Freitag, 9. Dezember 2011

Die Bank und die junge Schöne im Kokon


                                     
 

                                                              Bankwerbung mit Fokus auf die Occupy-Bewegung?






Diskrete Lebensberatung


„Neue Lebensabschnitte beginnen: Wir sind an Ihrer Seite“, lautet der Slogan der Zürcher Bank mit dem blauen Pfeilsignet. „Die nahe Bank“ reicht dem Kunden ihre Hand.

Sie empfiehlt ihren Beraterservice mit Grund. Der Binnenverkehr rauscht an der Filiale vorbei durch die City. Der Blick durch die stilvollen Parterrefenster der fest verankerten Institution bestätigt: Alles ist im Fluss. Doch die Scheiben dämmen den Lärm. In der Stille des Bank-Foyers fühlt sich der Kunde aufgehoben. „Nichts im Leben ist so konstant wie die Veränderung. Schön jemanden zu haben, auf den man immer zählen kann“, versichert die klein gedruckte Fusszeile der Kampagne. Der sinnstiftende Aphorismus flösst Vertrauen ein.

Die Beraterin im Bild hat das schmiegsame Polster der Sitzbank an der Fensterleibung hochgezogen. Entspannt legt sie den rechten Arm auf die so geschaffene Lehne. Während sie in ihrer Latte Macchiato rührt, wirft sie einen aufmunternd-mokanten Blick auf die Teenagerin. Diese nimmt gerade mit einer unglaublich komplizierten Hockverrenkung auf der Fensterbank gegenüber Platz.

Wie geht das zu? Den rechten Fuss stellt sie auf die Sitzkante hoch und langt zugleich mit dem gestreckten Arm am Knie vorbei, um die Kaffeetasse auf dem sprerrigen Tisch heranzuziehen. Dabei rutschen Ärmel und Taille ihres oliven Merino-Jäckchens hoch, ebenso die Stösse ihrer pinkfarbenen Hose. Überlang aufgeschossen scheint sie ihren Kleidern fast um ein Jahr entwachsen.

Das Outfit der jungen Dame ist weder pop noch brav. Sie trägt eher Homewear als Streetwear, etwas schobel, ziemlich abgetragen. Ihre verbleichten Velour-Pants sind kein bisschen trendy. Sie wirkt etwas gestresst und verklemmt. Vielleicht demonstriert sie die heimliche Obstination, sich nicht zu früh als erwachsen profilieren zu wollen. Ihre gar nicht hipe Schultertasche mit dem ganzen Schulmuff dürfte sie am Vorabend unters Bett geschmissen haben. Heute liegt sie verloren auf der Fensterbank im Kaffe- und Kuschelwinkel des ehrwürdigen Foyers.

Vielleicht kann man es auch anders sehen: Ihr lockeres Outfit ist durchaus im Trend. Ihre Sitzhaltung und Miene wirken snobbish, verwöhnt und desinteressiert. So betrachtet sitzt sie jedenfalls auf eine saloppe Weise in Halbhocke. Oder wie auf dem behaglichen Sofa vor dem Fernseher stinknormal  - was liegt denn an der Haltung? So sicher kann man sich da ja nicht sein. 

Zwar kommt die Studentin nicht im adretten College-Stil daher und trägt auch sonst keinen besonders edeln Zwirn. Trotzdem suggeriert das Bild keinen triftigen Grund gegen die Annahme, dass sie aus gutem Haus stamme und das Institut die Haus- und Vertrauensbank ihrer Familie sei. Was will die Inszenierung? Sie soll eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen, soll wohl kommunizieren, dass sich die junge Kundin in der heimischen Bank wie zuhause fühlen darf. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Bank profitabel das Vermögen ihrer Eltern verwaltet. Sie teilt wohl ihre Pläne und Sorgen mit professioneller Diskretion. Auch die um die Zukunft ihrer Kinder.

So einfühlsam finanziell abgepolsterte Zuwendung, wie sie das Töchterchen in Verhältnissen erfährt, welche man mit Blick auf globale Fluktuationen als situiert bezeichnen darf, erläutert der zitierte Aphorismus anschaulich genug. Die Bank spielt mit ihm und dem Bild so diskret wie treffend auf ihre nicht ganz interesselose Rolle als Beraterin an, welche sie unbedingt als „private“ sprich „praivit“ versteht. Gegenüber der Teenagerin spielt sie die freundschaftlich-mütterliche Rolle. Finanzberatung ist in ihrem Fall als Lebenshilfe angesagt, weil sie - der Schluss sei gestattet - im Frühling mit dem Hochschulstudium einen neuen Lebensabschnitt antritt. Die Werbefirma inszeniert den Auftrag im Bild dieser Kampagne gekonnt.

Die Bank ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Seriöse persönliche Beratung ist umso dringlicher, als die Turbulenzen im globalen Verkehrsfluss der Werte selbst die als unverrückbar geltenden Konstanten der Finanzwelt erfasst haben und inzwischen viel Vertrauen zerbrach.



Not so fun time – die Zeiten sind nicht so lustvoll


Die aktuelle Krise ist nachhaltig. Als Kreaturen der Modewerbung sind die körnig fotografierten Outcasts, die melancholischen oder zornigen Rebellen der Suburbs zwar nicht erst eine Erfindung der Krise, aber ein cleverer Griff (manche würden sagen: ein attraktiver Bluff) zur Vermarktung des Label-Glams in ihren munteren Wellenhochs. In der Mode dieses Herbsts ist übrigens der Retro-Glam des Krisenjahrzehnts von 1930 top.

Welche Rolle spielt aber, gerade im Blickfang der Bankwerbung, die hübsche blasse, etwas verkrampft wirkende Tristesse?

Wir beamen die Szene aus der Kuschelecke des Bank-Foyers in ein besseres Zürcher Appartement und verwandeln die Bankberaterin in die Mutter. Das geht ohne Retuschen locker vonstatten. Beim Umzug ist nicht einmal die uniformblaue Bluse zu tauschen! Einzig der blaue Rahmen des Pfeilsignets um die Polsterkante ist zu löschen. Die Tochter - diese Rolle spielt sie nun ohne dass sich ihrer Erscheinung um eine Nuance verändert - ist im Wohnzimmer in einen intimen Dialog mit der Mama vertieft. Wir hören mit und finden heraus, was unentfaltet in ihr steckt:
 

Der kollegiale Mutterblick scheint ein Geständnis zu erwarten, während Haltung und Ausdruck der Tochter den Zwiespalt zwischen Abwehr und Bedürfnis nach Rat signalisieren.


Mutter (M):  Marc organisiert also diese Demo. Und die wochenlangen Sit-ins vor der UBS. Und du machst da mit?

Tochter (T):  Klar. Ich schwänze dafür keine einzige Unterrichtsstunde. Unsere Ablösung ist gut organisiert.


M: Aber abends bist du auf dem Paradeplatz. Auch etwa nachts und an den Wochenenden? Kannst du dir das leisten?

T:  Mein Schnitt ist nicht so toll. Aber die Sache ist wichtig. Jetzt! Ausserdem hilft mir Marc jede freie Minute.

M:  Und wie du dann schläfst? Bist du dir im Klaren, worauf du dich einlässt? Doch nicht etwa weil Marc die Sache so wichtig ist. Juste maintenant, Jaqueline! Jetzt kommt die Maturarbeit. Im Frühling die Prüfung. Willst du die Schule schmeissen? Deine Karriere aufs Spiel setzen?

T:  Mama, du willst ja nur das Beste für mich und - dass ich das erkenne. Tu ich ja! Doch - schliesslich muss ich selber herausfinden was ich will. Das muss ich doch lernen: Präferenzen setzen, dem Druck gewachsen sein. Und - mich entscheiden, wenn ich mehr als bloss verknallt bin.

M:  Liebst du Marc?

T:  Ja.

M:  Er ist dein Lover. Vielleicht überforderst du dich. Aus Liebe.

T:  Mama, kannst du wollen, dass ich mich schuldig fühle? Ist es „das Beste“, das du für mich willst?

M:  Das verstehe ich nicht. Von Schuldgefühlen ist doch nicht die Rede. Es geht um die Sache. Um deine Zukunft.

T:  Wenn ich hingehe, an die Demos, wenn ich die Sit-ins durchhalten will, ob aus Überzeugung oder weil ich Marc liebe, auch darum liebe, weil er etwas tut - beides gilt, ich schwör’s! - muss ich mich dann schuldig fühlen? 

M:  Wieso?

T:  Wenn ich deine Vernunftgründe ausschlage, meine Karriere aufs Spiel setze, wie du sagst, dann verrate ich meine Liebe zu dir, deine Sorge um mich!

M:  Hast du das gemeint, gestern Abend, mit dem komischen Satz von Liebe und Schuld?

T:  Nein, ich habe ihn immer allgemein verstanden. Bezogen auf die Überschuldung und die Verantwortung der Grossbanken.

M:  Was hat denn das Geld mit der Liebe zu tun?

T: Weißt du, der Satz sagt ja etwas aus über das System. Aber jetzt spüre ich deutlich, dass er das Ganze meint, also unsere Beziehung einschliesst - dich und mich. Auch Papa.

M:  Wie? Erklär mir das!

T:  Ihr wollt, dass ich nach der Matur studiere. Papa meint, Jus sei das Beste für mich. Du kannst dir auch Kunstgeschichte denken.

M:  Ja, das kann ich, weil ich spüre, dass du mehr Sinn für das Schöne als für Ordnung hast.

T:  Für mein Studium wollt ihr mir ein Konto einrichten, über das ich frei verfügen kann. Und ihr schlagt vor, dass ich mich bei der Bank zur Beratung der Studienfinanzierung anmelde.

M:  Das ist nur grosszügig. Kannst du das nicht wollen?

T:  Doch, aber ihr beide wollt, dass ich klassenbewusst einsteige, dass ich meine Vorteile wahrnehme und die Bildungskarriere mache. Dass ich statusgemäss verdiene und mich folgerichtig für den Komfort und die Sicherheit, welche der gesellschaftliche Nimbus mir aufdrängt, verschulde. Das ist die bisher anerkannte Konsequenz. Die Normaltät. Schulden halten die Wirtschaft im Fluss. Verstehst du?

M:  Das ist doch verrückt. Du hast doch deinen freien Willen. Du entscheidest über den Standart, den du brauchst!

T:  Genau. So ist es eben. Ich steige freiwillig ein. Aber eure Zuwendung verwandelt sich in Schuld. Sie sichert mir den beruflichen Status, der mich dem System verpflichtet. Graeber beschreibt, wie Gefühle sich in unpersönliche Zahlen verkehren, wie Zahlen Gewinn und Wachstum generieren und zugleich persönliche Verantwortung austilgen. Wie Geld Menschen in kalkulierte Abhängigkeit versetzt und am Ende entmündigt. Weil das, was daraus wird, unserer Kontrolle entwächst und die Grundlagen menschlicher Verhältnisse zerstört.

M:  Der amerikanische Guru. Ich habe seinen Satz vergessen, weil er abstrus ist!

T:  Das Resultat ist abstrus. Es ist die Krise. Graebers Satz erfasst ihren Kern: „Dieses System kann nur funktionieren, indem es ständig Liebe in Schulden verwandelt.“

M:  Dann funktioniert es ja eben nicht. Das hängt doch nicht vom System, sondern von uns ab. Wie wir mit unseren Gefühlen umgehen. Und was wir mit dem Geld machen.

T.  Du meinst, das lasse sich so sauber trennen. Das ist vielleicht eine Täuschung. Das System ist übermächtig. Geld macht darin uns verfügbar, nicht umgekehrt.

M:  Noch einmal deutlich: Es kommt doch darauf an, was wir mit dem Geld machen! Du, ich. Das ist Sache der Überzeugung.

T:  Weißt du, das sagen die Top-Manager, wenn sie auf ihre Millionen-Einkommen angesprochen werden. Das Kapital leiht ihnen die Freiheit, zu realisieren was sie wollen. Kapital ist Macht. Und es nimmt von selbst zu. Denn es bläst sich auf. Das ist seine Eigenschaft in der Welt der komplexen Konstrukte.

M:  Auf  d i c h  kommt es an, nicht? Auf jeden Einzelnen. Ob er mit dem Geld verantwortlich umgeht. Und auf die Institutionen, welche sich um das Gleichgewicht kümmern. Du hast doch in der Betriebswirtschaftstheorie gelernt, was „Bilanz“ bedeutet!

T:  Ja.  I c h  bekomme leicht Kredit. Schon mit eurer Referenz. Doch jene, welche in die Schuldenfalle geraten sind, es sind viele, ihre Zahl nimmt zu. Wofür tragen  s i e  Verantwortung, wenn sie ihre Schuld abzahlen - und das ewig, weil sich auch die Schuld vermehrt? Und womit zahlen sie, wenn sie nichts mehr haben?

M:  Jaqueline, Kredit hält die Wirtschaft in Gang und das kommt allen zugut, denn es schafft Arbeit und Wohlstand. Und wiederum Vertrauen - die Voraussetzung des Geschäfts.

T:  Das ist doch die Binsenwahrheit, Mama. Sag mir, wie viel Freiheit bleibt für jene übrig, die nie, gar nie eine Chance haben, Kredit zu kriegen? Die Kreditunwürdigen! Wie wohnen die? Wer löst ihre Fussfessel und das Versprechen ein, das für sie noch nicht einmal ausgesprochen wurde?

M:  Wie stellst du dir eine Gesellschaft vor, in welcher jedem jede beliebige Freiheit zusteht?

T: Ich denke nach. Nicht beliebig! Als eine Demokratie, überschaubar und auf der Basis des vernünftigen Konsenses. Wir versuchen diese im Camp zu praktizieren. Ich weiss noch nicht, wie ich mich entscheiden werde, Mama. Gerade deshalb muss ich aber da hin. Ich muss die Herausforderung bestehen. Wir sind das Versprechen. Es geht um Gerechtigkeit. Und um die Wahrheit, für die es sich einzustehen lohnt … Doch eines ist für mich sicher: Wenn die Ordnungskräfte (ich sage nicht: die Bullen!) mit Gewalt vorgehen; wenn sie uns mit Pfefferspray blenden, dann stärkt das unsere Überzeugung, dass etwas falsch ist. Dann ist das Recht auf unserer Seite.


                                                                            Complex structures?



Investment-Werbung 2006


Nespresso, what else? - What else?


Why did they not create controls so that money couldn't just be created with reckless abandon by those in power ... They've created overarching institutions like the IMF, to protect creditors. (David Graeber, Interview ZNet)












                                                     

Dienstag, 15. November 2011

LIFESTYLES LAUFSTEG










„Vom Jahr 2009 wird mir das Gefühl bleiben, dass der modische Zwang zur Erneuerung wie nie zuvor in einen Leerlauf geraten war.“ (Stéphane Bonvin, im hypothetischen Rückblick vom Jahr 2039)



Man konnte aus der Haut fahren. Die Preise galoppierten. Oder sie trabten wiehernd als BUDGET-Tölter und DISCOUNT-Ponys vorüber. Es war wie im Zirkus. Es konnte ja sein, dass sein Budget schrumpfte. Doch die Preise kümmerten sich nicht darum. Selbst wenn sie der Teuerung trotzten, legten sie zu. Moderat waren sie selten, gierig von Natur. Vielleicht mussten sie zulegen, damit sie die kommende Rezession überstanden. 

Und er? Musste er nicht leben, damit er das Leben überstand? Die Preise aller Dienstleistungen, Lebensmittel, Zinsen, Prämien, Wärme - die Preise rannten davon. Man lebte am Tag. Er sah eines Tages nicht mehr ein, weshalb er sich für die textile Nacht-Ausstattung so tief an seinem Ersparten vergreifen sollte. Den Entschluss ohne zu schlafen brauchte er sich nicht abzuringen.   

Er schlief also nackt. Aber schlecht, weil von dem Tag an die wilde Sequenz der Laufstegträume in sein Nachtleben eindrang. Sein virtuelles Leben als Nacktmahr begann.

Immerhin verfolgten ihn die CUMULI nicht mehr in seinen Träumen. Schäfchen zählen war ja der Luller. Aber Punkte zählen, Vorteile ausrechnen für ZAHNPFLEGESORTIMENTE, RÜCKENPROTEKTOREN, LICHTSCHLÄUCHE, ALLEWETTERSTATIONEN, LAURAS STAR-PREMIUM BÜGELSYSTEM wurde zum Game. Seine Sucht wuchs sich zur  Wachtortur aus. Und wenn das blauäugige Sparschwein ihm die SUPERPUNKTE auf das VORSORGEKONTO BEI DER SUPERMARKTBANK in die Ohren grunzte, war er am Morgen sterbenskrank.

Diesem Alptraum hatte er den Garaus gemacht. In einem heilsamen Wutanfall über die Profitpunkteschinderei hatte er am selben Tag über sämtliche Kundendienste der SHOPPINGCENTER seine sämtlichen Kundenkarten gekündigt. Auch die SPAM-Verführung war er los. Der potente Spamfilter schützte ihn endgültig gegen Werbung für dufte SCHLAFANZÜGE und KLASSE-UNTERWÄSCHE.



Seine neue Traum-Show war zum Glück kitzlig, abenteuerlich, raffiniert. Die Nacktlaufstege verrannten sich zwar rasant zu Corridamusik im Wirrsal der Korridore, Etagen und Rolltreppen eines GIGA-SPREITENBACH. Doch er nahm die Schweissausbrüche billig in Kauf. Denn er erlebte vor seinen nächtlichen Auftritten die Wonnen einer Geschlechtsumwandlung und groundete am Ende der wahnwitzigen SHOPPING-Achterbahn planmässig in einer LOUIS VUITTON MEGA-Kristallhöhle. Dort wurde er von zwei violetten Perlmuttglanzlack-Fingernägeln geBOSStitcht und erfuhr, während ihre Spitzen in seinen Leib eindrangen, zwischen verspielten LOLA-DUFTSETS lustvoll WAS WIRKLICH ZÄHLT IM LEBEN: die Liebe. Und das schon acht Wochen vor Weihnachten!

Die Liebe verband sich im gruftig riechenden FINE FOOD RESSORT sinnig mit kulinarischer Exotik. Die Rabattangebote für EYE OF REINDEER mit BROMBEER-HOLLANDAISE, den herrlichen BLUE STILTON WITH PORTWINE und den CAKE TRUFFÉ GRAND CRU mit    s e i n e m  ONLY TRUE SINGLE MALT liessen die Gaumenvorfreuden auf ein virtuelles Weihnachtsmenu in der Tundra oder in gälischen Highlands aufleben. 

Wenn er erwachte, streichelte bisweilen ein nomadischer Wind sein Gesicht. Ein silberner Ballon von beinahe durchsichtigem Glanz schwebte über dem Land. Darauf stand: WIR BAUEN – FÜR SIE! Für uns taten sie alles, dachte er. Alles taten sie nur für uns. Der Erlös ihres schrankenlosen Altruismus würde - als die Erfüllung ihres Heilsversprechens - vervielfacht auf uns zurückfliessen. Für sie allerdings war solche Empathie nichts weiter als die systemimmanente Nächstenliebe. Sie waren in jeder Hinsicht pragmatisch.

Der Tag seiner Besinnung war blau wie ein leerer Bildschirm. Sie hatten ihm die FERNBEDIENUNG geschenkt, den BOULEVARD, die LIFESTYLESPOTS, die NATUR- UND ABENTEUERFILME, die MYSTERYSERIEN, DIE SIMPSONS, die NACHTPORTALE, CLUBS, TALKSHOWS, KUNSTREVUEN. Im Programm und auf dem Glanzpapier ihrer Magazine. Die ganze virtuelle Schöpfung.

Spätnachts setzte er den GHOST RIDER auf Standby und die Nase an den Flaschenmund seines letzten TALISKER. Er roch daran, als ob er geahnt hätte, dass er ihn letzte Weihnachten leer getrunken hatte. Unter seine schmuddelig gewordene YVES DELORME LIFESTYLE-Laken kroch mit ihm zusammen die Armut und er musste sich allmählich eingestehen, dass ihm die zweite Haut fehlte.

Als der Winter kam, er kam wirklich und nicht mit Silberfäden und Colliers behängt, reifte sein Entschluss, die erste so teuer wie möglich zu verkaufen. Sie schien ihm besonders modisch: schmal, lang und dünn.



        



                     
                      





NIGHTMARE oder LIFESTYLES CATWALK
                       

Freitag, 21. Oktober 2011

In aller Welt zuhause und „fremd im eigenen Land“?




„Damit wir uns nicht fremd im eigenen Land fühlen müssen“ - ein Argument zur Initiative „Masseneinwanderung stoppen“ in der SVP- Wahlpropaganda







    Ist das Boot wirklich  voll?








Wohin treibt es uns?

Am Feierabend vor dem langen Wochenende oder beim Anbruch der grossen Ferien starten wir durch. Werfen uns in den Alpenstau, quetschen uns durch’s Check-in-Gewühl. Erobern im Stossangriff unseren reservierten Secondhand-Luxus in „Allerwelt“. Wir tauchen ein in den turbulenten Kultur-Kosmos New Yorks, Londons, Istanbuls; lassen uns von der Exotik Indonesiens, der Antillen, der Costas und Rivieras charmieren. Wir schütteln unsere Verspannungen ab und bewegen uns in aufgelösten Schwärmen locker und selbstverständlich durch „unsere“ Feriendomänen  in Ländern fremder Kultur. Als „Kolonisten“ einer gigantischen Touristik-Industrie haben wir uns abgewöhnt, vor den Fremden zu fremden. Wir importieren als zahlende Fremde Devisen.

Als sonnengebräunte Heimkehrer erleben wir manchmal einen leichten Schock vor der ureigenen Normalität zuhause. Doch der geht vorüber, denn bald schleicht sich ein anderes, ein altes Unbehagen wieder ein. Denn zuhause, im eigenen Land, sind auch Fremde. Die zahlreichen Gesichter, die nicht zu uns gehören, lösen das andere Fremdgefühl in uns aus. Und die schwarzen Trampelsohlen auf dem roten Teppich mit dem Schweizerkreuz, welche herdenmässig ins Heimische eindringen, bestärken das alte Unbehagen. Das unwiderstehliche Gefühl schafft sich Raum, es sei nötig, unseren Überfremdungsschock politisch zu therapieren. „Stopp“ zu sagen, ein Neinmehr zu artikulieren, gegen die „Masseneinwanderung“, gegen erdrückende Überfremdung.

Zuhause geht der weltempfängliche Schweizer auf Distanz. Schon mehrheitlich? Ist das nicht ein Schweizer Paradox?

Die Schweiz gilt als weltoffene Nation. Sie begriff ihre Chance und pflegt dieses Image. Tourismus Schweiz profitiert davon. Die Schweizer Industrie ist innovativ, exportiert in alle Welt und hält personell weltweit vertreten die Flagge hoch. In EU-Ländern, den USA, China, asiatischen Tigerstaaten. Der Austausch von Waren, Information und Devisen ist hoch im Kurs. Doch zuhause wächst Argwohn. Der Schweizer fremdet. Handelt es sich beim Menschenaustausch um Erwerbspersonen, sind Fremde bei uns nicht mehr so populär. Wir legen ihnen keinen roten Teppich aus. VIP’s der Teppichetagen ausgenommen. Selbstverständlich auch Steuermillionäre! Arbeitsuchende sind dagegen Konkurrenten. Und Asylsuchende, die kleine Minderheit unter den Fremden, sind suspekt. Mehr und mehr. Sozialhilfeempfänger unter Fremden sowie Sanspapiers gelten sogar ohne Hinsehen bald schnell als Profiteure und Kriminelle.




Selbst in seinem vertrauten „Allerwelt“, als Massen- und Exklusivtourist, hat sich der Schweizer - pardon, nicht nur er - gerne in Holyday-Villes, in Clubs, in Spa-Wellness- und Fünfstern-Ghettos gegen die zunehmend problembelastete soziale Wirklichkeit der Fremdländer abgegrenzt. Neuerdings pflegen Zahlungskräftige den Standard, auf Mega-Passagierfähren mit dem Luxus-Angebot von Grossstädten in einer sindbadschen Fantasiewelt herumzukreuzen. Ganz unter ihresgleichen. Wir fliegen im Pauschalarrangement pazifische oder afrikanische Ferienparadiese an, mit Traumstränden, Süsswasser-Swimmingpools, Einkaufspassagen mit Beautysalons, klimatisierten Hotelzimmern mit Luxusausstattung. Und machen uns dabei kaum bewusst, dass unter den Lebenden ausserhalb „unserer“ Paradiese die Wenigsten privilegiert sind, in ein privilegiertes Land wie die Schweiz zu reisen. Nicht allein aus materiellen, viel mehr aus politischen Gründen. Zu reisen nicht als Asylanten, sondern als freie Menschen. So wie wir.




Haben wir, die wir in der Schweiz gegenüber Fremden fremden, zu wenig daran gearbeitet, uns selber ab und zu fremd vorzukommen? Nicht nur zuhause, sondern auch im Ausland? Haben wir Heimwehschweizer uns nicht darin geübt, dieses Fremdgefühl auch in der Heimat einmal zuzulassen, statt gleich „s’isch gnueg!“ zu rufen? Und vielleicht sogar ein paar fällige Fragen an unser politisches Gewissen zu stellen? Möglicherweise haben wir, denen es über Jahrzehnte so selbstverständlich gut ging, versäumt zu verstehen, dass die Ursachen des Phänomens, das wir als „Überfremdung“ erleben, globaler Natur sind. Dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Welt - auf ihre Ursachen und Auswirkungen hin betrachtet - auch unsere sind. Dass sich ihre Ursachen nicht so einfach in der Einwanderung festmachen, in den Ausländern personifizieren lassen. Dass wir unsere Probleme nicht pauschal der Personenfreizügigkeit oder einer „largen“ Asylpolitik anlasten können, sondern auch selber für sie grad stehen müssen.

Es gibt keine Krähwinkel-Lösungen aller Probleme durch abwehrhaften Rückzug auf uns selbst, durch rigide Einwanderungskontrolle, durch Kontingentierung und Punktekriterien bei der Zulassung arbeitsuchender Ausländer, durch drastische Verschärfung des Asylrechts und ausserdem  die wieder anvisierte Abkoppelung der Entwicklungsländer von der Entwicklungs-Zusammenarbeit, welche man durch den Hinweis auf „verschleuderte“ Steuergelder gern ungerechtfertigt dem Verruf preisgibt. Der Rückzug durch Massnahmen einer prinzipiell-isolationistischen Politik ist nicht bloss selbstgerecht, sondern auf die Länge auch kurzsichtig, denn sie versperrt sich der Teilnahme an Lösungen, der Mitverantwortung und damit der Zukunft!

Im Stil der SVP-Propaganda für ihre Initiative „gegen Masseneinwanderung“ schlägt eine Krähwinkel-Haltung durch, denn sie appelliert allzu einseitig und mit wahlstrategischem Kalkül an unterschwellige Ängste und den Gruppen-Eigennutz der Wähler. Die Zusammenhänge lassen sich nicht mit emotional aufgeladenen Argumenten verständlich machen. Sie sind komplex. Und genauso lassen sich die Probleme nicht kurzfristig mit Schneidbrenner-Methoden bewältigen. Sie fordern uns einen Aufwand ab, sind nur auf längere Sicht, durch liberale Lösungsschritte, zu regulieren. Möglichkeiten und Bedeutung einer Politik des belebenden Austauschs und der institutionellen partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Nationen und Kulturen bleiben in der simplifizierenden Initiativ-Propaganda ausgeblendet.








      Heim - wo in der Welt?




Mittwoch, 24. August 2011

Frischs Schweizer Biedermänner




Eine Festrede des SVP-Bundesrats zum Nationalfeiertag am 1.August 2011




Frischs „Biedermann“ als erbauliches Lehrstück

Man läuft Gefahr, sich daran zu gewöhnen, dass die Schweizerische Volkspartei in ihrer wahlpolitischen Propaganda gerne krasse Einzelfälle von Sozialhilfe-Betrug generalisiert oder die Angst vor ausländischen Rowdies und Kriminellen anheizt, um die Sozial- und Asylpolitik der Schweiz zu torpedieren. Die Strategie ihres Abnützungskriegs gegen das soziale Gewissen ist erstaunlich erfolgreich.

Wenn die SVP auch die Klassiker der Schweizer Literatur für ihre Wahlpropaganda ausweiden wollte, dann würde sie ihre Strategie um eine interessante Dimension erweitern. Denn diese ist gerade im 20.Jahrhundert an pädagogisch Verwertbarem  reich.

In seiner Erst-August-Rede erweist Bundesrat Maurer, Minister für Verteidigung Bevölkerungsschutz und Sport, Max Frisch im Jubiläumsjahr als begeisterter Leser seine Reverenz. Er ist klug genug, Frischs Lehrstück „Herr Biedermann und die Brandstifter“ bei der festlichen Gelegenheit nicht die Folie einer parteipolitischen Sehweise überzustülpen. Der Seldwyler Haarölfabrikant ist nach dem Verständnis seines Autors ja schliesslich der „Herr Biedermann in uns selbst“ (Hörspiel, Ansage 7), also kein Anhänger einer politischen Ausrichtung, sondern eben ein Jedermann. Er ist einer, der sich - wohlmeinend betrachtet - aus Angst, seinen spiessbürgerlichen Humanismus (seinen naiven „Glauben an das Gute im Menschen“) zu verraten, von zwei als Obdachlose verkappten Terroristen erpressen lässt, ihnen in seinem Haus Asyl anbietet und dadurch zum Komplizen ihres verheerenden Anschlags auf die Stadt wird.

Obwohl das Etikett aus dem Vorrat der Parteipropaganda leicht verfügbar wäre, ja fast auf der Hand läge, macht der Festredner den nachgiebigen Hausherrn konsequenterweise nicht zur idealtypischen Verkörperung des „netten Linken“. Der Geschäftsmann ist für ihn zunächst nichts anderes als ein „gut etablierter Bürger“, dem es „an Kraft und Mut fehlt nein zu sagen“, weil er „das Gesicht verlieren“ könnte. - Die zwei aalglatten Gauner des Lehrstücks, welche fusskratzend und zugleich mit schlau dosierter Anmassung seine Menschenliebe erbetteln, würden sich allerdings präzise ins ideologische Schema der SVP einfügen. Sie gäben ein drastisches Exempel her: nämlich als obskure Verkörperung der mit der Überfremdung unserer Heimat infiltrierenden Macht des Terrorismus und der organisierten Kriminalität. Doch der Minister verbietet sich solche plumpe Eindeutigkeit und erliegt nicht der Versuchung, Frischs Text zum Zweck explizit parteipolitischer Propaganda auszudeuten.

Da die Festrede aber den „Mut nein zu sagen“ zum Leitthema ihres Hauptteils wählt, macht sie den Zuhörern im Grundsatz trotzdem klar, dass sie Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ als politisches Lehrstück einspannt. Im vierten Abschnitt expliziert der Redner die handfeste „Moral“ des Stücks am Generalthema der SVP: der Stellung der Schweiz zur Europäischen Union. „Nachgeben provoziert immer wieder neue Forderungen.“ Wenn der bürokratische Riese bald mit den Muskeln spiele, bald mit Solidaritätsappellen locke, so gelte es seiner Verführungsmacht zu widerstehen, mahnt Maurer. „Wenn man unbedacht den kleinen Finger gibt, nimmt sie gleich die ganze Hand.“ Die Warnung mit Fingerzeig auf Biedermann wird an dieser Stelle nun allerdings zur Propagandafloskel. „Gute Miene machen zum bösen Spiel“ sei gefährlich, mahnt Maurer. Das weckt wohl den Eindruck simpler Schulmeisterei,  denn jedem Befürworter bilateraler Verhandlungen dürfte heute einleuchten, dass die „Blanko-Unterschrift“, welche die Schweiz zwingt, „künftiges EU-Recht zu übernehmen“, ein krasser Mangel an verhandlungstaktischem Realismus wäre. So naiv war Schweizer Politik gegenüber der EU nie, dass sie Diplomaten zu heikeln Verhandlungen schickte, die „Mühe“ hatten zum Vorteil des Landes „Nein oder Halt zu sagen“, weil sie fürchteten, ihr „edles, humanes oder modernes“ Image zu verlieren.

Die Feiertagsrede hofiert ihrer festlich gestimmten Zuhörerschaft. „In unserem Land ist das Volk die Elite und der Bürger Souverän.“ Es ist das Verdienst der „sogenannt gewöhnlichen Leute“, dass das Land den „Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten“ zum Trotz „gut positioniert“ ist. Holla! Die staatsmännische Belehrung schmeichelt. Aufgemuntert hört der Schweizer, dass er von Naturell „gutmütig und hilfsbereit, nett, freundlich und friedlich“ sei, doch gerade deshalb auch - der Redner reckt erneut den Mahnfinger - unentschieden und leicht erpressbar. In moralisierender Absicht spielt Maurer mit der vorgedachten Analogie zum Lehrstück. Das ist doch ziemlich platt. Man merkt, der Vergleich ist schief, da ihm eine krasse Fehlinterpretation der Titelfigur zugrunde liegt. Der Haaröl-Fabrikant ist nämlich in keiner Weise gutmütig, keine Seele von Mensch, sondern skurril-verlogen und feig. Er taugt nicht als Vorbild der naiv-idealtypischen Haltung, welche Maurer dem Schweizer zubilligen möchte und mit der sich dieser ja nicht ungern selber flattiert. Die Anbiederung des Festredners entlarvt sich da von selbst.  


Der wahre Titelheld des „Lehrstücks ohne Lehre“

Gottlieb Biedermann pocht selbstgerecht auf die bestehende Ordnung, wo immer sie seine Interessen schützt. Ganz besonders brutal verfährt er mit seinem Angestellten Knechtling. Vierzehn Jahre lässt er ihn zu seiner Zufriedenheit für sich schuften, schlägt ihm schliesslich die versprochene Beteiligung aus und treibt ihn durch Rauswurf in den Selbstmord. In einem Anfall von Entschlossenheit tritt der Hausherr auf seinem Estrich auf („Aufmachen! - oder ich rufe die Polizei…“) und macht den zwei geschäftigen „Untermietern“ unmissverständlich klar: „Ich dulde kein Benzin auf meinem Dachboden. Ein für allemal!“ Nach derart auftrumpfender Beherztheit wird er aber im Handumkehr kleinlaut. Das Dienstmädchen ruft ihn ans Telefon. Die Polizei ist wegen Knechtlings Suizid  am Apparat. Der Hausherr knickt ein und lässt seine Frau ausrichten, er sei ausser Haus.   

Biedermann hat, wie der „Verfasser“ in einer Ansage des Hörspiels anmerkt, „ein etwas schlechtes Gewissen“ und zwar „zu Recht“. Weil er aber „ein gutes haben möchte, ohne irgend etwas zu verändern“, was natürlich nicht gehe, sei er gezwungen „sich selbst zu belügen“. „Darin besteht seine Gefährlichkeit“, lässt Frisch den „Verfasser“ ergänzen. Der Seldwyler Haarölfabrikant hält sich für gerecht („Ich begehe kein Unrecht“). Unter seinesgleichen gilt er daher wie jeder ordnungsliebende Mann für menschlich. Was er zu verlieren fürchtet, sein Gesicht, ist allerdings nicht mehr als seine Maske.

Biedermann verdrängt, dass an den Verhältnissen, welche er mitverantwortet, etwas faul sein könnte. Er hat schon seiner möglicherweise unlauteren Geschäftspraktiken und Knechtlings wegen Angst vor der Polizei, obwohl er als notorischer Querulant am Stammtisch und zu Hause gerne über die „verfluchte Einmischerei überall“, über „Verstaatlichung“, „Vorschriften“ und „Mietpreise“ schimpft. Verdachtmomente im Estrich seines Hauses zu Hauf nähren seine schleichende Angst vor umstürzenden Veränderungen, welche von ihm ein Opfer fordern könnten. Wenn er den Vorbereitungen der sinistren Obdachlosen nicht mehr Einhalt gebietet, dann weil er es versäumt rechtzeitig die Gewissensfrage zu stellen.

In seiner unterschwelligen Angst, es sei am Ende eh zu spät, er sei schon zu ihrem Komplizen geworden und könnte zur Rechenschaft gezogen werden, lässt er den Dingen den Lauf. Ja, er redet sich sogar ein, „gesetzt den Fall, die beiden Gesellen führten wirklich etwas im Schilde“, dann wäre es ratsam, „ihr Freund“ zu sein, damit sie ihn „wenigstens verschonen“ würden. Die beiden Brandstifter haben ein leichtes Spiel, sie brauchen ihr Vorgehen nicht einmal mehr zu tarnen. Einer von ihnen, der Eisenring, reibt Biedermann sogar höhnisch unter, „die beste Tarnung“ sei „immer noch die blanke und nackte Wahrheit.“


Eine Rede Frischs über „Politik als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln“

Max Frischs Rede vor dem SPD-Parteitag in Hamburg 1977 über den Terrorismus und die Haltung der Intellektuellen könnte uns eine politische Bedeutung der Parabel im Sinn Frischs erschliessen, welche ihr nachträglich - zur Zeit des Terrors der Roten Armee Fraktion - erst zuwächst.

Die damals von den Sozialdemokraten gestellte Regierung unter Helmut Schmidt hatte die „Logik“ der terroristischen Bedrohung nach Frischs Ausführungen erfasst und sich nicht durch die Erpressung der Terroristen auf einen „Menschenhandel“ eingelassen. Wenn Frisch unterstreicht, dass sie sich durch ihre harte Haltung in den Entführungsfällen die „ethische Legitimation“ verschafft habe, ihr „Versprechen auf Mehr-Demokratie…nicht mehr preiszugeben“, so drückt der Autor in seiner Rede an die Parteigenossen eine Erwartung aus. In Konsequenz ihrer Entschlossenheit war die Regierung sich und der Gesellschaft der Bundesrepublik schuldig die Gewissensfrage zu stellen. Frisch formuliert diese in seiner Adresse an die Sozialdemokratie und an  s e i n e  Generation - die Vätergeneration der rebellischen Jugend der Sechzigerjahre -  gerichtet wie folgt:

„Wie unschuldig ist unsere Gesellschaft an der Wiederkunft des Terrorismus oder schuldig  - nicht als Sympathisanten, was wir als Reform-Demokraten ja nie haben sein können, sondern als  B i e d e r m ä n n e r  schuldig durch familiären und institutionalisierten Unverstand gegenüber einer ganzen Generation?“

Welche Leitziele hat die dem Krieg entronnene Gründergeneration des Wirtschaftswunders ihren Söhnen und Töchtern gesetzt? Weshalb mutierten sie in den Sechzigerjahren zu Verweigerern und Rebellen und schliesslich zu Terroristen? In einer Reihe rhetorischer Fragen umreisst Frisch seine Antwort zum Thema, etwa so: Was fanden die Vertreter der Nachkriegsgeneration vor „ausser der Einladung zum fröhlichen Konsum als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum“ oder - vorweg die Männer - zum Aufbau einer gesellschaftlichen „Karriere“ nach dem Vorbild und Plan ihrer Eltern? Und direkt an die Partei gerichtet ruft Frisch seinen Zuhörern die Fragen ins Gewissen: Ob die SPD für die Herstellung von „Mehr-Demokratie…als ein Ziel über die eigene Konsum-Person hinaus“ arbeite. Ob sie sich für die „Wiederherstellung der Politik mehr als die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln“ entschieden habe und sich für eine Politik engagiere, welche „im Gegensatz zur Profit-Schlacht aller gegen alle  L e b e n s w e r t e  stiftet.“

Die revoltierende Nachkriegsgeneration solidarisierte sich vor heute 50 Jahren in der Bundesrepublik gegen die Neuauflage der 1933 verhängnisvollen „Ermächtigugsgesetze“ („Notstandsrecht-Debatte“) und die in der Blüte des „Wirtschaftswunders“ anschwellende Konsummentalität, welche die Auseinandersetzung um die Verantwortung an den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur verdrängte. Ein anderes entscheidendes Thema der „theoriewütigen jungen Linken“ (Frisch) war ihr heftiger Protest gegen die internationale Unrechtsordnung des „Neokolonialismus“. Protektionismus, Kartellwirtschaft und Korruption förderten in den von autoritären Regimes dominierten Ländern der „Dritten Welt“ eine „Anarchie der Ausbeutung“. Die „Industriestaaten“ setzten aus demokratischer Sicht fragwürdige Mittel ein, um die mit ihrer Ideologie und ihren Zwecken konformen Verhältnisse zu stabilisieren. Multinationale Konzerne hatten praktisch freie Hand. Durch Aufrüstung ihrer Zugewandten hielten die Mächte, wo es ihnen opportun erschien, sogenannte „Stellvertreterkriege“ in Gang (Beispiel: Waffen gegen Erdöl!).

Die Generation der Sechzigerjahre machte Front gegen den Waffenhandel, die Stellvertreterkriege und besonders erbittert gegen den „schmutzigen Krieg“ im geteilten Vietnam. Sie verband sich in Solidarität mit den Armen der „Dritten Welt“, demonstrierte für „Verteilungsgerechtigkeit“ und gegen die „Entrechtung“ und „Ausbeutung“ der „Kleinbauern“ (Landvertreibung, Blockierung der Landreform) oder ethnischer Minderheiten. Radikale Gruppen innerhalb der Studentenbewegung solidarisierten sich - zunächst gewaltlos - mit dem „Befreiungskampf“ der Unterdrückten. Eine organisierte Abspaltung, in der Bundesrepublik „die Rote Armee Fraktion“, entschied sich für Untergrundkampf und Terror.

Solidarität, an welcher der Verdacht haftete, sich dem Interesse der sozialistischen Revolution anzudienen, galt in der Bundesrepublik und den Staaten des westlichen Bündnisses als Verrat. Frisch fragt in seiner Hamburger Rede, „wie viel Wirkungsraum“ den jungen linken Intellektuellen an den Hochschulen eingeräumt worden sei, „um das Potential ihrer Erwartungen einzubringen“. Und er schliesst mit der Antwort: „Erwartet wurde Unterwerfung; geblieben ist: einerseits die Resignation, verbunden mit Karriere, die Glaubensverlust und damit Selbstverlust niemals aufhebt, und andererseits die Paranoia der Terroroisten.“


Die Gegenwart: Globale Perspektive - verpasste Chancen   

Die revoltierende Nachkriegsgeneration hat heute das Alter Frischs zur Zeit seiner Hamburger Rede  (1977) erreicht. Die Thematik der Auseinandersetzung von damals zog die mediale Aufmerksamkeit bis in die 80-iger-Jahre auf sich. Dann absorbierte eine technisch-wirtschaftliche und mit der Wende von 1989 politische Neuorientierung die Kräfte. Sie löste einen konjunkturellen Aufschwung aus, welcher den Wohlstand und die Durchlässigkeit der sozialen Klassen steigerte, setzte einen Konsum- und Bauboom in Gang und neue Prestige- und Karriereziele in die Welt. In den Medien eroberten sich die smarten und populistischen Themen Platz und Vorrang. Es ist unter anderem die Zeit der High-Tech-Revolution, der Yuppies, der Town-Regenerations.

Ein „Turbo-„ und „Kasino-Kapitalismus“, welcher im letzten Jahrzehnt mit wild gewordenen Hedge-Fonds und Konsumrausch im letzten Stadium die Stimmungsschwelle einer Street-Parade erreichte, mündet direkt in das Seriebeben der Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese gipfelt in einer exorbitanten Staatsverschuldung, welche nun die Politik im Widerspruch zu den Regeln der Marktwirtschaft zu harten Lenkungsmassnahmen ruft. Das Grollen des Bebens bricht nicht ab. Die Utopie schrankenlosen Wachstums treibt die Weltwirtschaft  - im Augenblick ziemlich führungslos - mit geblähten Segeln zwischen der Skylla der Inflation und der Charybdis der Rezession dahin. Wenn sie auf Sand strandet, hat sie Glück. So sähe die „weiche Landung“ aus.

Zur Zeit des Kalten Kriegs setzte die Konkurrenz der zwei divergierenden Systeme um politischen Einfluss, Rohstoffe und Märkte der Ausdehnung ihrer Machtsphäre gegenüber dem Entwicklungsziel den Vorrang. Die Wende nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums hätte als ein Signal verstanden werden müssen. Da waren jedoch die stabilisierenden Rahmenbedingungen, welche eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten würden, dem losgetretenen Globalisierungsschub nicht gewachsen. Die aufsteigenden Staaten, in der Regel heterogene Diktaturen oder Clan-/Stammes-Oligarchien, der parteigelenkte Kapitalismus Chinas, religiös fundierte radikale Ideologien und Organisationen, private und staatliche Konzerne, Venture-Unternehmen und Investoren-Gruppen jeder Art besetzten in Konkurrenz schnell die neuen Freiräume und Einflusssphären. Der auf militärische Potenz bauende Allmachtswahn und die alle „Grenzen des Wachstums“ verkennende Spekulation taten das Ihre. Die Chance der führenden Mächte, sich auf eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu fokussieren, der diplomatischen Vernunft ihren Spielraum zuzubilligen und gemeinsam - ohne Wenn und Aber - das Problem der Umweltbelastung zu bewältigen, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten unzureichend genutzt oder verspielt.

Hätten die Industriestaaten den Ländern der „Dritten Welt“ umfassende Entwicklungs-Zusammenarbeit angeboten und beim Ausbau der Handelsbeziehungen die Regeln der Marktwirtschaft gefördert und geschützt, jedoch zugleich die Bekämpfung der Korruption machthungriger Eliten und der Klientelwirtschaft zur Bedingung gemacht, dann sähe die Welt heute anders aus. Voraussetzung zur Realisierung dieser Ziele wäre die Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen, einer funktionsfähigen Verwaltung und eines für alle Bevölkerungsklassen zugänglichen Bildungssystems sowie die Durchführung einer Landreform gewesen. Langfristig wären die Länder auf dieser Basis in der Lage gewesen, ihre Produktivität im Interesse der Entwicklung ihrer eigenen Volkswirtschaften und Bedürfnisse  nachhaltig zu erhöhen und regionale Märkte aufzubauen.         


Schicksalsgemeinschaft oder Abgrenzung?

Bevölkerungswachstum und soziale Not, Chancen- und Rechtlosigkeit, gewaltsame Unterdrückung und Korruption, anhaltende Anarchie und Kriege, Klimakatastrophen und Hungersnöte haben in Afrika, Asien und Mittelamerika Migration und regional umfangreiche Fluchtbewegungen ausgelöst. Heute sind die Industriestaaten nicht nur zunehmend mit ethnischen Konflikten und sozialen Unruhen innerhalb ihrer eigenen Grenzen, sondern auch unmittelbar an ihren Grenzen mit Asyl und Arbeit suchenden Menschen aus den Entwicklungsregionen und aus Kriegs- oder Krisengebieten konfrontiert.

Eine Begriffsklärung sei vorausgeschickt: Seit es keine „Zweite Welt“ mehr gibt, ist der Begriff einer „Ersten“ ebenso theoretisch und obsolet geworden wie der einer „Dritten Welt“. Die Welt ist teilbar, auch heute. Nur wie? Es gibt logische Gründe für die Annahme, dass die sogenannte „Abkoppelung“ der Entwicklungsländer und die Aussperrung ihrer Bevölkerung keine praktikable Lösung des Migrationsproblems ergibt. Eine geografische Teilung der Welt in Reich und Arm wäre unmöglich, da sie logisch auch die Teilung nationaler Gesellschaften impliziert - die Trennlinie ginge mitten durch London oder Birmingham! Ausserdem bliebe die Differenzierung etwa zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern unlösbar.

Ökonomen mögen unter „Globalisierung“ etwas anderes verstehen als Soziologen. Börsenspekulanten sowieso. Sicher ist aber, dass Wirtschaft und Gesellschaft nur als Synthese begreifbar sind. Heute ist es undenkbar, von nationalen Gesellschaften auszugehen ohne den Begriff der Weltgesellschaft zu berücksichtigen. Die globale Informations- und Verkehrsvernetzung begründet ein Zusammenrücken kulturell und sozial differenter Regionen und Gesellschaften. Sowohl der Assimilationsdruck der Globalisierung als auch die Nähe und der Austausch mit Gesellschaften fremder Kultur verstärken die Reflexion auf das Eigene. Das Gleichmachende wie das Fremde schärfen in der Regel die Selbstwahrnehmung und beleben das Bewusstsein der kulturellen Eigenart. Die veränderte Selbstwahrnehmung kann eine Renaissance der eigenen Kultur auslösen. Die durch technische und wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte Globalisierung läuft somit paradoxerweise Hand in Hand mit einer kulturellen Regionalisierung.

Diese belebende und ausgleichende Entwicklung ist grundsätzlich wünschbar.  Wenn sich die der Globalisierung innewohnende Dialektik aber verstärkt, den Austausch behindert und zu einer Entfremdung oder sogar radikalen Abgrenzung zwischen Gesellschaften verschiedener Kultur führt, dann lässt sich die Ursache häufig in einer wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Disparität, einem sozial unverträglichen Wohlstandsgefälle ausmachen. Abgrenzung als einseitig durchgesetzte politische Massnahme führt niemals zu einer Lösung des aktuellen Grundproblems. Denn sie ist die konforme Konsequenz einer Reihe von Fehlentwicklungen und Versäumnissen, welche dadurch zustande kamen, dass die Utopie schrankenlosen Wachstums und die einseitige Orientierung auf Gewinnmaximierung die ausgleichende Instanz marktwirtschaftlicher Regeln und Prinzipien pervertierten; dass Arroganz und Durchsetzungsmacht - etwa einzelner multinationaler Konzerne - die Regeln ausser Kraft setzten, so dass die aus Verzerrungen erwachsende globale Krise folgerichtig die soziale Disparität noch vertiefte. Die dadurch hervorgerufene allgemeine Unsicherheit und Erosion der Werte gefährdet heute die Weltgesellschaft.        


Die Entwicklung, welche wir heute mit dem Wort Globalisierung bezeichnen, ist nicht rückgängig zu machen, es sei denn durch einen naturhaften Zusammenbruch des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüges, einen Kurzschluss aller Sicherungen, die Katastrophe einer von Unruhen, Anarchie und Kriegen begleiteten Regression. Gegen dieses pessimistische Szenario gibt es nur die Suche nach gemeinsamen Lösungen, eine Form globaler Mitbestimmung, die Kommunikation unter Berücksichtigung aller Interessen. Abgrenzung endet in der Sackgasse.

Es sei noch einmal erinnert: Die soziale Trennung geht mitten durch unsere Gesellschaft, durch moderne Städte und ausufernde Agglomerationen. Wenn die Wall-Street-Parade der Börsenmakler und Banker mit der Wachstums-Euphorie und ihren Gewinn- und Lohnexzessen eine weltweite Finanz- und Schuldenkrise, wachsende Arbeitslosigkeit und Rezessionsgefahr zur Folge hat - was sind dann die hirnlosen Plünder-Riots des Jugendmobs in Tottenham anderes als der - keineswegs nur rassistisch zu verstehende -afrikanische Schattentanz mitten im Konsumparadies der einstigen Hauptstadt des britischen Weltreichs?
 


Braucht Neinsagen Mut? Zur SVP-Initiative „gegen Masseneinwanderung“

Bundesrat Maurer mahnt die Zuhörer in seiner Rede zum Nationalfeiertag mit Hinweis auf den erpressbaren „Helden“ in Frischs dramatischer Parabel: „Manchmal braucht es Mut Nein zu sagen.“ Seine Partei, die Schweizerische Volkspartei, propagiert und erwartet ein beherztes deutliches Nein gegen die sogenannte  „Masseneinwanderung“, welche sie zum Thema ihrer neuesten Volksinitiative macht.

Die SVP umwirbt und macht Stimmung für ein Schweizertum, dessen Pflege in einer technisierten, mobilen, multikulturellen Gesellschaft als Sonderkultur und Inhalt einer Sehnsucht nach Bindung und Unversehrbarkeit einen legitimen Platz hat. Sie selbst zelebriert es an ihren Albisgüetli-Tagungen und anderen Treffen in volkstümlichem Rahmen und erfüllt durch Dauerpropaganda ihre ideologische Mission: einem im 18.Jahrhundert begründeten Volksbegriff zu einer durchschlagenden Renaissance zu verhelfen, einem Volksbegriff, welcher zur Zeit des europäischen Nationalismus als Produkt einer Mythologie kultiviert wurde und in Zeiten äusserer Bedrohung auch im 20.Jahrhundert - besonders während der Weltkriege - eine integrierende Rolle spielte.

An Schützen-, Sänger- und Trachtenfesten wurden damals der Nationalgeist und die Idee der Einheit und Einigkeit, mit der er sich verbindet, heraufbeschworen und auch heute regelmässig wieder belebt. Der Sonntagspatriotismus, die Volksfeste, die Tagsatzungen und natürlich die Erst-August-Feier mit ihren Reden und Feuerwerken haben etwas Reizvolles, halten eine Tradition und auch die Erinnerung an Einheit in schwierigen Zeiten wach. Vielleicht ist der Erste August nicht zuletzt deshalb erst vor etwa einem Jahrzehnt zu einem allgemeinen Feiertag erklärt worden, weil der Druck zur europäischen Integration und kulturellen Assimilation in einer Phase wirtschaftlicher und politischer Globalisierung wuchs und die Tradition sowie den nationalen Bestand überhaupt in Frage stellte.

Am Beispiel der Volksmusik kann man aber ein spannendes Aufbrechen, eine zukunftsfähige Erneuerung der verfestigten Tradition beobachten. Wo sich die tradierte Musik nicht nach aussen abgrenzt, sondern durch andere Genres - etwa indische, orientalische, afrikanische und insbesondere moderne Rock- und Popmusik - zu neuen Klangformen und Experimenten inspirieren lässt,  können wir gerade heute offenbar eine lebendige Manifestation dialektischen Widerspruchs erleben. Längst ist im Gegenzug zur Globalisierung und zum bürokratischen Zentralismus der europäischen Einigung eine eindrückliche Erneuerung regionaler Kultur im Gang, welche erstarrte Tradition aufbricht und sich fremden Einflüssen öffnet ohne sich selbst zu verleugnen. Musik ist grenzüberschreitend. Musik ist weltläufig. Das gilt für Kultur insgesamt. Sie lässt sich nicht einbinden, ideologisch oder politisch dienstbar machen. Das bedeutet keinesfalls, dass sie nicht von politischer Relevanz sei.



Die Propaganda der SVP entwickelt gezielt ein Bedrohungsszenario, von dem sie politisch zu profitieren hofft. Mit ihrer neuen „Initiative gegen Masseneinwanderung“, welche die Ab- und Ausgrenzung von Migranten institutionalisieren soll, übersteigert sie sich selbst. Mit dem Schlagwort überschlägt sie sich geradezu im Aufblähen von Horrorszenarien, wenn ihre Aktivisten besorgte Fragen unter das Stimmvolk streuen: Wie man denn im Fall einer Rezession und zunehmender Arbeitslosigkeit  (Massenarbeitslosigkeit?) den „Rückfluss“ organisieren wolle - gemeint ist mit dem ominösen Wort die Ausschaffung der durch die Grenzschleusen ins Land geströmten Zuwanderermassen.

Massenwanderungen gibt es in der Geschichte. Wirtschaftliche Chancenlosigkeit hat immer Migration ausgelöst. Kriege und Hungersnöte hatten etwa zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Europa Massenwanderungen zur Folge wie gegenwärtig in Ostafrika. „Masseneinwanderung“ ist jedoch eindeutig ein politisches Schlagwort, das die tatsächlichen oder zu erwartenden Relationen sprengt. Es ist unnötig und verwirrend, denn jeder vernünftige Politiker weiss, dass massenweise Einwanderung die Ressourcen und die Ordnung eines dicht besiedelten Landes von der Grösse der Schweiz hoffnungslos überfordern würde. Schrankenlose Aufnahme von Zuwanderern ist etwa so absurd wie die Vorstellung schrankenlosen Wachstums.

Wie in Lateinamerika um die Mitte des 20.Jahrhunderts haben gegenwärtig Revolutionen die arabischen Länder erfasst. Sie werden sich auf dem Schwarzen Kontinent vermutlich fortsetzen. Gewaltsame Reaktion wird nicht ausbleiben, aber die wohl unaufhaltsame  Entwicklung demokratischer Gesellschaften nur verzögern. Die Länder nehmen die Chance ihr Schicksal selber zu bestimmen in die Hand. Politisch Verfolgte und sozial Notleidende werden zwar weiterhin auswandern, aber es ist nicht zu befürchten, dass die revolutionären Umwälzungen Massenflucht und Wogen einer neuen Auswanderungsbewegung bewirken, im Gegenteil!

Eine vernünftige Lösung des Problems, welches der Gewissensfrage antwortet, ist in einer Verbindung von Zuwanderungsbegrenzung mit Entwicklungszusammenarbeit und dem Aufbau wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zu orten. Bei der begrenzten Zulassung geht es allerdings um mehr - weit mehr! - als bloss darum ein humanitäres Zeichen zu setzen. Die Intensivierung der Beziehungen setzt die Förderung des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses voraus. Sie erfordert im Rahmen dieser Zielsetzung einen Austausch von Menschen zwischen zugewandten Ländern. Menschen, die nicht bloss einseitig als billige Arbeitskräfte einwandern oder einen Zweck als Vermittler profitabler Joint-Ventures erfüllen, sondern Menschen verschiedener Berufsrichtungen, Studenten und Gäste, welche wechselseitig voneinander lernen und sich entwickeln können.


Frischs Schweizer Biedermänner  

Gottlieb Biedermann hat Angst: Er stellt die Gewissensfrage nach seiner Verantwortung (oder Mitverantwortung) nicht, denn er will „seine Ruhe“ haben. Er wünscht sich einen Staat als Nachtwächter, den Nachtwächterstaat, der sich möglichst wenig, jedenfalls nicht durch unnötige Regulierungen, in seine Geschäfte einmischt. Einen Staat, der ihn in Ruhe lässt und nur dafür sorgt, dass Ruhe herrscht. Natürlich auch Freude, die er bieder geniesst und als „Kultur“ zu schätzen weiss, wenn ihm danach zumute ist. Er hat auch seine sentimentale Seite. Aber an Kritik hat er keine Freude. Da fällt die Maske seiner „Nettigkeit“, welche sein kalt-berechnendes Selbstinteresse kaschiert.

Gottlieb Biedermann hat Angst vor Veränderung. Er will sich die Schweiz als Heimat erhalten, indem er sie abschottet. Er macht sein Land zum Reservat für Schweizer und dazu für ein paar reiche ausländische Steuerzahler. Er macht die schweizerische Kulturlandschaft zum Nationalpark. Die Schweiz ist nur als Reservat  s e i n  Land. Das Land mit seinem dank „heimischer“ Industrie, Landwirtschaft und Arbeitskraft starken Franken, der härtesten Währung der Welt. Es ist die Schweiz mit Eigentumszertifikat und den drei „S“ für „sicher, sauber und schön“ und einem VIP-Portal für fremde Kapitalkraft und Touristen. Ausserdem mit einer Hintertüre für ein Kontingent fremder Arbeitskräfte im Notfall.

Gottlieb Biedermann arrangiert sich mit den unheimlichen Gästen im Quartier seines Dachbodens aus Angst. Sein „Nein“ bei der Abstimmung gegen Zuwanderer wäre kein mutiges gewesen, weil er sich ja nicht mehr als die Probleme, welche er sich nun durch seine Feigheit einbrockt, hätte vom Leib halten wollen. Er will nicht mehr als seine Ruhe. Auch jetzt. An Lösungen war und ist er nicht interessiert, weil sie, wie er genau weiss, ein Opfer fordern. Biedermanns „Nein“ ist ein Verdrängen, ein Aufschieben. Und ein Abschieben. „Stopp jetzt!“ sagt er.

Biedermanns Autor sagt in seiner Rede 1977, dass „die Gelassenheit der Pharisäer“ einen angesichts „Napalm-Genozid“ in Vietnam, „entsetzen“ könne. Biedermann war es nicht, der damals „Stopp“ rief. Es ist nicht anzunehmen, dass die Gewalt-Exzesse des Zahnarzt-Diktators in Syrien gegen die gewaltlos demonstrierenden Anhänger der demokratischen Revolution - gegen ein Volk, welches sein Schicksal in die eigene Hand nimmt - unseren Gottlieb heute aus seiner Ruhe brächten. Wenn aber in Seldwyla Riots ausbrechen, jugendliche Randalierer Geschäfte plündern und Autos abfackeln sollten, dann würde er „Stopp!“ schreien, sofort nach der Polizei rufen und niemals nach Gründen fragen.

Sollte es Anlass geben, irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen dem „Helden“ des Stücks und lebenden Personen zu vermuten, so lässt sein Autor versichern: „Herr Biedermann ist eine erfundene Figur: Herr Biedermann in uns selbst.“

Zum Schluss: Heimat wird nicht heimischer, wenn man das vermeindlich Böse - das Fremde - an ihren Grenzen aussperrt und ihre Literatur verharmlost, damit sie brauchbar wird.






WER SCHAFFT MIT EINEM SCHWARZEN "VERKEHRSZEICHEN" SICHERHEIT?