantone und in allen während der Helvetik neu gebildeten Kantonen einen vorerst auf Widerruf gestellten Durchbruch. In der gewerbefleissigen, politisch fortschrittlich-liberalen Landschaft Zürichs versammelten sich die aufgewühlten Untertanen 1830 in Uster und setzten gegen die „gnädigen Herren“ des städtischen Regiments die Forderung nach einer zu ihrer Stärke proportionalen Vertretung durch. Das allgemeine Wahlrecht öffnete ihnen den Eintritt in den gesetzgebenden Grossen Rat und indirekt in die Regierung.



David Sprüngli: Der Aufstieg des ehemaligen Untertans

Die Schweizer Kantone hatten hatte schon 1803 den Zentralismus der helvetischen Republik abgeschafft und mit der Zustimmung des Revolutionskaisers die föderalistische Tradition erneuert. 1815, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft, richteten sie ihre alte Souveränität und das Ancien Regime mit geringen Modifikationen wieder auf. Untertanenlande blieben zwar aus dem Bestand gestrichen, nicht aber die Untertanenverhältnisse, denn die im konservativen Geist restaurierten Verfassungen hoben unter Berufung auf eine gottgewollte ständische Ordnung die Rechtsgleichheit der Revolutionszeit wieder auf.

Die französische Julirevolution von 1830 gab den Anstoss zur Regeneration. Der Liberalismus erlebte in der Mehrheit der Stadtkantone und in allen während der Helvetik neu gebildeten Kantonen einen vorerst auf Widerruf gestellten Durchbruch. In der gewerbefleissigen, politisch fortschrittlich-liberalen Landschaft Zürichs versammelten sich die aufgewühlten Untertanen 1830 in Uster und setzten gegen die „gnädigen Herren“ des städtischen Regiments die Forderung nach einer zu ihrer Stärke proportionalen Vertretung durch. Das allgemeine Wahlrecht öffnete ihnen den Eintritt in den gesetzgebenden Grossen Rat und indirekt in die Regierung.

1836 erwarb der Geselle David Sprüngli aus Andelfingen nach dem Hinschied des Stadtzürcher Ratsherrn Ludwig Vogel von dessen Witwe die Zuckerbäckerei seines Lehrmeisters und gründete die Confiserie Sprüngli und Sohn. Das Geschäft war an der Marktgasse über der blauen Limmat vorzüglich gelegen. Die Rathausbrücke verband nur wenige Schritte entfernt im Zentrum der Altstadt das rechtsufrige Zürich mit der Fraumünsterseite und der Neustadt am Schanzengraben.  1845 nahm Sprüngli - im Zug seiner Zeit - die Produktion von Schokolade auf. Van Houtens hydraulische Presse trennte die Kakaokomponenten Butter und Pulver. Konnten sich bisher  nur Aristokraten den von Apothekern angebotenen exotischen Kakao leisten, so ermöglichte die industrielle Revolution die Herstellung der Tafelschokolade als raffiniertes Massenprodukt. Sprüngli und Sohn bauten auf diese Errungenschaft die Zukunft ihres Unternehmens. Der ehemalige Untertan war arriviert. David Sprüngli wurde schon 1838 von der Stadt eingebürgert und in die Zunft der Schifferleute aufgenommen.

1859 eröffneten Vater und Sohn das bald berühmte Etablissement am Paradeplatz. Einen klassizistischen Bau, von zeitgemäss nüchtern-puritanischer Ästhetik, durchaus zürcherisch, doch von imponierender Dominanz. Der Zuckerbäckerpalast der Gründerzeit fand seinen angemessenen Platz in der Neustadt, wo sich die arrivierte Gesellschaft zur Selbstdarstellung bei Kakao, Kaffee und Schokoladekuchen einfand. Die Bundesbahn errichtete zwar wenig später ihren weltverbindenden Prachtbau nicht, wie man spekuliert hatte, am Paradeplatz, doch liessen sich am nobelneuen Bahnhof-Boulevard, der den Bahnhof mit dem Platz verband, die Juweliere, Kürschner und Seidenhändler, später auch die Grand Magasins nieder und das à la mode gekleidete Volk verkehrte lieber da als in den engen Altstadtgassen. Die Financiers begründeten in der modernen City den Aufstieg Zürichs zum Bankenplatz. Leu und Bär hiessen die Dynastien angesehener Privatbankiers. Die Confiserie am Zürcher Corso fand sich bald in bedeutendster Gesellschaft, bauten doch die zwei mächtigen Kreditinstitute der Industrialisierung, die Kreditanstalt und die Bankgesellschaft, ihre herrschaftlichen Hauptsitze um den Paradeplatz, welcher durch ihre Präsenz sowie den Prachtbau des Hotel Baur mit seinen jonischen Säulen erst in seiner grossstädtischen Gestalt entstand.

1899 wurde die Schokoladefabrik in Kilchberg in die Aktiengesellschaft Chocolat Sprüngli umgewandelt. Sie kaufte die Manufaktur der Berner Sippe Rudolphe Lindt und mit dieser das Geheimnis des Conchierens. In der Fabrikationsgemeinschaft Lindt & Sprüngli wurde die „chocolat fondant“ produziert, welche sich als Markenzeichen schweizerischer Errungenschaft im Reich der süssen Gaumenfreuden Weltgeltung eroberte. Heute agiert die Firma auf dem globalen Markt.


Georg Büchner: Der frühe Tod des revolutionären Dichter-Asylanten in Zürich

Unweit der Marktgasse, wo die Chocolatier-Dynastie Sprüngli 1836 in der Zürcher Altstadt ihren Aufstieg begründete, nur gerade über die Münstergasse um die Ecke, betritt man die Spiegelgasse, die damals noch Steingasse hiess. Dort bezog im Herbst des gleichen Jahres der deutsche Emigrant Georg Büchner ein bescheiden möbliertes Zimmer im Wohnhaus des Regierungsrats und Arztes Hans Ulrich Zehnder, in welchem er im Februar 1837 innert zweier Wochen im Alter von 24 Jahren am Typhus starb.

Jenseits der Grenzen seiner deutschen Heimat, im elsässischen Strassburg, studierte Büchner 1831/32 Medizin und kam im verhältnismässig liberalen Milieu der Stadt wohl auch in Kontakt mit Kreisen, welche gegen das korrupte „Bürgerkönigtum“ in Frankreich agitierten. In die unerträgliche politische Enge des Grossherzogtums Hessen heimgekehrt schrieb er: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.“ Im rheinischen Duodez-Fürstentum Hessen, einer der deutschen „Däumlings“-Monarchien, wie sie Büchner ironisch bezeichnet, regieren Zensur und Geheimpolizei.

An der hessischen Landesuniversität in Giessen hatte Büchner seine Examensemester zu absolvieren. In der nordhessischen Kleinstadt machte er Bekanntschaft mit dem republikanischen Revolutionär Weidig. 1834 verfasste er eine unter dem Titel „Der hessische Landbote“ verbreitete Flugschrift, welche ihn nicht nur als republikanischen Aktivisten, sondern auch als leidenschaftlichen Vetreter des Frühsozialismus ausweist, und verschwor sich im Untergrund mit Freunden in der „Gesellschaft für Menschenrechte“ gegen das reaktionäre Regiment. Unter dem Druck gerichtlicher Vorladungen und Durchsuchungen entstand in Darmstadt, am Wohnsitz seiner Eltern, das pessimistisch gestimmte Revolutionsdrama „Dantons Tod“. Steckbrieflich verfolgt, entzog sich Büchner der Verhaftung durch die hessische Polizei und der Drohung strenger Kerkerhaft durch Flucht nach Strassburg, wo er 1835/36 seine morphologischen Studien forttrieb sowie den „Lenz“ und Entwürfe seiner bittersüssen politischen Märchensatire „Leonce und Lena“ verfasste.
Indessen bedrohte der verlängerte Arm der Fahnder die Exilhessen auch in den elsässischen Grenzgebieten. Er begann wohl noch die Arbeit am „Woyzeck“. Doch die Aussicht auf eine gesicherte Existenz bewog Büchner, sich Papiere und Empfehlungen für Aufnahme im republikanischen Zürich zu beschaffen, dessen Universität unter ihrem ersten Rektor, dem exildeutschen Naturphilisophen Lorenz Oken, zu einem „Mittelpunkt der freien Wissenschaft“ geworden war und zahlreiche politisch Verfolgte anzog. Büchner erreichte als ein Getriebener mit der ersten Fassung der Komödie und Szenen-Entwürfen des verstörenden dramatischen Fragments sein letztes Exil.

In Zürich wurde er aufgrund seiner in Strassburg entstandenen Dissertation über die Schädelnerven der Barben promoviert und mit einem Unterrichtspensum an der gerade drei Jahre zuvor feierlich gegründeten Universität betraut. Als Privatdozent begann er im November mit philosophischen Vorlesungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Seine Erkenntnisse demonstrierte er vor seinen wenigen Zuhörern an selbst hergestellten Präparaten. Büchner lebte in Zürich nach Zeugnissen von Landsleuten sehr zurückgezogen, hatte nur wenige enge Kontakte zu Exildeutschen, von denen er einige von Hessen und Strassburg her kannte, und enthielt sich bewusst jeglicher politischer Aktivität. Die zweite Fassung von „Leonce und Lena“ entstand im September. Im Winter arbeitete er wohl neben seinem Pensum hauptsächlich an den „Woyzeck“-Szenen. Unter der Belastung der Flucht, dem Druck der Arbeit zur Sicherung seiner Existenz und der Herausforderung seines literarischen Ehrgeizes erschöpfte sich wohl seine Widerstandskraft und er erlag am 19.Februar 1837 der Ansteckung durch den in hygienisch unzulänglichen Verhältnissen lauernden Virus.


Das grossfürstliche Regiment: Büchners Gleichnis obrigkeitlicher Selbstgerechtigkeit

1834 hatte Friedrich Ludwig Weidig die von Büchner entworfene Flugschrift in entschärfter Fassung unter dem Titel „Der hessische Landbote“ verbreitet.  Büchner hatte in seiner ebenso wortgewaltigen wie wirkungslosen Flugschrift die rechtlose, unter der Steuerlast und schwerer Arbeit Not leidende Mehrheit der Bevölkerung Hessens aufgerufen,  sich gegen ihre gut gemästeten Staatserhalter, die verlogene grossherzogliche Regierung, ihre Ordnungsmacht und ihre Günstlinge zu erheben, sobald der Herr sie „durch seine Boten und Zeichen ruft“. Mit dem Zusatz stützt Büchner die Vermessenheit auf einen höheren Willen ab, an den er selber nicht mehr glaubt. Er ist für das durch Religion in ergebener Unmündigkeit gehaltene Volk gedacht. Eine Konzession nicht an die Religion als Erziehungsmittel der Herrschenden, sondern an die ererbte Frömmigkeit der Menschen, welche sich auf ihre Volkspropheten - die „Männer Gottes“ - besinnen sollen, durch welche Gott seinen Willen offenbart.

Die realpolitische Kausallogik, welche die Fälligkeit der Revolution in seinem Sinn begründet, fasst Büchner zunächst durch den markanten Satz: „Die Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde.“ Darauf giesst er sie in die Form eines einprägsamen Gleichnisses. Er karikiert das obrigkeitlich gelenkte Staatswesen als eine Theatermaschinerie, welche sich quasi-automatisch in Selbstbewegung hält, indem seine durch Steuergelder ernährten Repräsentanten „alle zusammen“ an den Schnüren ziehen, an welchen sie als „Drahtpuppen“ aufgehängt sind. Indem seine Glieder oder sein Personal - der „grossfürstliche Popanz“ und die Favoriten, Minister, Räte, Richter, Sekretäre, Bediente, Kutscher, Offiziere, Polizisten, Schergen - raffiniert miteinander verhängt ihre vorbestimmten Rollen spielen,  erscheint das monarchische Regiment als ein nutzlos seinen eigenen Zwecken dienender gesellschaftlichen Überbau, als ein wohl funktionierendes Blendwerk. Es ist  daher ein Verhängnis im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. Das Bild zieht sich in Varianten durch Büchners Werk. Es enthält im Kern seine pessimistische Weltanschauung und verweist auf ein Leitmotiv seiner zwei Jahre später entstehenden Komödie „Leonce und Lena“, welche der Dichter-Asylant vor seinem Tod neben seinen Studien und Seminaren in Zürich abschliesst.


Die „liberale“ Perversion: Frankreichs „Juste Milieu“ oder  als der Bürger zum König wurde

In Frankreich begünstigte das konservative Regime Karls X. durch den Wahlzensus den Grossgrundbesitz. Als der bourbonische Monarch ein ultraroyalistisches Ministerium berief und das Wort in autokratischer Manier der Zensur unterwarf,  brach in der Kammer der Verfassungskonflikt aus. Im Augenblick ordnungsstaatlicher Schwäche erhoben sich in Paris 1830 die Arbeiter, Studenten und Kleinbürger, errichteten Barrikaden und erkämpften die Abdankung des Königs. Doch die als sozialanarchisch verschriene „Basisrevolution“ wurde rasch durch politisch versierte Vertreter des liberalen Grossbürgertums abgedrosselt und umgedreht.

Die neue französische Konstitution reservierte das aktive und passive Wahlrecht für einen Prozentbruchteil von 190'000 Bürgern durch einen selektiven Zensus nach ihrem Vermögensstand. Der Trikolorefürst aus dem Haus Orleans, den die Einflussträger inthronisierten, verdankt seine beschränkte Macht also im Prinzip der Souveränität einer verschwindenden, aber einflussreichen Minderheit des Volks. Der „Bürgerkönig“, wie er in Anbiederung an eine unsichere Mehrheit hiess, regierte dennoch höchst souverän, weil der Staatshaushalt nicht durch eine allgemeine Steuer, sondern bequem durch Anleihe-Emissionen finanziert wurde. Louis Philippe, der mit seiner Rolle in keinerlei Standeskonflikt geriet, war gemäss Toqueville dem Nützlichen zugewendet. Er vertrat das Interesse der Industrie. Selber schwerreich, war er in seinen Veranlagungen und Zielen kein Angehöriger des Adels, sondern die ideale Verkörperung des aufstrebenden Bürgertums. Konsequent übertrug er in dessen Sinn und Interesse die Herrschaft auf die Finanzaristokratie, welche die Grossgrundbesitzer als staatstragende Macht ablöste.

Als die Revolution von 1789 zur Schreckensherrschaft entartet war und auch Dantons Kopf forderte, hatte der Revolutionsführer - der Titelheld von Büchners Drama - ausgerechnet Louis Philippe, dem Sohn Philippe „Egalités“, prophezeit, dass seine Herrschaft die Revolution beenden und „jeder Bürger König sein werde unter einem König, der ein Bürger“ wäre. Die Erschütterung über die Tyrannie der Revolution war 1830 verwunden und das Revolutionskaisertum hatte die alte ständische Welt in eine neue Form umgegossen. Die bevorrechtete Elite dachte im Grunde nach wie vor ständisch, obwohl sie nicht die Legitimität eines Standes, sondern nur das überhebliche Bewusstsein einer sich absondernden neuen Klasse besass. Doch sie war urban, gewandt und organisatorisch fähig, sich der Mittel zu bedienen, welche der Aufbruch der industriellen Revolution ihnen in die Hand spielte.

In der Durchsetzung ihrer Ziele waren sie nur allzu begabt. Sie fanden sich leicht in ihrer Rolle. Das traditionelle Gehabe der Macht kaschierte gefällig die Mittel, welche der Zweck des schwindelnden Aufbruchs heiligte. Und der Fortschritt bestach. Zur politischen Utopie der Aufklärung war jetzt, zur Zeit des Hochkapitalismus, eine neue getreten: dass nämlich der Wohlstand generierende industrielle Fortschritt, der sich grossspurig anbahnte, die gleichmachende Kraft sei. Das war der Trumpf der neuen Elite, die ihn aufgleiste und vorantriebe, das Tatargument, das ihren Anspruch legitimierte, ihr die verlorene Weihe lieh.  

Der Alamode-Wechsel der Aktualitäten, welche die Öffentlichkeit in Bann zogen, und der Opportunismus der grossbürgerlichen Akteure - verbreitete Geldgier, Machtanmassung und Menschenverachtung - setzten allerdings den Zunder in die Köpfe der sozial benachteiligten, politisch rechtlosen Mehrheit der Bevölkerung. Der König hatte den Grossbankier Périer zum Premierminister berufen. Der Hungeraufstand der Lyoner Seidenweber im November 1831 wurde auf sein Betreiben von einer zu diesem Zweck bewaffneten Bürgerwehr niedergeschlagen und die Gerichte verhängten drastische Strafen. Périers Nachfolger verhängten die Zensur. Sie unterdrückten den politisch motivierten Pariser Aufstand der Arbeiter und republikanischen Studenten im Juni 1832 und die weiteren Revolten in Paris und Lyon 1834 genauso konsequent und gewaltsam. Unruhen im Stil der Maschinenstürme waren weit weniger gefährlich. Attentate überlebten der König und der verlogene Mythus glücklicher Bürgerherrschaft mit Glück. Aber das liberale Ideengut der Aufklärung war nun Allgemeingut geworden. Die Utopie und die Erfahrung realen Unrechts stärkte unter den Gedemütigten die Gewissheit, dass die Ungleichheit des sozialen und politischen Status nicht als gottgewollte Kondition hinzunehmen war. Der Stoff mottete in den Köpfen, wurde in den geheimpolizeilich verfolgten Geheimgesellschaften ausgebrütet und liess sich in der krisen- und katastrophenanfälligen kommenden Zeit nicht mehr exstinguieren
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Der politische Literat und spätere Premier Guizot forderte die Allgemeinheit auf, sich durch Arbeitsfleiss Wohlstand zu erwerben, um sich aus eigener Kraft in den Genuss des ihr durch den Zensus vorenthaltenen Wahlrechts zu setzen. Die Volksmeinung verdichtete die ministeriale Ermunterung wohl auf das geläufige Schlagwort: „Enrichissez-vous!“ Mit Grund bezog die erdrückende Mehrheit der politisch Rechtlosen die Parole spöttisch auf die bevorrechtete Minderheit, welche ihren politischen Status clever nutzte, um sich am Sozialprodukt zu bereichern.

Das verstand die Obrigkeit in Frankreich unter dem „juste milieu“: nämlich den idealen Schnitt zwischen Absolutismus und Demokratie in Form eines zwar als „gerecht“ bezeichneten, aber bloss als opportun betrachteten Zugeständnisses an die Reichen zur politischen Teilnahme am prosperierenden Staatswesen. Die Teilnahme wurde von der Oberklasse als Gelegenheit genutzt, sich Ämter und wirtschaftliche Vorrechte zu verschaffen, um das industrielle Wachstum zu fördern, dabei allerdings auch  weidlich ihr Selbstinteresse zu bedienen.