Mittwoch, 24. August 2011

Frischs Schweizer Biedermänner




Eine Festrede des SVP-Bundesrats zum Nationalfeiertag am 1.August 2011




Frischs „Biedermann“ als erbauliches Lehrstück

Man läuft Gefahr, sich daran zu gewöhnen, dass die Schweizerische Volkspartei in ihrer wahlpolitischen Propaganda gerne krasse Einzelfälle von Sozialhilfe-Betrug generalisiert oder die Angst vor ausländischen Rowdies und Kriminellen anheizt, um die Sozial- und Asylpolitik der Schweiz zu torpedieren. Die Strategie ihres Abnützungskriegs gegen das soziale Gewissen ist erstaunlich erfolgreich.

Wenn die SVP auch die Klassiker der Schweizer Literatur für ihre Wahlpropaganda ausweiden wollte, dann würde sie ihre Strategie um eine interessante Dimension erweitern. Denn diese ist gerade im 20.Jahrhundert an pädagogisch Verwertbarem  reich.

In seiner Erst-August-Rede erweist Bundesrat Maurer, Minister für Verteidigung Bevölkerungsschutz und Sport, Max Frisch im Jubiläumsjahr als begeisterter Leser seine Reverenz. Er ist klug genug, Frischs Lehrstück „Herr Biedermann und die Brandstifter“ bei der festlichen Gelegenheit nicht die Folie einer parteipolitischen Sehweise überzustülpen. Der Seldwyler Haarölfabrikant ist nach dem Verständnis seines Autors ja schliesslich der „Herr Biedermann in uns selbst“ (Hörspiel, Ansage 7), also kein Anhänger einer politischen Ausrichtung, sondern eben ein Jedermann. Er ist einer, der sich - wohlmeinend betrachtet - aus Angst, seinen spiessbürgerlichen Humanismus (seinen naiven „Glauben an das Gute im Menschen“) zu verraten, von zwei als Obdachlose verkappten Terroristen erpressen lässt, ihnen in seinem Haus Asyl anbietet und dadurch zum Komplizen ihres verheerenden Anschlags auf die Stadt wird.

Obwohl das Etikett aus dem Vorrat der Parteipropaganda leicht verfügbar wäre, ja fast auf der Hand läge, macht der Festredner den nachgiebigen Hausherrn konsequenterweise nicht zur idealtypischen Verkörperung des „netten Linken“. Der Geschäftsmann ist für ihn zunächst nichts anderes als ein „gut etablierter Bürger“, dem es „an Kraft und Mut fehlt nein zu sagen“, weil er „das Gesicht verlieren“ könnte. - Die zwei aalglatten Gauner des Lehrstücks, welche fusskratzend und zugleich mit schlau dosierter Anmassung seine Menschenliebe erbetteln, würden sich allerdings präzise ins ideologische Schema der SVP einfügen. Sie gäben ein drastisches Exempel her: nämlich als obskure Verkörperung der mit der Überfremdung unserer Heimat infiltrierenden Macht des Terrorismus und der organisierten Kriminalität. Doch der Minister verbietet sich solche plumpe Eindeutigkeit und erliegt nicht der Versuchung, Frischs Text zum Zweck explizit parteipolitischer Propaganda auszudeuten.

Da die Festrede aber den „Mut nein zu sagen“ zum Leitthema ihres Hauptteils wählt, macht sie den Zuhörern im Grundsatz trotzdem klar, dass sie Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ als politisches Lehrstück einspannt. Im vierten Abschnitt expliziert der Redner die handfeste „Moral“ des Stücks am Generalthema der SVP: der Stellung der Schweiz zur Europäischen Union. „Nachgeben provoziert immer wieder neue Forderungen.“ Wenn der bürokratische Riese bald mit den Muskeln spiele, bald mit Solidaritätsappellen locke, so gelte es seiner Verführungsmacht zu widerstehen, mahnt Maurer. „Wenn man unbedacht den kleinen Finger gibt, nimmt sie gleich die ganze Hand.“ Die Warnung mit Fingerzeig auf Biedermann wird an dieser Stelle nun allerdings zur Propagandafloskel. „Gute Miene machen zum bösen Spiel“ sei gefährlich, mahnt Maurer. Das weckt wohl den Eindruck simpler Schulmeisterei,  denn jedem Befürworter bilateraler Verhandlungen dürfte heute einleuchten, dass die „Blanko-Unterschrift“, welche die Schweiz zwingt, „künftiges EU-Recht zu übernehmen“, ein krasser Mangel an verhandlungstaktischem Realismus wäre. So naiv war Schweizer Politik gegenüber der EU nie, dass sie Diplomaten zu heikeln Verhandlungen schickte, die „Mühe“ hatten zum Vorteil des Landes „Nein oder Halt zu sagen“, weil sie fürchteten, ihr „edles, humanes oder modernes“ Image zu verlieren.

Die Feiertagsrede hofiert ihrer festlich gestimmten Zuhörerschaft. „In unserem Land ist das Volk die Elite und der Bürger Souverän.“ Es ist das Verdienst der „sogenannt gewöhnlichen Leute“, dass das Land den „Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten“ zum Trotz „gut positioniert“ ist. Holla! Die staatsmännische Belehrung schmeichelt. Aufgemuntert hört der Schweizer, dass er von Naturell „gutmütig und hilfsbereit, nett, freundlich und friedlich“ sei, doch gerade deshalb auch - der Redner reckt erneut den Mahnfinger - unentschieden und leicht erpressbar. In moralisierender Absicht spielt Maurer mit der vorgedachten Analogie zum Lehrstück. Das ist doch ziemlich platt. Man merkt, der Vergleich ist schief, da ihm eine krasse Fehlinterpretation der Titelfigur zugrunde liegt. Der Haaröl-Fabrikant ist nämlich in keiner Weise gutmütig, keine Seele von Mensch, sondern skurril-verlogen und feig. Er taugt nicht als Vorbild der naiv-idealtypischen Haltung, welche Maurer dem Schweizer zubilligen möchte und mit der sich dieser ja nicht ungern selber flattiert. Die Anbiederung des Festredners entlarvt sich da von selbst.  


Der wahre Titelheld des „Lehrstücks ohne Lehre“

Gottlieb Biedermann pocht selbstgerecht auf die bestehende Ordnung, wo immer sie seine Interessen schützt. Ganz besonders brutal verfährt er mit seinem Angestellten Knechtling. Vierzehn Jahre lässt er ihn zu seiner Zufriedenheit für sich schuften, schlägt ihm schliesslich die versprochene Beteiligung aus und treibt ihn durch Rauswurf in den Selbstmord. In einem Anfall von Entschlossenheit tritt der Hausherr auf seinem Estrich auf („Aufmachen! - oder ich rufe die Polizei…“) und macht den zwei geschäftigen „Untermietern“ unmissverständlich klar: „Ich dulde kein Benzin auf meinem Dachboden. Ein für allemal!“ Nach derart auftrumpfender Beherztheit wird er aber im Handumkehr kleinlaut. Das Dienstmädchen ruft ihn ans Telefon. Die Polizei ist wegen Knechtlings Suizid  am Apparat. Der Hausherr knickt ein und lässt seine Frau ausrichten, er sei ausser Haus.   

Biedermann hat, wie der „Verfasser“ in einer Ansage des Hörspiels anmerkt, „ein etwas schlechtes Gewissen“ und zwar „zu Recht“. Weil er aber „ein gutes haben möchte, ohne irgend etwas zu verändern“, was natürlich nicht gehe, sei er gezwungen „sich selbst zu belügen“. „Darin besteht seine Gefährlichkeit“, lässt Frisch den „Verfasser“ ergänzen. Der Seldwyler Haarölfabrikant hält sich für gerecht („Ich begehe kein Unrecht“). Unter seinesgleichen gilt er daher wie jeder ordnungsliebende Mann für menschlich. Was er zu verlieren fürchtet, sein Gesicht, ist allerdings nicht mehr als seine Maske.

Biedermann verdrängt, dass an den Verhältnissen, welche er mitverantwortet, etwas faul sein könnte. Er hat schon seiner möglicherweise unlauteren Geschäftspraktiken und Knechtlings wegen Angst vor der Polizei, obwohl er als notorischer Querulant am Stammtisch und zu Hause gerne über die „verfluchte Einmischerei überall“, über „Verstaatlichung“, „Vorschriften“ und „Mietpreise“ schimpft. Verdachtmomente im Estrich seines Hauses zu Hauf nähren seine schleichende Angst vor umstürzenden Veränderungen, welche von ihm ein Opfer fordern könnten. Wenn er den Vorbereitungen der sinistren Obdachlosen nicht mehr Einhalt gebietet, dann weil er es versäumt rechtzeitig die Gewissensfrage zu stellen.

In seiner unterschwelligen Angst, es sei am Ende eh zu spät, er sei schon zu ihrem Komplizen geworden und könnte zur Rechenschaft gezogen werden, lässt er den Dingen den Lauf. Ja, er redet sich sogar ein, „gesetzt den Fall, die beiden Gesellen führten wirklich etwas im Schilde“, dann wäre es ratsam, „ihr Freund“ zu sein, damit sie ihn „wenigstens verschonen“ würden. Die beiden Brandstifter haben ein leichtes Spiel, sie brauchen ihr Vorgehen nicht einmal mehr zu tarnen. Einer von ihnen, der Eisenring, reibt Biedermann sogar höhnisch unter, „die beste Tarnung“ sei „immer noch die blanke und nackte Wahrheit.“


Eine Rede Frischs über „Politik als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln“

Max Frischs Rede vor dem SPD-Parteitag in Hamburg 1977 über den Terrorismus und die Haltung der Intellektuellen könnte uns eine politische Bedeutung der Parabel im Sinn Frischs erschliessen, welche ihr nachträglich - zur Zeit des Terrors der Roten Armee Fraktion - erst zuwächst.

Die damals von den Sozialdemokraten gestellte Regierung unter Helmut Schmidt hatte die „Logik“ der terroristischen Bedrohung nach Frischs Ausführungen erfasst und sich nicht durch die Erpressung der Terroristen auf einen „Menschenhandel“ eingelassen. Wenn Frisch unterstreicht, dass sie sich durch ihre harte Haltung in den Entführungsfällen die „ethische Legitimation“ verschafft habe, ihr „Versprechen auf Mehr-Demokratie…nicht mehr preiszugeben“, so drückt der Autor in seiner Rede an die Parteigenossen eine Erwartung aus. In Konsequenz ihrer Entschlossenheit war die Regierung sich und der Gesellschaft der Bundesrepublik schuldig die Gewissensfrage zu stellen. Frisch formuliert diese in seiner Adresse an die Sozialdemokratie und an  s e i n e  Generation - die Vätergeneration der rebellischen Jugend der Sechzigerjahre -  gerichtet wie folgt:

„Wie unschuldig ist unsere Gesellschaft an der Wiederkunft des Terrorismus oder schuldig  - nicht als Sympathisanten, was wir als Reform-Demokraten ja nie haben sein können, sondern als  B i e d e r m ä n n e r  schuldig durch familiären und institutionalisierten Unverstand gegenüber einer ganzen Generation?“

Welche Leitziele hat die dem Krieg entronnene Gründergeneration des Wirtschaftswunders ihren Söhnen und Töchtern gesetzt? Weshalb mutierten sie in den Sechzigerjahren zu Verweigerern und Rebellen und schliesslich zu Terroristen? In einer Reihe rhetorischer Fragen umreisst Frisch seine Antwort zum Thema, etwa so: Was fanden die Vertreter der Nachkriegsgeneration vor „ausser der Einladung zum fröhlichen Konsum als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum“ oder - vorweg die Männer - zum Aufbau einer gesellschaftlichen „Karriere“ nach dem Vorbild und Plan ihrer Eltern? Und direkt an die Partei gerichtet ruft Frisch seinen Zuhörern die Fragen ins Gewissen: Ob die SPD für die Herstellung von „Mehr-Demokratie…als ein Ziel über die eigene Konsum-Person hinaus“ arbeite. Ob sie sich für die „Wiederherstellung der Politik mehr als die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln“ entschieden habe und sich für eine Politik engagiere, welche „im Gegensatz zur Profit-Schlacht aller gegen alle  L e b e n s w e r t e  stiftet.“

Die revoltierende Nachkriegsgeneration solidarisierte sich vor heute 50 Jahren in der Bundesrepublik gegen die Neuauflage der 1933 verhängnisvollen „Ermächtigugsgesetze“ („Notstandsrecht-Debatte“) und die in der Blüte des „Wirtschaftswunders“ anschwellende Konsummentalität, welche die Auseinandersetzung um die Verantwortung an den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur verdrängte. Ein anderes entscheidendes Thema der „theoriewütigen jungen Linken“ (Frisch) war ihr heftiger Protest gegen die internationale Unrechtsordnung des „Neokolonialismus“. Protektionismus, Kartellwirtschaft und Korruption förderten in den von autoritären Regimes dominierten Ländern der „Dritten Welt“ eine „Anarchie der Ausbeutung“. Die „Industriestaaten“ setzten aus demokratischer Sicht fragwürdige Mittel ein, um die mit ihrer Ideologie und ihren Zwecken konformen Verhältnisse zu stabilisieren. Multinationale Konzerne hatten praktisch freie Hand. Durch Aufrüstung ihrer Zugewandten hielten die Mächte, wo es ihnen opportun erschien, sogenannte „Stellvertreterkriege“ in Gang (Beispiel: Waffen gegen Erdöl!).

Die Generation der Sechzigerjahre machte Front gegen den Waffenhandel, die Stellvertreterkriege und besonders erbittert gegen den „schmutzigen Krieg“ im geteilten Vietnam. Sie verband sich in Solidarität mit den Armen der „Dritten Welt“, demonstrierte für „Verteilungsgerechtigkeit“ und gegen die „Entrechtung“ und „Ausbeutung“ der „Kleinbauern“ (Landvertreibung, Blockierung der Landreform) oder ethnischer Minderheiten. Radikale Gruppen innerhalb der Studentenbewegung solidarisierten sich - zunächst gewaltlos - mit dem „Befreiungskampf“ der Unterdrückten. Eine organisierte Abspaltung, in der Bundesrepublik „die Rote Armee Fraktion“, entschied sich für Untergrundkampf und Terror.

Solidarität, an welcher der Verdacht haftete, sich dem Interesse der sozialistischen Revolution anzudienen, galt in der Bundesrepublik und den Staaten des westlichen Bündnisses als Verrat. Frisch fragt in seiner Hamburger Rede, „wie viel Wirkungsraum“ den jungen linken Intellektuellen an den Hochschulen eingeräumt worden sei, „um das Potential ihrer Erwartungen einzubringen“. Und er schliesst mit der Antwort: „Erwartet wurde Unterwerfung; geblieben ist: einerseits die Resignation, verbunden mit Karriere, die Glaubensverlust und damit Selbstverlust niemals aufhebt, und andererseits die Paranoia der Terroroisten.“


Die Gegenwart: Globale Perspektive - verpasste Chancen   

Die revoltierende Nachkriegsgeneration hat heute das Alter Frischs zur Zeit seiner Hamburger Rede  (1977) erreicht. Die Thematik der Auseinandersetzung von damals zog die mediale Aufmerksamkeit bis in die 80-iger-Jahre auf sich. Dann absorbierte eine technisch-wirtschaftliche und mit der Wende von 1989 politische Neuorientierung die Kräfte. Sie löste einen konjunkturellen Aufschwung aus, welcher den Wohlstand und die Durchlässigkeit der sozialen Klassen steigerte, setzte einen Konsum- und Bauboom in Gang und neue Prestige- und Karriereziele in die Welt. In den Medien eroberten sich die smarten und populistischen Themen Platz und Vorrang. Es ist unter anderem die Zeit der High-Tech-Revolution, der Yuppies, der Town-Regenerations.

Ein „Turbo-„ und „Kasino-Kapitalismus“, welcher im letzten Jahrzehnt mit wild gewordenen Hedge-Fonds und Konsumrausch im letzten Stadium die Stimmungsschwelle einer Street-Parade erreichte, mündet direkt in das Seriebeben der Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese gipfelt in einer exorbitanten Staatsverschuldung, welche nun die Politik im Widerspruch zu den Regeln der Marktwirtschaft zu harten Lenkungsmassnahmen ruft. Das Grollen des Bebens bricht nicht ab. Die Utopie schrankenlosen Wachstums treibt die Weltwirtschaft  - im Augenblick ziemlich führungslos - mit geblähten Segeln zwischen der Skylla der Inflation und der Charybdis der Rezession dahin. Wenn sie auf Sand strandet, hat sie Glück. So sähe die „weiche Landung“ aus.

Zur Zeit des Kalten Kriegs setzte die Konkurrenz der zwei divergierenden Systeme um politischen Einfluss, Rohstoffe und Märkte der Ausdehnung ihrer Machtsphäre gegenüber dem Entwicklungsziel den Vorrang. Die Wende nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums hätte als ein Signal verstanden werden müssen. Da waren jedoch die stabilisierenden Rahmenbedingungen, welche eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten würden, dem losgetretenen Globalisierungsschub nicht gewachsen. Die aufsteigenden Staaten, in der Regel heterogene Diktaturen oder Clan-/Stammes-Oligarchien, der parteigelenkte Kapitalismus Chinas, religiös fundierte radikale Ideologien und Organisationen, private und staatliche Konzerne, Venture-Unternehmen und Investoren-Gruppen jeder Art besetzten in Konkurrenz schnell die neuen Freiräume und Einflusssphären. Der auf militärische Potenz bauende Allmachtswahn und die alle „Grenzen des Wachstums“ verkennende Spekulation taten das Ihre. Die Chance der führenden Mächte, sich auf eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu fokussieren, der diplomatischen Vernunft ihren Spielraum zuzubilligen und gemeinsam - ohne Wenn und Aber - das Problem der Umweltbelastung zu bewältigen, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten unzureichend genutzt oder verspielt.

Hätten die Industriestaaten den Ländern der „Dritten Welt“ umfassende Entwicklungs-Zusammenarbeit angeboten und beim Ausbau der Handelsbeziehungen die Regeln der Marktwirtschaft gefördert und geschützt, jedoch zugleich die Bekämpfung der Korruption machthungriger Eliten und der Klientelwirtschaft zur Bedingung gemacht, dann sähe die Welt heute anders aus. Voraussetzung zur Realisierung dieser Ziele wäre die Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen, einer funktionsfähigen Verwaltung und eines für alle Bevölkerungsklassen zugänglichen Bildungssystems sowie die Durchführung einer Landreform gewesen. Langfristig wären die Länder auf dieser Basis in der Lage gewesen, ihre Produktivität im Interesse der Entwicklung ihrer eigenen Volkswirtschaften und Bedürfnisse  nachhaltig zu erhöhen und regionale Märkte aufzubauen.         


Schicksalsgemeinschaft oder Abgrenzung?

Bevölkerungswachstum und soziale Not, Chancen- und Rechtlosigkeit, gewaltsame Unterdrückung und Korruption, anhaltende Anarchie und Kriege, Klimakatastrophen und Hungersnöte haben in Afrika, Asien und Mittelamerika Migration und regional umfangreiche Fluchtbewegungen ausgelöst. Heute sind die Industriestaaten nicht nur zunehmend mit ethnischen Konflikten und sozialen Unruhen innerhalb ihrer eigenen Grenzen, sondern auch unmittelbar an ihren Grenzen mit Asyl und Arbeit suchenden Menschen aus den Entwicklungsregionen und aus Kriegs- oder Krisengebieten konfrontiert.

Eine Begriffsklärung sei vorausgeschickt: Seit es keine „Zweite Welt“ mehr gibt, ist der Begriff einer „Ersten“ ebenso theoretisch und obsolet geworden wie der einer „Dritten Welt“. Die Welt ist teilbar, auch heute. Nur wie? Es gibt logische Gründe für die Annahme, dass die sogenannte „Abkoppelung“ der Entwicklungsländer und die Aussperrung ihrer Bevölkerung keine praktikable Lösung des Migrationsproblems ergibt. Eine geografische Teilung der Welt in Reich und Arm wäre unmöglich, da sie logisch auch die Teilung nationaler Gesellschaften impliziert - die Trennlinie ginge mitten durch London oder Birmingham! Ausserdem bliebe die Differenzierung etwa zwischen Entwicklungs- und Schwellenländern unlösbar.

Ökonomen mögen unter „Globalisierung“ etwas anderes verstehen als Soziologen. Börsenspekulanten sowieso. Sicher ist aber, dass Wirtschaft und Gesellschaft nur als Synthese begreifbar sind. Heute ist es undenkbar, von nationalen Gesellschaften auszugehen ohne den Begriff der Weltgesellschaft zu berücksichtigen. Die globale Informations- und Verkehrsvernetzung begründet ein Zusammenrücken kulturell und sozial differenter Regionen und Gesellschaften. Sowohl der Assimilationsdruck der Globalisierung als auch die Nähe und der Austausch mit Gesellschaften fremder Kultur verstärken die Reflexion auf das Eigene. Das Gleichmachende wie das Fremde schärfen in der Regel die Selbstwahrnehmung und beleben das Bewusstsein der kulturellen Eigenart. Die veränderte Selbstwahrnehmung kann eine Renaissance der eigenen Kultur auslösen. Die durch technische und wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte Globalisierung läuft somit paradoxerweise Hand in Hand mit einer kulturellen Regionalisierung.

Diese belebende und ausgleichende Entwicklung ist grundsätzlich wünschbar.  Wenn sich die der Globalisierung innewohnende Dialektik aber verstärkt, den Austausch behindert und zu einer Entfremdung oder sogar radikalen Abgrenzung zwischen Gesellschaften verschiedener Kultur führt, dann lässt sich die Ursache häufig in einer wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Disparität, einem sozial unverträglichen Wohlstandsgefälle ausmachen. Abgrenzung als einseitig durchgesetzte politische Massnahme führt niemals zu einer Lösung des aktuellen Grundproblems. Denn sie ist die konforme Konsequenz einer Reihe von Fehlentwicklungen und Versäumnissen, welche dadurch zustande kamen, dass die Utopie schrankenlosen Wachstums und die einseitige Orientierung auf Gewinnmaximierung die ausgleichende Instanz marktwirtschaftlicher Regeln und Prinzipien pervertierten; dass Arroganz und Durchsetzungsmacht - etwa einzelner multinationaler Konzerne - die Regeln ausser Kraft setzten, so dass die aus Verzerrungen erwachsende globale Krise folgerichtig die soziale Disparität noch vertiefte. Die dadurch hervorgerufene allgemeine Unsicherheit und Erosion der Werte gefährdet heute die Weltgesellschaft.        


Die Entwicklung, welche wir heute mit dem Wort Globalisierung bezeichnen, ist nicht rückgängig zu machen, es sei denn durch einen naturhaften Zusammenbruch des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüges, einen Kurzschluss aller Sicherungen, die Katastrophe einer von Unruhen, Anarchie und Kriegen begleiteten Regression. Gegen dieses pessimistische Szenario gibt es nur die Suche nach gemeinsamen Lösungen, eine Form globaler Mitbestimmung, die Kommunikation unter Berücksichtigung aller Interessen. Abgrenzung endet in der Sackgasse.

Es sei noch einmal erinnert: Die soziale Trennung geht mitten durch unsere Gesellschaft, durch moderne Städte und ausufernde Agglomerationen. Wenn die Wall-Street-Parade der Börsenmakler und Banker mit der Wachstums-Euphorie und ihren Gewinn- und Lohnexzessen eine weltweite Finanz- und Schuldenkrise, wachsende Arbeitslosigkeit und Rezessionsgefahr zur Folge hat - was sind dann die hirnlosen Plünder-Riots des Jugendmobs in Tottenham anderes als der - keineswegs nur rassistisch zu verstehende -afrikanische Schattentanz mitten im Konsumparadies der einstigen Hauptstadt des britischen Weltreichs?
 


Braucht Neinsagen Mut? Zur SVP-Initiative „gegen Masseneinwanderung“

Bundesrat Maurer mahnt die Zuhörer in seiner Rede zum Nationalfeiertag mit Hinweis auf den erpressbaren „Helden“ in Frischs dramatischer Parabel: „Manchmal braucht es Mut Nein zu sagen.“ Seine Partei, die Schweizerische Volkspartei, propagiert und erwartet ein beherztes deutliches Nein gegen die sogenannte  „Masseneinwanderung“, welche sie zum Thema ihrer neuesten Volksinitiative macht.

Die SVP umwirbt und macht Stimmung für ein Schweizertum, dessen Pflege in einer technisierten, mobilen, multikulturellen Gesellschaft als Sonderkultur und Inhalt einer Sehnsucht nach Bindung und Unversehrbarkeit einen legitimen Platz hat. Sie selbst zelebriert es an ihren Albisgüetli-Tagungen und anderen Treffen in volkstümlichem Rahmen und erfüllt durch Dauerpropaganda ihre ideologische Mission: einem im 18.Jahrhundert begründeten Volksbegriff zu einer durchschlagenden Renaissance zu verhelfen, einem Volksbegriff, welcher zur Zeit des europäischen Nationalismus als Produkt einer Mythologie kultiviert wurde und in Zeiten äusserer Bedrohung auch im 20.Jahrhundert - besonders während der Weltkriege - eine integrierende Rolle spielte.

An Schützen-, Sänger- und Trachtenfesten wurden damals der Nationalgeist und die Idee der Einheit und Einigkeit, mit der er sich verbindet, heraufbeschworen und auch heute regelmässig wieder belebt. Der Sonntagspatriotismus, die Volksfeste, die Tagsatzungen und natürlich die Erst-August-Feier mit ihren Reden und Feuerwerken haben etwas Reizvolles, halten eine Tradition und auch die Erinnerung an Einheit in schwierigen Zeiten wach. Vielleicht ist der Erste August nicht zuletzt deshalb erst vor etwa einem Jahrzehnt zu einem allgemeinen Feiertag erklärt worden, weil der Druck zur europäischen Integration und kulturellen Assimilation in einer Phase wirtschaftlicher und politischer Globalisierung wuchs und die Tradition sowie den nationalen Bestand überhaupt in Frage stellte.

Am Beispiel der Volksmusik kann man aber ein spannendes Aufbrechen, eine zukunftsfähige Erneuerung der verfestigten Tradition beobachten. Wo sich die tradierte Musik nicht nach aussen abgrenzt, sondern durch andere Genres - etwa indische, orientalische, afrikanische und insbesondere moderne Rock- und Popmusik - zu neuen Klangformen und Experimenten inspirieren lässt,  können wir gerade heute offenbar eine lebendige Manifestation dialektischen Widerspruchs erleben. Längst ist im Gegenzug zur Globalisierung und zum bürokratischen Zentralismus der europäischen Einigung eine eindrückliche Erneuerung regionaler Kultur im Gang, welche erstarrte Tradition aufbricht und sich fremden Einflüssen öffnet ohne sich selbst zu verleugnen. Musik ist grenzüberschreitend. Musik ist weltläufig. Das gilt für Kultur insgesamt. Sie lässt sich nicht einbinden, ideologisch oder politisch dienstbar machen. Das bedeutet keinesfalls, dass sie nicht von politischer Relevanz sei.



Die Propaganda der SVP entwickelt gezielt ein Bedrohungsszenario, von dem sie politisch zu profitieren hofft. Mit ihrer neuen „Initiative gegen Masseneinwanderung“, welche die Ab- und Ausgrenzung von Migranten institutionalisieren soll, übersteigert sie sich selbst. Mit dem Schlagwort überschlägt sie sich geradezu im Aufblähen von Horrorszenarien, wenn ihre Aktivisten besorgte Fragen unter das Stimmvolk streuen: Wie man denn im Fall einer Rezession und zunehmender Arbeitslosigkeit  (Massenarbeitslosigkeit?) den „Rückfluss“ organisieren wolle - gemeint ist mit dem ominösen Wort die Ausschaffung der durch die Grenzschleusen ins Land geströmten Zuwanderermassen.

Massenwanderungen gibt es in der Geschichte. Wirtschaftliche Chancenlosigkeit hat immer Migration ausgelöst. Kriege und Hungersnöte hatten etwa zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Europa Massenwanderungen zur Folge wie gegenwärtig in Ostafrika. „Masseneinwanderung“ ist jedoch eindeutig ein politisches Schlagwort, das die tatsächlichen oder zu erwartenden Relationen sprengt. Es ist unnötig und verwirrend, denn jeder vernünftige Politiker weiss, dass massenweise Einwanderung die Ressourcen und die Ordnung eines dicht besiedelten Landes von der Grösse der Schweiz hoffnungslos überfordern würde. Schrankenlose Aufnahme von Zuwanderern ist etwa so absurd wie die Vorstellung schrankenlosen Wachstums.

Wie in Lateinamerika um die Mitte des 20.Jahrhunderts haben gegenwärtig Revolutionen die arabischen Länder erfasst. Sie werden sich auf dem Schwarzen Kontinent vermutlich fortsetzen. Gewaltsame Reaktion wird nicht ausbleiben, aber die wohl unaufhaltsame  Entwicklung demokratischer Gesellschaften nur verzögern. Die Länder nehmen die Chance ihr Schicksal selber zu bestimmen in die Hand. Politisch Verfolgte und sozial Notleidende werden zwar weiterhin auswandern, aber es ist nicht zu befürchten, dass die revolutionären Umwälzungen Massenflucht und Wogen einer neuen Auswanderungsbewegung bewirken, im Gegenteil!

Eine vernünftige Lösung des Problems, welches der Gewissensfrage antwortet, ist in einer Verbindung von Zuwanderungsbegrenzung mit Entwicklungszusammenarbeit und dem Aufbau wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zu orten. Bei der begrenzten Zulassung geht es allerdings um mehr - weit mehr! - als bloss darum ein humanitäres Zeichen zu setzen. Die Intensivierung der Beziehungen setzt die Förderung des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses voraus. Sie erfordert im Rahmen dieser Zielsetzung einen Austausch von Menschen zwischen zugewandten Ländern. Menschen, die nicht bloss einseitig als billige Arbeitskräfte einwandern oder einen Zweck als Vermittler profitabler Joint-Ventures erfüllen, sondern Menschen verschiedener Berufsrichtungen, Studenten und Gäste, welche wechselseitig voneinander lernen und sich entwickeln können.


Frischs Schweizer Biedermänner  

Gottlieb Biedermann hat Angst: Er stellt die Gewissensfrage nach seiner Verantwortung (oder Mitverantwortung) nicht, denn er will „seine Ruhe“ haben. Er wünscht sich einen Staat als Nachtwächter, den Nachtwächterstaat, der sich möglichst wenig, jedenfalls nicht durch unnötige Regulierungen, in seine Geschäfte einmischt. Einen Staat, der ihn in Ruhe lässt und nur dafür sorgt, dass Ruhe herrscht. Natürlich auch Freude, die er bieder geniesst und als „Kultur“ zu schätzen weiss, wenn ihm danach zumute ist. Er hat auch seine sentimentale Seite. Aber an Kritik hat er keine Freude. Da fällt die Maske seiner „Nettigkeit“, welche sein kalt-berechnendes Selbstinteresse kaschiert.

Gottlieb Biedermann hat Angst vor Veränderung. Er will sich die Schweiz als Heimat erhalten, indem er sie abschottet. Er macht sein Land zum Reservat für Schweizer und dazu für ein paar reiche ausländische Steuerzahler. Er macht die schweizerische Kulturlandschaft zum Nationalpark. Die Schweiz ist nur als Reservat  s e i n  Land. Das Land mit seinem dank „heimischer“ Industrie, Landwirtschaft und Arbeitskraft starken Franken, der härtesten Währung der Welt. Es ist die Schweiz mit Eigentumszertifikat und den drei „S“ für „sicher, sauber und schön“ und einem VIP-Portal für fremde Kapitalkraft und Touristen. Ausserdem mit einer Hintertüre für ein Kontingent fremder Arbeitskräfte im Notfall.

Gottlieb Biedermann arrangiert sich mit den unheimlichen Gästen im Quartier seines Dachbodens aus Angst. Sein „Nein“ bei der Abstimmung gegen Zuwanderer wäre kein mutiges gewesen, weil er sich ja nicht mehr als die Probleme, welche er sich nun durch seine Feigheit einbrockt, hätte vom Leib halten wollen. Er will nicht mehr als seine Ruhe. Auch jetzt. An Lösungen war und ist er nicht interessiert, weil sie, wie er genau weiss, ein Opfer fordern. Biedermanns „Nein“ ist ein Verdrängen, ein Aufschieben. Und ein Abschieben. „Stopp jetzt!“ sagt er.

Biedermanns Autor sagt in seiner Rede 1977, dass „die Gelassenheit der Pharisäer“ einen angesichts „Napalm-Genozid“ in Vietnam, „entsetzen“ könne. Biedermann war es nicht, der damals „Stopp“ rief. Es ist nicht anzunehmen, dass die Gewalt-Exzesse des Zahnarzt-Diktators in Syrien gegen die gewaltlos demonstrierenden Anhänger der demokratischen Revolution - gegen ein Volk, welches sein Schicksal in die eigene Hand nimmt - unseren Gottlieb heute aus seiner Ruhe brächten. Wenn aber in Seldwyla Riots ausbrechen, jugendliche Randalierer Geschäfte plündern und Autos abfackeln sollten, dann würde er „Stopp!“ schreien, sofort nach der Polizei rufen und niemals nach Gründen fragen.

Sollte es Anlass geben, irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen dem „Helden“ des Stücks und lebenden Personen zu vermuten, so lässt sein Autor versichern: „Herr Biedermann ist eine erfundene Figur: Herr Biedermann in uns selbst.“

Zum Schluss: Heimat wird nicht heimischer, wenn man das vermeindlich Böse - das Fremde - an ihren Grenzen aussperrt und ihre Literatur verharmlost, damit sie brauchbar wird.






WER SCHAFFT MIT EINEM SCHWARZEN "VERKEHRSZEICHEN" SICHERHEIT?