GELD
IST ABSTRAKTION IN AKTION
Vorbemerkung
1969 konstatiert Friedrich Dürrenmatt, dass das sich verdichtende Netz von Autobahnen einen Schrumpfprozess eingeleitet habe, welcher die Schweiz endgültig in ein Liechtenstein verwandeln werde. Er warnt in seinem Essay über Kulturpolitik vor den kulturellen und politischen Auswirkungen des Raumverlusts im Bewusstsein der Schweizer. Wir hielten uns für kultiviert, weil wir Kultur im Glauben besässen, Kultur sei für Geld zu kaufen wie Mobilität, Waren und Waffen.
Wieviel Aufwand leistet sich der Schweizer heute für Verkehrsdichte und Tempo, wieviel im Vergleich für Kultur?
Inhalt:
Der
Denker brettert
Das
Geld - Break-Dance auf Rollen
Kommerzialisierung
und Krise
Der
verlässliche Charme der Werbung:
Werbung
kreiert Bedürfnisse und verspricht Erfüllung: die Motivforschung, Rückblick und
kritischer Ausblick
Schnittware
und Haute Couture auf dem Werbe-Laufsteg - wir lassen aktuelle Beispiele Revue
passieren
Käuflichkeit
und Verkäuflichkeit des Menschen
Gewusst
wie: Wissen wir, was wir wollen oder nicht wollen?
Kaufkraft
und Verführungsmacht des Geldes
Die
Marketingmaschine von RED BULL oder Beihilfe zur Verwirklichung von Flugträumen
Sloterdijks
Fortschrittsanalyse: „Technokreditismus“ als Motor der sich eigengesetzlich
fortzeugenden
Entwicklung und die Metapher vom blinden Gleitflug der Wirtschaft
Antrag
zu einer Sonderpreisverleihung
Der Denker brettert
Kann
sich einer den eben achtundsechzig gewordenen Altachtundsechziger Sloterdjik
auf einem poppigen Skateboard durch das solidbürgerliche Karlsruhe schwingend
vorstellen?
Wie
der Residenzstadt-Verunsicherer aus der Hocke beschleunigt, sich in der Kurve
locker aufrichtet und mit fliegendem Haar gegen Blütenstaubwolken und
Frühlingswind durch die Planstadt-Alleen rollt - zum Beispiel morgens auf
seinem Weg hin zur Hochschule.
Wie
er, während Menschen und Dinge wie Lichtreflexe an ihm vorbeiflitzen, mit
lyrisch gestimmtem Blick in seinem helmfreien Kopf den Grundriss einer
aphoristischen Philosophie entwirft, nicht ohne simultan die Möglichkeit der
halluzinogenen Wirkung von Blütenstaub zu reflektieren.
Wie
er am Ziel das Skateboard unter den Arm klemmt, die Treppe zum Auditorium im
Sprung erklimmt und ohne sich eine Atempause zu gönnen das Katheder besteigt,
sein Manuskript entfaltet, seine von der Erhitzung der frischen Fahrt geröteten
Seemannsbacken aufbläht und die Sache ohne Floskeln auf den Punkt bringt:
„GELD
IST ABSTRAKTION IN AKTION. Wert hin oder her, Geschäft bleibt Geschäft. Dem
Geld ist alles egal. Es ist das Medium, in dem die Gleichsetzung des
Verschiedenen sich praktisch verwirklicht …. (es) bewahrt seine
unerschütterliche Indifferenz angesichts aller noch so verschiedener Güter,
gegen die es sich vertauscht .…Die Philosophie des Geldes entdeckt das zynische
Phänomen in der Tatsache, dass dem Geld die Kraft innezuwohnen scheint, auch
Güter, die keine Waren sind, als wären sie solche, ins Tauschgeschäft zu
verwickeln. Es ist die offenkundige Käuflichkeit von allem und jedem, die in
der kapitalistischen Gesellschaft einen allmählichen, doch stets sich
vertiefenden Prozess zynischer Korruption auslöst.“ (Kritik der zynischen
Vernunft, Bd.2, II. B.3.)
Das Geld - Break-Dance auf
Rollen
Ja, doch der Fortschritt
korrumpiert auch. Er bestimmt die Spielregeln, wir sind in seinem Lauf. Er
macht uns zu Fans, solange seine Wirkung anhält. Aber die Macht der Gewöhnung
wird zur Last. Die Schulden wachsen und
werden diskret sozialisiert. Die Überlebensstrategie des Systems funktioniert
auf Zusehen! Doch Inflation
unterminiert Wertgefüge, zerstört Vertrauen. Irgendwann sind die angehäuften
Schulden nicht mehr bezahlbar. Und die Kritiker bekommen Recht. Wenn der
Fortschritt das Kontinuum zerreisst, dann treiben wir zur Katastrophe. Der
Augenblick, wo er die Regeln aufhebt, der Mensch die Kontrolle verliert und
keine Macht seinen Lauf mehr aufhält, ist nicht berechenbar.
So sprach Sloterdijk, als es
nach der wirtschaftlichen Befindlichkeitskrise der Siebziger-Jahre mit einem
Salto unter Reagan und Thatcher wieder losging. Die Yuppies lösten die
weltfremden Yippies ab, nach der Verweigerung feierte der Konsumhedonismus
Wiederauferstehung. Ja, so sprach Sloterdijk 1983 - noch oder schon - im
optimistischen Vorwende-Jahrzehnt über die egalisierende Macht des Geldes.
Die Yuppies begannen die
unerhörte Leichtigkeit des Seins in die Vertikale des neuen Aufschwungs
einzuführen, und generierten mit ihren frischen Trends, welche an der
Wallstreet die Kurse hochschaukelten, schnelle Milliarden. Als Sinnbild ihres
Lifestyles perfektionierte die Epoche der Börsensurfer in den Neunzigern -
nachdem der freie Markt endgültig über das Imperium des Bösen gesiegt hatte -
das Skateboard zum trickreichen wendigen Streetsurfer und erfand Wobbel-,
Free-, Wave- und Snakeboard.
Das Waveboard mit der
schlanken Taille und den weichen Rollen ist das schicke Surfboard für den
Asphalt, der wahre Wellenflitzer, der Freestyler für Wallstreet-Yuppies.
GELD IST ABSTRAKTION IN AKTION , sagt unser philosophischer Rollbretterer. Sein Wesen ist paradox. Geld
ist so veranlagt, dass es sich Gewinn zeugend anlegt und zugleich Wert
vernichtet. Da es sich dem Selbstinteresse andient, erzwingt es um dessen
Preis, was uns als Fortschritt voranbringt. Im erkauften Fortschritt
manifestiert es seine abstrahierende Macht. Geld ist Motor des Wachstums. Und
zugleich Anstifter von Inflation und Verstrickung in Schuld.
Einspruch! Soll Fortschritt
Zwang sein? Ist Wachstum nicht sozialisierte Wertschöpfung?
Kapital rechnet und
quantifiziert. Es abstrahiert die Dinge auf ihren berechenbaren Nutzwert.
Zwangsläufig rationalisiert der Fortschritt Werte weg, welche das Gegebene im
umgreifenden Zusammenhang seines Daseins konstituieren. Sein Tempo und seine
Faszination verengen die Optik. In seinem Lauf vernichtet er vorerst Werte in
der öffentlichen Wahrnehmung und darauf real, oft gewaltsam und reihenweise.
Ihr Kurs verfällt. Der Fortschritt verstösst sie in die monetäre Wertlosigkeit.
Wo er sich zur Beschaffung seiner Ressourcen auf Kosten des Rechts bereichert,
erzeugt er Not. Doch die Dynamik seiner Performance bannt uns, besticht unseren
Blick. Ihre Magie blendet, macht uns blind für das Umgreifende, für den
Zusammenhang.
Umgekehrt! Veränderung ist
doch eine Chance, wenn es um die Grundlagen und um das Überleben geht.
Fortschritt erzeugt Synergien, bedeutet Aufbruch, Entwicklung. Investition in
die Zukunft ist ein Wagnis, das sich lohnt. Lohnen muss. Immer wieder. Wachstum
bedeutet Kontinuität, Leben!
Kommerzialisierung und Krise
Nach der historischen Wende
vor 25 Jahren steigt die Finanzwirtschaft mit New Economy und der Vernetzung
der Informationssysteme zu unerhörter Machtfülle auf. Das Geld beginnt sein
alle Werte absorbierendes und abstrahierendes Wesen zu entfalten. Mit
pseudowissenschaftlicher Borniertheit und marktgetriebener Hemmungslosigkeit,
mit der systematischen und zugleich kopflosen Produktivität einer Maschine
perfektioniert sich die Kommerzialisierung. Sie durchdringt, bewertet und verwertet
zeitgleich mit der Entwicklung der Informationstechnologien alle möglichen
Grundlagen, Bereiche, Produkte, Bedürfnisse,
Werte und Unwerte - wir drehen ihr Kaleidoskop: Kultur, Information,
Medien, Forschung und Bildung, Intelligenz und Dummheit, Gesundheit und
Krankheit, Ökonomie, Ressourcen,
Energien, Rohstoffe, Gene, Logistik, Transport, Luft, Meere, Salz,
Salpeter, seltene Erden, Sicherheit, Rüstung, Ferienparadiese, Fitness und
Wellness, Wahn und Schund, Schrott, Müll und Tod …. Mit der globalen
Kommerzialisierung der Arbeitskraft erreicht die Entwicklung im Hinblick auf
die soziale Auswirkung ihre zynische Kulmination. Wo das Klonen und Klauen von
Geldwerten sich gesetzlicher Kontrolle entzieht, führt auch die Verwertung
menschlicher Arbeitsleistung unter dem Druck der Verhältnisse in
Entwicklungsregionen zu brutalsten Formen der Ausbeutung. Die Kriminalisierung
von Wirtschaft und Bürokratie folgt in Ländern ohne Rechtsschutz derselben
Kausalität wie die Militarisierung. Wirtschaftskriminalität, Korruption
und organisierte Kriegsgewalt entstehen
heute in der Regel unter dem zwingenden Einfluss globaler ökonomischer
Entwicklungen.
Weil eine ökonomische Theorie
und der Optimismus der Anleger in der Phase des Neoliberalismus davon ausging,
dass der Rohstoff Information - im Gegensatz zu den natürlichen Rohstoffen -
quasi unbegrenzt verfügbar sei und dass die neue Technologie, um eine
unerschöpfliche Nachfrage zu bedienen,
ihn auch global unbegrenzt verfügbar machen werde, baute man darauf, dass
der Börsenwert der Hard- und Softwareproduzenten ein unbegrenztes
Wachstumspotential speichere. Diese Täuschung löste die Dotcom-Krise aus. Die
Spekulationsblase platzte 2003. Als sich die Woge überschlug, riss sie nicht
nur viele verwegene Surfer, sondern auch die Hoffnungen kleiner Sparer und
Kreditnehmer in ihren Strudel. Zwar vernichtete sie eine Menge Anlagekapital,
aber die Wirtschaft hatte die neuen Technologien und Geschäftsmodelle bereits
in ihre Kreisläufe integriert und raste im Sog der Riesenwelle mit Schwung
dem drohenden Kollaps einer globalen
Finanzkrise entgegen.
Die
Aspekte sind paradox: Konstrukt und Wert entwickelten sich auseinander. Vor
Ende des zweiten Jahrzehnts nach der Wende verpuffte der Schwung des
ökonomischen Borderlinings in der Finanzkrise, denn die Substanz war masslos
überschätzt worden. Als die Sicherungen durchbrannten, fehlte das Notprogramm.
Das Wirtschaftsklima bleibt nach dem Finanzkollaps trotz aufgewendeter
Steuermilliarden und einschneidender Reformen zur Tilgung der Überschuldung
unstabil. Die Generation der New Economy steckt im dritten Jahrzehnt nach der
Wende in einer wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Dauerkrise des
Verantwortung Auf- und Abschiebens. Ein Gefühl der Schuld frisst sich in die
Seele und verwandelt sich bei jenen, welche am wenigsten Schuld tragen, in
entlastende Wut. Sie, die in reichen und ärmeren Ländern auf die Strasse gehen
und demonstrieren, sind nicht der „Mob“, sondern Menschen, denen die Krise
erspartes Eigentum, die Arbeit und die Zukunft raubte.
Ob
eine an überholten Modellen orientierte Reform die neue Wende schafft und die
Wirtschaft in die Lage versetzt, den Auszubildenden real und ideell
ausreichende - das heisst auch: sinnstiftende! - Chancen anzubieten? Oder ob -
angesichts der Verschärfung politischer Spannungen und wachsender ökologischer
Belastung - eine durch smartbunte Werbemimikry getarnte Rat- und
Orientierungslosigkeit um sich greift? Die Beweislast für die Richtigkeit der Thesen
und Entscheidungen ist an die Geschichte delegiert.
Die
Gestaltung der Zukunft hängt davon ab, ob die „schrecklichen“ (Sloterdjik)
Jungs/Girls der nächsten Generation in die Verantwortung der
„Trendsetter“-Generationen einsteigen werden. Ob sie diese mittragen können,
wenn sie die Leichtigkeit des Seins in einer Welt entdecken wollen, welche sich
nicht am verabsolutierten Vernunftmass von Kommerz und Konsum orientiert. Und
vor allem davon, ob Zeit, Raum und Ressourcen für eine grundlegende Umgestaltung
der Verhältnisse ausreichen, bevor die Dauerkrise in die Katastrophe eines
neuen, in seinen Dimensionen kaum vorstellbaren Kriegs einmündet.
Die
Leistungsmanie light wird das Boarden möglicherweise noch in diesem Jahrzehnt
zur olympischen Disziplin erheben. Das Boarden wird wie schon das Freestyle-
oder Speedskiing durch den exorbitanten Leistungsanspruch der Worldgames
geweiht. Neuerdings erlebt das Streetskaten auf Longboards einen verblüffenden
Aufschwung. Die erwachsende Generation - die „schrecklichen“ Jungs (vor allem
sie und ein paar Öko-Oldies, noch kaum die Girls) - scheinen indessen auf den
ungehobelten Skatern nicht Spitzenperformance anzustreben, sondern die schnelle
billige Strassenmobilität entdecken und den Trend zur Befreiung vom Stau leben
zu wollen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, verwandelt sich der Lifestyletrend
der Yuppie-Jahrzehnte gegenwärtig zum praktischen Protestmittel gegen die
Verschwendung von Zeit und Energien im urbanen Strassenverkehr. Vielleicht
werden radikalere Nachfolger der Occupy-Bewegung auf den Asphaltflitzern sogar
den Bürgerschock einer neuen Revolte auslösen. Sie könnten zum Beispiel mit dem
Slogan „Green contra Spleen“ gegen blinde Gier und masslosen Kommerz
revoltieren. Menschenrechtsverstösse, Umweltvergiftung und Rüstungsproduktion
dürften zu den Themen zählen, welche dereinst nicht mehr bloss Transparente vor
bunten, doch immerhin zivilisierten Aufmärschen hertragen.
Der verlässliche Charme der Werbung
"Die Werbung verführt uns, neue Dinge zu gebrauchen, bis wir sie zu brauchen glauben." (Ernst Reinhardt)
Werbung kreiert Bedürfnisse und verspricht Erfüllung: die Motivforschung, Rückblick und kritischer Ausblick
Robert W.Woodruff, der
Präsident der COCA COLA Company, gründete 1926 das Foreign Sales Departement
des Konzerns mit dem Vorsatz, das in den Staaten schon seit einer Generation
eingeführte Getränk weltweit für jedermann „in an arms reach of desire“ zu
verbreiten. Über die Export Corporation wurde das „sublimierte Wesen Amerikas“,
wie ein Journalist den Durstlöscher bezeichnete, zum globalen Label. Durch
Tundren und Wüstengürtel eroberten die Coca-Cola Trucks das interkontinentale
Imperium des US-Konzerns, welches den politischen Imperialismus, die
Rohstoff-Verknappung des zweiten Weltkriegs und die Spaltung des Kalten Kriegs
überdauerte.
Die Flasche war so
verführerisch wie das prickelnde Aroma des Getränks. Der durstige Betontrucker
am Nevada-Highway musste nicht lernen, mit der Faust ihre Taille zu umgreifen,
um ihren Inhalt in die lechzende Kehle zu kippen. Im Werbespot leert der
Nebendarsteller aus den Hollywood-Western den Sprudel in einem einzigen Zug und
schafft es eindrücklich, mit einem genüsslichen Rülpser den berühmten Slogan
„That’s the real thing!“ zu artikulieren. Eine Handvoll seiner Kollegen, welche
in ihrer Lebens-Hauptrolle die berittenen MARLBORO-Männer auf der Pferderanch
spielten, starben - wohl im Unterschied zum Cola-Mann - im besten Mannesalter
an Lungenkrebs. Es war kein verkaufsschädigendes Gerücht, sondern eine
Tatsache. Aber die Werbe-Kampagne von Philipp-Morris war ein Kino- und
TV-Dauerrenner. Sie katapultierte die Marke mit dem cleveren Weiss-Rot-Signet
seit den Achtzigerjahren trotz dem Kettenraucher-Drama an die Weltmarktspitze.
NYLON. Die chemische
Grundlage des modernen Kunststoff-Kosmos - Makro-Kettenmoleküle - entwickeln
die Chemiekonzerne DuPont und IG-Farben in den USA und in Deutschland fast
gleichzeitig zu Beginn des zweiten Weltkriegs. Deutschland produziert den
„Nazi-Nylon“ PERLON. Der Damenstrumpf wird nicht zur Marktreife entwickelt,
denn Perlon erweist sich als hochtauglich zur Herstellung von Seilen,
Fallschirmen für die Luftwaffe und Hochdruckschläuchen für Flugzeugreifen. Die
Erfindung trägt dem IG-Chemiker Schlack das Kriegsverdienstkreuz ein. Der
US-Nylon-Damenstrumpf erlebt dagegen nach einer beispiellosen Werbekampagne am
Tag seines Marktauftritts einen reissenden Absatz. Die Konsumschlacht geht als
„N-Day“ in die Geschichte ein. Am selben Tag - es ist der 15.Mai 1940 - nimmt
in Europa die Drôle de Guerre ihr abruptes Ende. Die Wehrmacht leitet mit dem
Durchstoss bei Sedan den „Sichelschnitt“ des Blitzkriegs ein. Propaganda und
Geheimhaltung beherrschen den Kriegsmarkt. Als Deutschland, in Besatzungszonen
geteilt, dank der Parforce-Leistung der Frauen aus Trümmern aufersteht, senden
die Transportmaschinen der US-Air Force in den Care-Paketen auch
Damen-Nylonstrümpfe nach Deutschland. Auf dem Schwarzmarkt erzielen sie neben
amerikanischen Zigaretten als harte Tauschwährung hohe Preise und symbolisieren
den Anfang des westdeutschen Wirtschaftswunders. Die Interessengemeinschaft der
„deutschnationalen“ Chemie, welche Bayer, BASF und Höchst gleichgeschaltet
vereinte, wurde von den Besatzungsmächten nach Kriegsende zerschlagen. In den
Fünfzigerjahren produzieren beide deutschen Staaten ihre Kunststoffprodukte
unter konkurrierenden Marken auf der Basis von Perlon. Leicht, aber wenig
hautfreundlich bestimmt das Produkt den Trend der Textilmode.
Auf dem „freien Markt“ der Bundesrepublik
entfaltet sich die Kunststoffindustrie in der Nachkriegszeit schnell und
sichert sich PERLON als Markennamen. Der Arbeiter- und Bauernstaat erfindet für
„seine“ Kunstfaser den eigenen Markennamen DEDERON. Aufdringlich hat die
Propaganda der Republik die Initialen ihres Kürzels darin eingewoben. Das
Beispiel demonstriert, wie der Staat die Produktewerbung in den Dienst seiner
Ideologie einspannt. Der Slogan „Chemie für Frieden und Sozialismus“ betont die
politische Zielsetzung der volkseigenen Produktion. Die textilen Erzeugnisse
sind in der Mehrheit so steril und reizlos wie das biedere Erscheinungsbild der
DDR-Printmedien. Die Werbung im Erzieherstaat verbietet sich den Charme der
Verführung, welchen das textile Produkt Nylon in der westlichen Modewelt und
ihrer Werbung ebenso erregend und marktkonform in Szene setzt wie die Magazine
des Print-Boulevard ihre Aufmachung.
In
den USA begann die Motivforschung die Macht der Beeinflussung im „Reich der
Wünsche“ methodisch auszuweiten. Vance Packard und der Deutschamerikaner Ernest
Dichter begründen mit wissenschaftlichem Anspruch einen umstrittenen Trend in
der Werbung. Es ging darum, wie Dichter einmal formuliert, die „Seele der
Dinge“ zu ermitteln. Durch raffinierte verhaltenspsychologische Experimente und
systematische Befragung ausgewählter Kunden ergründete man die Wechselbeziehung
zwischen Wesensmerkmalen der Produkte und elementaren - meist unterschwelligen,
besonders geschlechtsspezifischen - Bedürfnissen oder Neigungen. Die
Motivforschung diente dem lukrativen Zweck, Werbestrategien zu entwickeln, um
den Kunden gezielt die Erfüllung ihrer praktischen und zugleich heimlichsten
Wünsche durch den Kauf eines Produkts zu suggerieren.
Ernest
Dichter untersucht beispielsweise die Wesensmerkmale verschiedener Textilien.
Er bemüht die hebräische Schöpfungsmythologie und spekuliert, das Bedürfnis
sich zu bekleiden entspreche einem Urbedürfnis nach Schutz und Restitution des
durch die Scham vor der Nacktheit verlorenen paradiesischen Zustands. Die
Befragung ergab, dass Frauen Baumwollstoff als „keusch“, „unschuldig“ und
„rein“, zugleich aber als „sehr weiblich“, „reizvoll“ und “auf stille Art sexy“
erleben. Männer dagegen bezeichnen ihn etwa als „billig“, „kitschig“ und als
„nichts Dauerhaftes“. Wolle hingegen verbinden beide Geschlechter mit „Stärke“,
„Männlichkeit“ und schützender „Wärme“. Während die von Frauen und Männern als
maskulin erfahrene Wolle also „schützt“ und „verhüllt“, gilt Seide wiederum für
Männer als „sexuell aufregend“, da sie den weiblichen Körper, indem sie ihn
zart und durchscheinend verbirgt, „enthüllt“.
Dichter
mutet der Werbung die Aufgabe zu, die Vorurteile der Männer gegenüber
Baumwollstoffen zu entkräften. Sie soll ihnen die Fortschritte in „Qualität und
Dessin“ bewusst machen und ihre sinnliche Attraktivität steigern, um der
Baumwolle zum Durchbruch auf dem Markt für Männermode zu verhelfen. Da es
seinen hartnäckigen Widerstand zu brechen gilt, muss der Mann gewissermassen zu
einer mentalen Geschlechtsumwandlung verführt werden. Gelingt die Strategie,
dann zeichnet sich ab, dass er sogar die intime feminine Seide zu tragen
begehren würde. Was der Eisprung der Kriegsgenerationen genetisch nicht vorsah,
gelang in der Nachkriegszeit der Modewerbung und dem Markt. Das geschlechtskonforme
Must gestattete Konzessionen zugunsten duftiger und cooler Gewebe. Der Mann
liess sich so weit konditionieren, dass er sich raue Wollstoffe wie den Tweed
zusammen mit den anerzogenen virilen Tugenden der national-imperialen Epoche
allmählich abgewöhnte. Welche technischen und ökonomischen Faktoren dabei
ausser der Werbung trendsetzend mitwirkten sei dahingestellt. Bei der
Nachkriegsgeneration spielte zweifellos der Konflikt mit den Vätern eine
stimulierende Rolle. Zunächst mischte aber der Kunststoff die Modebranche und
den gesamten Textilmarkt vielseitig auf. In den neokolonialen Sechzigerjahren
führte er nach Damenstrumpf und Bluse das knitterfreie Nylonhemd als
männertaugliches Oberstück ein. Dass die Kunstfaser lästiges Bügeln erspare
galt vorerst als Trumpf, doch ihr Tragkomfort erwarb ihr bald einen
zweifelhaften Ruf. Sie galt als hautfeindlich und schweisstreibend. Im Sektor
Unterwäsche, Shirts und Shorts musste erst eine textiltechnische Revolution mit
Thermo und Techno dem Gewebe zum sportlichen Rekordlauf verhelfen.
Es
macht neugierig, welche geschlechterspezifischen Eigenschaften Dichter aufgrund
einer Befragung dem Nylon angedichtet hätte. Sein Buch „The Strategy of Desire“
erschien um 1960. Die Frühzeit der Motivforschung ist die Epoche des Highwaybooms
und der amerikanischen Strassenkreuzer mit den imponierenden Heckflossen, das
heisse Jahrzehnt des kapitalistischen Wirtschaftswunders und seiner
unersättlichen Steigerung der Ansprüche. Die aufregende Zeit textiler Kunststoffe begann erst. In Dichters
exploratorischer Hinterlassenschaft stösst man immerhin auf psychologisch
aufschlussreiche Erhebungen zur knitterfreien Bettwäsche. Sie decken die in
geschlechtlichen Beziehungen spröde calvinistische Mentalität des
amerikanischen Bürgertums der Epoche auf: „Nein danke!“ sagt die sittsame
Hausfrau zum Fiberprodukt für das Schlafzimmer, denn der Mann könnte, in
Nylonwäsche gebettet, auf unkeusche Gedanken kommen, von moralisch nicht
koscheren Träumen heimgesucht werden, was der textilen Restitution
paradiesischer Zustände abträglich wäre.
Doch
die Pille und der schon Mitte der Fünfziger-Jahre im Vorfeld der sexuellen
Revolution erschienene Kinsey-Report zünden in der prüden Gesellschaft der
Sechziger- und Siebzigerjahre ihre Tabus sprengende Ladung. Revoltierende linke
Studenten und Sozialanarchisten wagen es paarweise schamlos nackt aufzutreten
und für das Gleichstellungsparadies zu demonstrieren. Der vom bürgerlichen
Profilierungszwang zu seiner Emotionalität befreite Mann und die aus ihrer einschnürenden
Geschlechterrolle ausbrechende Frau proben in Kommunen zwanglos neue Formen des
Zusammenlebens. Eva ist nicht erst aus der Rippe des Mannes geschaffen, sie ist
schon da. Sie trägt Jeans wie Adam, spielt unter dem hautengen Stoff ihre Reize
aus und manifestiert zugleich ihre Mitentscheidungskompetenz, während Adam sein
weiblich langes Haar als Zeichen intellektueller Autorität
struppig-wildwachsend oder zum Rossschwanz gebündelt und zu verfilzenden
Zöpfchen geflochten trägt.
Die
Entgleisung der rebellischen Generation stört die auf Aufbau und Fortschritt
ausgerichtete und von Neurosen geplagte heile Väterwelt der Nachkriegszeit auf.
Die Grossmächte und das geteilte Europa sind auf den wirtschaftlichen
Konkurrenzkampf und die nukleare Dominanz ausgerichtet, China hat die
maoistische Revolution konsolidiert und die USA sind heillos in den
Vietnamkrieg verstrickt. Die Auflehnung für Abrüstung und den Weltfrieden
flösst der Studentenbewegung 1968 die nötige politische Energie ein. Im
folgenden Jahrzehnt spaltet sich die Bewegung, die Energie verpufft, die
gemässigte Mehrheit trägt ihren Reformdrang in die Institutionen, während eine radikalisierte Fraktion im
Untergrund den Terror organisiert und die Reaktion der Staatsordnung
legitimiert.
In
den Anfängen der Motivforschung herrscht ein heute etwas blauäugig
erscheinender Zweckoptimismus vor. Ihre hausgemachten Rezepte und Strategien
waren in den Fünfzigern vielleicht masssetzend, muten aber angesichts der
komplexeren Bedingungen des globalen Markts und der Dominanz elektronischer
Medien bei der Vermittlung und Selektion des Angebots ziemlich archaisch an. So
hat zum Beispiel das für das Mittelklasse-Milieu typische Prestigebedürfnis als
Konsummotiv auf dem PKW-Markt nicht mehr den herausragenden Stellenwert,
welchen ihm die Motivforschung in der Epoche der benzindurstigen, mit
imponierenden Heckflossen und spiegelndem Chrom ausgestatteten Limousinen
beimass. Durch ihre eklatante Aufmachung präsentierten sich diese vorsätzlich
als Statussymbole. Motivforschung im Dienst der Werbung hat heute wesentlich
komplizierteren Wechselbeziehungen zwischen Angebot und Bedürfnis Rechnung zu
tragen. DESIGN TRIFFT LEISTUNG. Der zugkräftige Slogan unterstreicht die
gültige Relation. Die Ansprüche haben sich entwickelt, der Konsument lässt sich
durch Schnickschnack nicht mehr so leicht verführen, er verfolgt die technische
Entwicklung, erwartet Orientierung. Der anspruchsvolle PKW-Käufer eignet sich
in Hinsicht auf Komfort, technische Qualität, Sicherheit, Energieverbrauch,
Power und Preis des Produkts selbständig eine Menge an Information an und
verfügt in der Regel über ein reflektiertes wertkritisches Konsumbewusstsein.
Coolness in diesem Sinn kennzeichnet ihn stärker als das Bedürfnis, sich mit
einer Anschaffung gesellschaftlich zu profilieren. Seine intellektuelle
Coolness verbindet sich aber mit einem starken emotionalen Moment. VON NUN AN /
IST DIE PERFEKTE GERADE EINE KURVE. VON NUN AN GIBT ES EIN AGILERES UND
NATÜRLICHERES GEFÜHL VON PERFORMANCE. VON NUN AN GIBT ES INFINITI. Kurve und
Gerade sind unendlich eins - Symbol der Perfektion. Im natürlichen Gefühl
gemeinsamer Performance wachsen Mensch und Automat zusammen. Perfektion ist
zentaurisch, die Identifikation mit der Technik verleiht dem Menschen
Augenblicke der Unsterblichkeit. Für diese Einheit steht INFINITI M HYBRID.
WIR
LEBEN AUTOS! So wirbt Opel - nicht für sich, für eine Welt. Der PKW befriedigt
ein durch die gigantische Infrastruktur selbständig und selbstverständlich
gewordenes Mobilitätsbedürfnis. Man braucht den Wagen nicht nur als praktisches
Transport- und Beförderungsmittel etwa zwischen Wohnort, Einkaufszentrum und
Arbeitsplatz, sondern auch um rasch und bequem ins Wochenende, zum Besuch von
Anlässen oder in die Ferien zu verreisen. Bestimmt will der ökonomische
Anspruch des Autokäufers ebenso wie sein wachsendes Interesse an ökologischer
Effizienz auf die Rechnung kommen. Im Spektrum seiner emotionalen Disposition
ist aber das Verlangen nach Beschleunigung, Temposteigerung, Drive, Dynamik,
Power nach wie vor, ja stärker als je relevant. Die Potenzen des Automobils
dienen vor allem der Befriedigung des Bedürfnisses nach erweitertem Aktivitäts-
und Erlebnisraum. Sie bedienen den Wunsch nach schneller Ortsveränderung und
Bewegung. Nach weiträumiger Verbindung zur Sicherung gesellschaftlicher
Beziehungen ebenso wie nach Ausstieg, Abenteuer, individueller Entgrenzung. Sie
bieten die Möglichkeit schnell der Enge konditionierender Verhältnisse zu
entkommen und vermitteln nicht zuletzt ein momentan berauschendes Machtgefühl.
FAHRSPASS IN REINKULTUR! „Sportivität, Fahrspaß und attraktives Design sind
einige der Bauch-Faktoren“, wirbt Peugeot
bei der Promotion seiner 208 GTI und lockt gleich mit einer riskanten
Empfehlung. „Wer möchte, kann sogar das serienmäßige ESP und die
Antriebsschlupfregelung ausschalten, um einen besonders heißen Kurvenritt
hinzulegen.“ Der Autoreporter der "Weltwoche" Philipp Gut, dem die
Chance widerfuhr, den neuen Ferrari 488 GTB (330 km/h, Fr. 249 817.-) auf der
hauseigenen Rennstrecke des Konzerns zu testen, erlebt einen „emotionalen
Ausnahmezustand“. Er erspürt das „erregende Zwitterwesen“ der Rennmaschine „am
eindrücklichsten… in den engen Hügelkurven“ und beschreibt die Erfahrung
orgiastisch: „Ein roter Teufel der Beschleunigung, dessen maskuline Härte, wie
von unsichtbarer Frauenhand geleitet, butterzart den pinienbewachsenen Gipfeln
entgegenfliegt.“
Natürlich
bedient die Autoindustrie auch schlichtere Wünsche und entlastet zugleich das
ökologische Gewissen. Smarties oder Cityflitzers fahren und parken im
Nahverkehr heute elegant und anstandslos elektrisch. Es wäre allerdings
lächerlich, wenn die schmiegsamen Stadt-, Spar- oder Öko-Mobile durch ihr
Design das Potenzial oder den Komfort der Powerklasse vortäuschen wollten. Was
hingegen Highway- und Off-Roader von Compact bis Fullsize-Klasse durch ihr
kraftvoll-elegantes Design draufzuhaben vorgeben, muss auch drin liegen. Der
Kunde lässt sich nicht täuschen: Dass die lange hochgepokerten alternativen
Antriebssysteme nicht nur die Ökobilanz revolutionieren, sondern zugleich die
durch den Benziner etablierten Standardansprüche erfüllen müssen, ist
ausgemacht, da hilft keine Augenwischerei. Die Drohung, dass die technische
Akrobatiknummer der Konkurrenz glückt, treibt den Ehrgeiz der Forschung und die
Markterwartungen auf die Spitze. Nur, wenn der „grüne“ BMW-Chef in
Kampfstimmung mal die Richtungsdevise vorgibt, Elektroautos seien für seinen
Konzern „keine Option, sondern ein Muss“, trabt er wohl gegen Windmühlen, denn
auf dem realen Markt diktiert der Fünfzylinder die Ansprüche. Die Einsicht,
dass leere Werbeversprechen sich nicht bezahlt machen, hat sich in den
Verwaltungsräten inzwischen offenbar durchgesetzt.
Mit
der Utopie der „selbstfahrenden Autos“ werben ADAC und Autohersteller heute auf
dem wachsenden Markt automobiler Fahrzeugflotten um potente Kundschaft für das
„Flottenmanagement“. Kein Wunder, denn der Prototyp des Vollautomaten ist schon
auf Testfahrt unterwegs. Ja, er wird sich durchsetzen, unken Insider, doch erst
in Jahrzehnten.
Wann
ist der Grenznutzen der privaten Mobilität erreicht? Ist er bereits
überschritten? Wie lange sind ihre wachsenden Umwelt- und Infrastrukturkosten
noch zu finanzieren? Welchen Aufwand leisten wir uns? Und wo liegt die noch
tolerierbare obere Grenze wachsender Staatsverschuldung? Wir wissen es nicht
genau. Das Alpenland Schweiz ist dicht besiedelt und vernetzt. Verkehrsdichte
und private Mobilität sind hoch. Eine Rechnung stellt den 400 km2 verbauter
Gebäudefläche nicht weniger als 1200 km2 Fläche für Auto-Fahrbahnen und
Parkplätze gegenüber. Die Auto-Mobilität beansprucht also im Vergleich einen
Faktor 3 der Fläche für Wohnen, Erzeugen, Verwalten, Verkauf. Die Mobilität ist
der grösste Landfresser. Zwar begleichen sich die Kosten für den Bau und
Unterhalt der Nationalstrasse - des grössten Bauunternehmens aller Zeiten - zu
hundert Prozent aus der Treibstoff-Abgabe, indirekt also über einen Aufpreis
der Energie. Aber das dichte Netz der Kommunal- und Kantonsstrassen finanziert
sich durch Steuern. Drastisch müsste sich dem Steuerzahler die Kostenwahrheit
offenbaren: Er zahlt 20 bis 30 % seiner
Steuerabgaben allein an die Auto-Mobilität. Nicht nur der Ausbau des Netzes und
das verbaute Land sind teuer. Extrem belastet die starke Zunahme des Privat-
und Schwerverkehrs die Fahrbahnen. Der Schüttelzahnbagger reisst ihr Trassee
regelmässig auf. Die Sanierung schafft einen Dauerbauplatz und hochbezahlte
Aufträge für den Tiefbau. Auch für den Tunnelbau verlangt die Mobilität ihr Opfer.
Der einen Röhre des Alpendurchstichs folgt bei der zu erwartenden Verkehrswelle
logisch die zweite. Macht sich die gewaltige Investition in den Gotthardgranit
auch für die nächste Generation bezahlt? Solche Fragen und Relationen einer
verdienstvollen Kostenrechnung, deren Zahlen nie in der Automobilwerbung
figurieren (!), müssten in das Bewusstsein des Nutzniessers eindringen.
Erstaunlich, wie gelassen und gedankenlos er Lärm und Stau als Folgen für die
teure Dienstleistung zugunsten der Mobilität hinnimmt. Für Sicherheit zahlt er
viel. Ein erhöhtes Todesrisiko nähme er auch hoch versichert niemals in Kauf.
Eine
konsumkritische, durch die Umwelt- und Menschenrechtsbewegung inspirierte
Motivforschung thematisiert längst einen grundsätzlichen Aspekt. Es geht ihr um
die Erkenntnis, dass sich mit einem grenzenlosen Wachstum des Angebots ein
teilweise ins Absurde gesteigerter, ökonomisch und ökologisch fragwürdiger
Anspruch verbindet und dass sich die soziale Verteilungs-Ungerechtigkeit - etwa
im Hinblick auf Vermögen, Lebensstandard, Arbeitsangebot, Arbeitsbedingungen,
Kultur, Gesundheit - zusammen mit der Verschwendung nicht erneuerbarer
Ressourcen immer deutlicher zu einer globalen Krise ausweitet. Man kann die
gegenwärtige Krise als einen Sinnkonflikt verstehen, welcher mit der
perfektionistischen Vision der technisch-industriellen Entwicklung und dem
Surrogat-Charakter ihrer materiellen Glücksverheissungen zusammenhängt. Eine
der brisantesten Manifestationen ihrer
globalen Dimension ist die in der Gegenrichtung des sozialen Gefälles
anwachsende Migration. In seinen Ursachen und Auswirkungen ist dieses Phänomen
noch nicht restlos zu begreifen. Klaus J. Bade prognostiziert schon um die
Jahrtausendwende ein dramatisches Wachstum der Migration aus
Entwicklungsländern in den hochindustrialisierten Norden der Welt und analysiert
die Hintergründe. Den durch das Ende des Kalten Kriegs ausgelösten
Kapitalströmen korrespondieren die weltweiten Migrationsströme. Zusammen mit
Rohstoffverknappung, Umweltzerstörung, den Folgen von Klimakatastrophen und
Bürgerkriegen verschärft sich das disproportionale Wachstum. Das durch die
Vernetzung der Medien verbreitete Bild von Wachstum und Wohlstand der
Zielländer schafft Anreize zur Auswanderung. Solche „Leitbilder“ der Migration
sind oft genug durch die Werbung verklärte, realitätsfremde Zerrbilder der
tatsächlichen Verhältnisse.
Die in der Kettenmigration manifeste globale Krise ist auch unsere eigene, die Krise der USA und Europas. Solange die Industrienationen, insbesondere die führenden, selbstbezogen auf Wachstumsgewinn abstellen und die Schotten schliessen, statt das Wagnis einer solidarischen Krisenpolitik nach aussen anzutreten und gleichzeitig nach innen grundlegende wirtschaftspolitische Veränderungen durchzusetzen, solange setzen sie ihre eigene Zukunft aufs Spiel. Die dramatische Zunahme von Erschöpfungsdepressionen, Drogenmissbrauch und Selbsttötungen in den hochindustrialisierten Gesellschaften sind ein deutliches Symptom der Sinnkrise. Ihre Ursachen sind komplex, aber es gibt ausreichende Versuche, sie zu erklären: als Folge des Ökonomisierungsdrucks, eines sinnentleerten Zwangs zu Überflussproduktion, eines kasinokapitalistischen Leistungs-Aktivismus, welcher alles auf die Gewinnzahl setzt und das Scheitern tabuisiert, und schliesslich der perfektionistischen Verklärung des Konsums durch die Werbung, welche die Probleme fortleugnet, indem sie für alles patentierte käufliche Lösungen anbietet und die kritischen Fragen verdrängt.
Der
unter anderem Ernst Jünger geistig nahe stehende Marburger Soziologe Hans
Freyer beschrieb schon um 1960, als die Motivforschung in den USA populär
wurde, das Wesen des technischen Fortschritts aus einer ganzheitlich-kritischen
Perspektive. Seine zahlreiche Aspekte umgreifende Darstellung ist - im
Unterschied zu den einseitig konsumorientierten Forschungsergebnissen des
exildeutschen Amerikaners Dichter - von zeitloser Gültigkeit. Im
Propyläen-Essay „Gesellschaft und Kultur“ schreibt er die Manipulierbarkeit des
Menschen der Veranlagung des „Homo Faber“ und der Struktur und Eigendynamik
seiner modernen industriellen Schöpfung zu: „Wenn die Produktion von
Gebrauchsgütern nicht an einem, sei es naturhaft, sei es traditionell,
vorgegebenen Bedarf orientiert ist, sondern das Bedürfnis für die Produkte, die
sie produziert, fortlaufend mitproduzieren muss, so wird es eben ein
technisches Problem, wie man im Menschen Bedürfnisse wecken und sie zugleich so
standardisieren kann, dass sie als lohnende Massenbedürfnisse anfallen.“ Mit
Bezug auf eine Wortschöpfung Vance Packards merkt Freyer an, der Mensch habe
sich an die „hidden persuaders“ gewöhnt, diese seien aber gar nicht
„verborgen“, sondern wirkten „in aller Öffentlichkeit“ und man müsse ihnen
„ehrlicherweise konzedieren, dass ihre Praktiken und das Geld, das sie damit
verdienen, nur die Folgeerscheinung der zur Beliebigkeit freigelassenen Bedürfnisse“
seien.
Welchen ehrbaren Wegen folgt die Perfektionierung der angewandten Motivforschung im weiten Feld der Wünsche und Triebe? Als letzter Schrei präsentiert sich das sogenannte Neuromarketing, ein Ausfluss der Hirnforschung. Die PR-Persuaders wagen sich in die biochemische Hexenküche der Hormone, der heimlichen Botenstoffe, welche den biologischen Haushalt steuern und regulieren. Auf der Basis von Erkenntnissen über das limbische System, welches Gefühle und Triebe zwischen der Dreifaltigkeit der Wunschvektoren Balance, Dominanz und Stimulanz steuert, entwickeln sie eine neurobiologische Typologie und prätendieren, das Kaufverhalten der Konsumenten nach ihrer unterschiedlichen Veranlagung oder Verfassung prozentual vorherbestimmen zu können. Der Trend des Neuromarketing ist ein penetrant-nutzloser Appendix der in einen irrationalen Kategorisierungswahn verstiegenen Ökonomisierung. Der praktische Anspruch ist umstritten, für die Zielkalkulation der Werbung erbringt sie kaum erhellende Einsichten über das hinaus, was wir durch Selbsterfahrung ohnehin von uns wissen. Benötigt Werbung eine theoretische Grundlage? Sie ist praxisorientiert, entwickelt ihre Systeme aus dem Geschäft. Merchandising ist ihre Potenz. Warum sollte sie nicht selbst darauf kommen, dass zum Beispiel die Animation des Spieltriebs und der Gewinnsucht die Konsumfreude fördert.
WERBUNG. Ihre Globalisierung begann nicht erst mit den klassischen Inseraten und Plakaten, dem Glamour flimmernder Neonreklame in den Cities, den Vorspann-Spots in den Kinos und gesponserten Spielfilmen, welche für Lifestyle-Labels warben; sie begann nicht erst in den Roaring Twenties mit VOGUE und COCA COLA, mit illustren Zigarettenmarken wie CAMEL, mit dem MERCEDES-Stern oder dem Zeitmesser ROLEX. Und sie wird niemals mit der Verwertung aller möglichen Daten als Munition der Konsumschlacht enden, in welcher Auftraggeber die Bedürfnisse von Usern WORLDWIDE im NETZ ausforschen, um sie gezielt mit automatisierter Kaufanimation zu bombardieren.
Schnittware
und Haute Couture auf dem Werbe-Laufsteg - wir lassen aktuelle Beispiele
kritisch Revue passieren
SPOTS.
Eine populäre Welle der TV-SPOTS wirbt neuerdings mit einfühlsam-humorigen
Geschichten, wie sie der Alltag schreibt. Ihren Schauplatz geben die typischen,
in der Regel vertrauten und überschaubaren Milieus her: Familie, Betrieb,
Schule, Freundeskreis, Club, Party, Verein, Quartier, Kleinstadt, Einkauf,
Events, die Natur als Erholungs- und Ernährungsborn, Badestrand,
Ferienparadies. Themen sind: das kleine Glück, die Grillparty, Alltagsaffären,
Alltagsfrust, Erziehungs- und Berufsstress, dreiste Zufälle, Appetit und
Genuss, Liebe auf den ersten Blick, Schmetterlinge im Bauch, Spass, Ferien,
Reisen. Stoff ist das Zwischenmenschliche und Allzumenschliche, mit dem sich
jedermann ebenso zwanglos identifiziert wie mit dem typischen Personal. Wir
überfliegen seine Liste: die fixen Jungs, die cleveren Töchter, die
lebenserfahrenen Grosseltern, die Rat wissen, wenn‘s klemmt, die aufgestellten
Freund/innen, mit denen man Pferde stehlen kann, die Arbeitskollegen, mit denen
man Frust hat oder einen Plausch teilt, die Partygäste, die Fitnesskollegen,
der Flirt. Alles läuft wie geschmiert, ruck-zuck, wenn auch nicht ohne kleine
Malheurs, die man mit Spass wegsteckt, die freundschaftliche Zuwendung
wegtröstet. Ausgebrannt? Die Fantasy-Story hilft über Stress weg und zum kommerziellen
Wunschtraum. Wenn das Büro zur Klapsmühle wird und das Inventar hochfliegt,
kommt Rettung von oben und landet im Kunstflug zum Staunen aller mitten in der
City: Der Supermann vom Media-Markt mit dem digitalen LX-Aktenordner oder das
blanke Kabrio als Superding zum Davonfahren. Rettung landet überall, auch im
Hochgebirge, in Schnee und Eis, oder im Urwald.
FOOD
AND MORE, MUCH MORE! Wo Landschaften plattbetoniert werden und der hässlichste
Urbanismus sich ins Grüne fortpflanzt, während parallel der Wohnluxus sich in
besten Aussichtslagen die verbliebenen Naherholungsräume reserviert, da
erscheint die NATURA-LINE-Werbewelle der Lebensmittel-Grossverteiler für
authentische Landkost manchmal pervers. COOP wirbt für sein Angebot mit der
verlogen-witzigen Schlagzeile: DIE EIER VON DEN HÜHNERN DES HAHNS, DER MICH
JEDEN MORGEN WECKT. Und der MIGROS-Spot lässt die Hühnerkolonne frühmorgens vom
Stall in die Lagerhalle marschieren, um die Landeier frisch anzuliefern. Wohl
verständlich, dass in der neuesten Version ein verirrtes Huhn, das offenbar den
Anschluss verpasst hat, verstört aus der Halle ins Freie rennt. Dass das Ei zur
MIGROS kommt, ist eine Binsenwahrheit. Vielleicht führt die sophistische Frage
zu vertiefter Einsicht, ob das Ei von der MIGROS kommt oder die MIGROS vom Ei.
Würden die CEOS des heutigen Konzerns die Frage an den Gründervater der
Genossenschaft stellen („Gottlieb, wir haben da ein Schein-Problem“), so wäre
der um eine bauernschlaue Antwort an seine Nachfolger nicht verlegen. „Meine
Herren“, würde er vielleicht fragen, „habt ihr wohl ein Identitätsproblem?“
Werbung simplifiziert, indem sie die verwickelten Verhältnisse vermenschlicht.
Wenn sie gewisse Probleme kaschiert, ist
i h r das nicht zu verargen.
Nun
ist es ja dankenswert, dass die MIGROS-Spots die natürliche Herkunft, welcher
Konsumenten sich zunehmend entfremden, mit Witz und Romantik ins Bild rücken.
Die Maschinerie - der Riesenaufwand an Verarbeitung, Logistik und
Preiskalkulation zwischen Herkunft und Konsum - wird ausgeblendet. Die Ursachen
der Entfremdung zu durchleuchten ist nicht Sache der Werbung. Aufklärung und
Kontroverse überlässt sie dem Konsumentenschutz und der Politik. Wir, die wir
uns nicht kaufen lassen wollen, sollten gut zuschauen, ob die Politik es auch
so hält. Doch halt! Die neueste M-Spotwerbung schickt wirklich zwei kleine
Eindringlinge durch gigantische Verarbeitungs- und Lagerhallen, zu den
muskulösen Teigwalkern, den Riesen im Märchenland, und sogar durch das
Tiefkühllager, wo die witzigen Knirpse Schokoladeeis en gros mitlaufen lassen.
Die helle Kassierin am Fliessband drückt ein Auge zu und scannt die Beute der
beiden Schleckmäuler kostenlos durch. Was zeigt der Spot? Migros hat Herz. Auch
im Schlaraffenland fallen Knusperkekse und Hühnchen nicht vom Himmel.
Und
was, wenn der Milchpreis in der EU zusammenbricht? Gibt der Bauer dann seinen
Betrieb auf oder schützen ihn die Grossverteiler gegen die Folgen? Die
Migros-Werbung projiziert die Vorstellung romantischer Arbeitsverhältnisse in
Stall und Hof, während doch heute jedes Schulkind wissen sollte, dass
Melkroboter in Laufställen die Zitzen automatisch reinigen und das Produkt in
Schläuchen mittels Vakuumpumpen pulsierend in die Milchkühltanks leiten.
Verhindern die „Melker, die nie schlafen“ den Zusammenbruch der Milchpreise?
Sichern sie die Zukunft des Hofs?
Der
deutsche Discounter in der Schweiz wirbt für seine grosse Jubiläumsstaffel
„ROMANTISCHER LIEBESGESCHICHTEN“ auf dem Satellitensender 3+ mit einem
Farbposter, auf welchem der Bauer im Bett unter rot-weiss karierter Decke
friedlich zusammen mit seiner Leitkuh schläft. Dazu die Schlagzeilen: BAUER
LEDIG, SUCHT… HÖCHSTE ZEIT FÜR EINE NEUE LIEBE. PRÄSENTIERT VON ALDI SUISSE.
Für einen ungebetenen Gast schon ziemlich taktlos. Pardon! Aldi und Konsorten
mischen doch wohltuend das eidgenossenschaftliche Hochpreis-Monopol auf, was
schmale Einkommen entlastet. Ihre Strategie senkt zwar die Preislatte (bravo!),
doch das schleckt keine ALDI-Kuh weg: Für den Druck, der seine Produzenten
bedrängt, hat das Unternehmen wohl so wenig Feingefühl wie für die
Arbeitsbedingungen seiner Angestellten. Hauptsache, Umsatz und Gewinn erfüllen
die Konzernerwartung. Die Tragik eines schleichenden Prozesses, für den die
Sozialgeschichte das Wort „Bauernsterben“ geprägt hat, ist in der Kalkulation
der Konzerne wohl so wenig Rücksicht wert wie in der Werbung. Der süffisante,
dem Geschmack der Spassgesellschaft gefällige Stil der Werbewelle mag zwar noch
als populär hingehen. Doch wie ALDI sich mit landestypischen Motiven und
Emblemen an die alpine Wahlheimat anbiedert, ist schon eher penetrant. Werbung
hält die Verdrängungsschlacht der Grossen in Gang. Frei Haus decken sie den
Konsumenten wöchentlich gnadenlos mit billigem Druckwisch ein.
MIGROS
gibt sich nicht einfach volksnah. Sie vertritt die Bedürfnisse des Volks - nicht nur als Genossenschaft in ihren
Gründungsstatuten, sondern durch Aktion. MIGROS braucht sich nicht anzubiedern.
Seit ihrer Gründung setzt sie sich für Volksbildung und Kultur ein. Heute wirbt
sie mit dem zeitgemässen Slogan für das breitgefächerte praktische Programm ihrer
MIGROS-CLUBSCHULE mit dem Slogan: „SCHÄRFEN SIE IHR PROFIL!“ Nein, „schärfen“
bedeutet nicht „Zahnrad schleifen“. Das wäre ein antiquiertes Missverständnis.
MIGROS erweitert ihr Bildungsprogramm mit Angeboten zur Entwicklung des
Spieltriebs, denn sie pflegt ein zukunftsbewusstes Menschenbild. Zu ihren
MIGROS-GOLFPARKS, ihrem jüngsten Projekt, öffnet MIGROS „für clubfreie Golfer
den Zugang“ (M-MAGAZIN). MIGROS macht’s möglich: Golfen für jedermann zwischen
„naturnahen Zonen“, wo ausserhalb der gedüngten Greens, Spielbahnen, Strassen,
Gebäuden und „extensiven Wiesen“ auch Frösche, Schlingnattern und
Studentenröschen ein Zuhause haben. MIGROS mit ihrem SPORT-XX-Geschäft wird
damit „zur grössten Anbieterin von öffentlichem Golf“ (M-MAGAZIN). Sie leistet mit
ihrem Naturprozent einen Beitrag zur „Ökologisierung“ und verschafft sich - aus
der Sicht unseres Themas - mit ihrem grosszügigen Verdienst zugleich ein
kundenfreundliches Profil. Dank der MIGROS-Initiative gibt es nun in der
Schweiz auch Golf naturaline. Jedermann wird beim Golfen nicht bloss sein
gesellschaftliches Profil, sondern auch seine Zielgenauigkeit sportlich zu
schärfen Gelegenheit haben. Okay, „clubfreie Golfer“ haben Zugang, doch jeder
Golfplatz entzieht clubfreien Wanderern ein Stück frei zugänglicher Landschaft
samt den liebevoll gehegten „naturnahen“ Inseln, den Mooren, Tümpeln und ihren
Bewohnern.
CLASS
AND HIGH PERFORMANCE. Klassenwechsel! Exklusive Warenhäuser, Mode-Superstores,
Autosalons, Hightech-Märkte, Kosmetik-, Bijouterie-, Watch- oder
Accessoire-Magasins stilisieren sich durch Rundum-Service, Klimatisierung,
Beleuchtungseffekte, irisierende Farbkombinationen, Perlmutterglanz, Duftreize,
Design, Beauty, sanfte Musik und exotische Kulinarik zu Konsumparadiesen hoch.
Sie beraten, bieten Sonderkondition. Sie offerieren die Ware zum Anfassen, zur
Probe oder Anprobe, zum Testgenuss. Der Provider verheisst Befreiung von
Bedürftigkeit, Lösung der Probleme, Steigerung des Selbstgefühls. Der Tausch
des Lohns gegen das Produkt wird als Selbstbelohnung und Selbsterfüllung
erlebbar: Ich schenke mir den starken Wagen, leiste mir die Karate, den
Schliff, gönne mir den Cashmere, die Kreuzfahrt, das Wellnesspaket. Ja,
prominente Institutionen bieten sich mit ihrem Komfort der Superklasse als
Elysien profaner Konsumerlösung an. Die Erotik von Parfums und Mode
umschmeichelt den Besucher schon im Eingangsbereich. Der heiss Umworbene lässt
sich mit Wonne auf die temporären Paradiesillusionen ein. Umwerbung und Angebot
gehen in ihrer verführerischen Präsenz eine (beinahe!) vollendete Synthese ein:
„Wir
nehmen Ihnen die Sorgen ab, wir sorgen für sie, wir besorgen, versorgen und
entsorgen. Sie haben die Auswahl, wir verdienen Ihr Vertrauen durch
*****Qualität. Ihre Freiheit und Zufriedenheit sind höchstes Gut und Ziel
unserer nie nachlassenden Anstrengung. Bei uns entdecken Sie Ihre Sinnlichkeit
und erfahren das Glück höchster Verfeinerung des Lebensgenusses.“ Oder mit den
Geleitworten eines CEO‘s im „SAVOIR VIVRE“-Editorial zum aktuellen RETRO GLAM
an die Kundschaft mit Geld und dem Geschmack für das Besondere im Wechsel der
Mode: „Unser Magazin „inszeniert eine
HOMMAGE an Stil-Ikonen wie Grace Kelly oder Audrey Hepburn, spielt dabei
virtuos mit Stilbrüchen und Verfremdung, zeigt überraschend angesagte LOOKS des
neuen Zeitgeists…(und) verführt mit Referenzen an den unterkühlten STAR APPEAL
der 30er und 50er-Jahre… Design-Ikonen wie der EGG CHAIR von Aarne Jacobsen
erleben ein FULMINANTES COMEBACK.“
Ein
fulminantes Comeback des KARSTADT-KONZERNS aus dem neuen Pleitetief ist kaum zu
erwarten. Wenn der Kahlschlag unabwendbar wird, dann müssen für die
„KULTURMARKE KARSTADT“ auch ihre rentablen Luxus- und Sporthäuser bluten. Denn
sie sind vom Gefüge nicht so vollständig abgelöst, dass sie nicht der
Konkursmasse verfielen. So riskant verhängt sind die Geschäfte eines Riesen
unter den Warenhäusern und mit ihnen Zehntausende von Arbeitsplätzen. Mit
Werbung und optimistischen Bulletins lassen sich Liquiditäts- und Imageprobleme
nicht endlos kaschieren. Manches Grand-Magasin hat sich von seiner
lichterstrahlenden Grandezza zum Brockenhaus heruntergewirtschaftet.
Ist
es clever, den auf die Dauer aufkeimenden Überdruss eines rekord- und
auswahlmüden Publikums zu unterschätzen? Indischer Glamour paart sich zwar mit
unseren Ferienträumen und unserem sublimierten Bewusstsein globaler Vernetzung.
Aber das Luxus-Angebot der Aktionswoche stösst sich mit der sozialen Realität
des Drittwelt-Milieus südasiatischer Regionen, mit den unerträglichen Bildern
des Elends, welches die Medien im Highlife-Milieu unserer Hemisphäre verbreiten.
Der Begriff Kolonialwaren ist abgeschafft. Der Welthandel versorgt uns
selbstverständlich und unabhängig von den Jahreszeiten täglich mit frischen
Produkten aller Weltkontinente. Aber eine vertiefte Kluft im sozialen Gefüge
gräbt sich im emotionalen Gedächtnis ein. Wer argumentiert, es handle sich bei
der in Erfolgszahlen erfassten Entwicklung nicht bloss um rein quantitatives,
sondern um qualitativ-differenziertes, selektives Wachstum, muss bei
ganzheitlicher Betrachtung zur Kenntnis nehmen, dass die nachhaltige Form
wirtschaftlicher Selektion Spannungszonen erzeugt und unter Umständen
rücksichtslos zu einer Sinngrenze der Verwertung hintreibt. Die Grenze der
Konsum-Übersättigung ist in den Wohlstands-Gesellschaften der Welt
überschritten, während die Mehrheit der Bevölkerungen in Krisenregionen oft zu
wenig zum Leben in Menschenwürde oder zum Überleben hat. Wir haben kaum mehr
Grund uns zu wundern, dass der Andrang von Menschen aus Armutsregionen an
unseren Grenzen zunimmt.
S-CLASS-CARS AND MOBILITY. Wenn aber Übersättigung in den Salons und an den
Kassen der Stores spürbar wird, wenn ein leises Erlahmen der Konsumlust
drohenden Konsumfrust anzeigt, wo schon die wachsende Konkurrenz unter den
Anbietern dem Höhenflug berauschender Umsatzzahlen die Spitzen bricht, dann
wird WERBUNG - auf angemessenen Hochglanz poliert - immer wieder für Auftrieb
sorgen.
Wenn,
wie gerade jetzt, der Wirtschaftsmotor wieder stottert, die beunruhigenden
Hüpfer der Aktienkurse oder die kontinuierlich fallenden Erdölpreise eine
Dämpfung oder sogar einen neuen Einbruch der Weltkonjunktur erahnen lassen,
dann herrscht unter den Automobilkonzernen wieder High Noon. Fällt der Absatz
in den Bremsgang, dann entbrennt in der Werbung der Kampf um die Marktposition
der Marke. Bewährte Qualität fällt bei der Kaufentscheidung wieder stärker ins
Gewicht als das flotte Aussehen und die technischen Spielereien, welche sich
der Bequemlichkeit andienen. Pannen darf sich in solchen Zeiten kein Konzern
mehr leisten. Rückrufe Hunderttausender von Serie-Wagen erzeugen einen
Image-Schaden, welcher sich katastrophal zu Markt schlägt. Jetzt geht es um
Sicherheit und erprobte Fahrtüchtigkeit, um Stärken, die der Kenner auf leisen
Fussdruck am Sound und Schub erspürt.
Im
harten Testvergleich setzt sich das neue Modell auf der Rennstrecke durch. Doch
das heisse Marktklima zaubert die gross angerührte Werbeperformance herbei.
Hier überschlagen sich Pomp und Theatralik. MERCEDES leistet sich die
Weltpremiere seiner neuen S-KLASSE „in der grössten Garage der Welt“, im
Hamburger Auslieferungszentrum des AIRBUS A 380! Vor einem der weissen
Riesenvögel, welcher mit dem Slogan „LOVE AT FIRST FLIGHT“ auf dem Leib für
seine Flotte wirbt, kurvt die silberweisse Kavalkade in imposanter Choreografie
von rechts und links über das Flugtrassee auf die „Bühne“ der Flughalle zu. Im
Takt des Bühnenorchesters zischt eine Batterie von Raketen über dem Airbus hoch
und illuminiert mit ihrem Sprühregen die Vereinigung der Mercedes-Flotte zum
grossen Ballett. Die Sängerin am schwarzen Flügel erscheint auf der
Grossleinwand im Fond der Halle, während die Kameras der geladenen Gäste im
Foyer dem Aufzug entgegen blitzen. Das Schattentheater der Weltpresse empfängt
die neue Kreation des Konzerns.
Der
Festakt hat Weltformat. Im Alltag muss sich Werbung mit psychologischer
Raffinesse dem Wert- und Klassenbewusstsein des Konsumenten anschmeicheln,
seiner Selbstgefälligkeit gefallen, sein Profilierungsbedürfnis stimulieren.
Der Konsument erscheint im Spot als hoch anspruchsvoll und erfahren: Die ältere
Dame, welche zusammen mit ihrem Sohn als Beifahrer die Luxuslimousine testet,
zeigt sich beim leisen Start am Steuer mit herablassender Miene von der
Qualität des Motors befriedigt. Mit dem Flaggschiff der Klasse schafft Mercedes
eine entscheidende Etappe in die ökomobile Zukunft. Der Plug-in-Hybrid-Motor
ist luxustauglich.
Mechaniker
im Astronautenlook schwärmen um das Modell in der Boxe. Der junge Mann am
Steuer des S-500-Sportcabrios ist selbstverständlich „der beste Fahrer“. Wer
ausser ihm? Natürlich sein Freund, der sich vom Beifahrersitz nach vorn beugt
und dem Zuschauer neckisch ins Gesicht lächelt, worauf der Wagen fast aus dem
Stand auf Volltouren beschleunigt. In der Sekunde bevor das weisse Cabrio aus
der Bildfläche verschwindet, hat ihn der Zuschauer gerade noch erkannt: Louis
Hamilton testet die Porsche-Konkurrenz von Mercedes zusammen mit Nico Rosberg.
Natürlich muss Mercedes in jeder Finesse auch die Leistung des
Hochleistungs-Cabrios M-4 der bayrischen Konkurrenz egalisieren, dessen
elektrisch gesteuerten Soundklappen das grollende Röhren erzeugen, welches
Kraft im Überfluss verrät. Paradox!
Wenn
man heute gegen asiatische Konkurrenz Elektro-Technologie der Elite zum
Standard erheben will, dann muss man beweisen, dass man in der Forschung an der
Spitze arbeitet. Kabelloses Laden „noch in dieser Generation der S-Klasse“
lautet das werbewirksame Versprechen von Mercedes. Induktion, berührungsfreie
Energieübertragung über ein magnetisches Wechselfeld, das ist die komplexe Technologie,
welche der Konzern gerade aus dem Brutstadium zur Marktreife entwickelt. Die
Transmission „durch die Luft“ ist keine Luftspiegelung! Sogar bei voller Fahrt?
Oh, ja! Getestet wird schon die Magnetresonanz-Kopplung über Spulen in der
Fahrbahn. Bombardier und der schwedisch-chinesische Autobauer VOLVO haben ein
Projekt zur Entwicklung der „dynamischen Ladevariante“ soeben „erfolgreich
abgeschlossen“. Bestimmt werden sich die Infrastrukturkosten zahlen. Die
Probleme, welche technologische Entwicklung uns aufzwang, haben wir noch stets
gelöst. Wer zweifelt? Der „Durchbruch des Stromers“ hilft der Umwelt und rettet
den Fahrspass! Die Automacher werden das Perpetuum Mobile erfinden. Mit Utopie
immunisiert Werbung den Optimismus der Konsumenten gegen zukünftige Krisen. Die
Technik wird auch die Sonne erfinden, den Durchbruch der Fusion zur Erzeugung
sauberer Energie für die Ewigkeit. Die „Selbstverständlichkeit“ totaler
Mobilität bezahlt sich von selbst.
Man
stelle sich die Zukunft g e n a u vor und überlege! MONEY IS ABSTRACTION IN
ACTION.
Apropos
Spass und Action: Die zwei Piloten stehen grinsend in der Glaskabine des
Windkanals und steuern die Energie der Turbine, während zehn Models mit
geblähten Blusen, fliegenden Jupes und gestrafften Gesichtern im aufkommenden
Tornado um die Wette Designschuhe in ihre Warenkörbe sammeln. Sie strecken und
stemmen sich gegen die Wucht, hüpfen und tasten nach Halt, fangen sich auf oder
drohen bei hilflosen Kapriolen zu kullern. Während die Ernte der Sammlerinnen
gezählt wird, steigen die zwei Herren im Rennanzug ohne Helm in die Boliden, um
sich der maximalen Windstärke auszusetzen. Dabei verziehen sich ihre Lefzen zu
grinsenden Masken. Der Werbetrailer ist leicht schlüpfrig, aber nicht
ausreichend windschlüpfrig, um den Lachtest zu bestehen. Er wirbt übrigens
nicht für Sportcabrios, sondern für GEOX: Shoe Shopping at 300 km/h, Scream
Challenge with Infinite Red Bull Racing Team. Die Einschaltquote ist hoch. RED
BULL ist immer dabei, wo es um die Wette geht und der Wind um die Ohren saust.
Nicht nur wo die Boliden dröhnen, auch wo die Stars der Skater brettern.
LUXUS
erweist sich als krisenbeständig. KAPITAL ZIEHT KAPITAL AN. Mehrwert sichert
sich in beständigen Werten gegen drohenden Wertverlust.
In
einem Deutschschweizer Steuerparadies wird Landwirtschaftsland in einen
Golfplatz verwandelt und mit strapazierfähigem Zierrasen begrünt. Eine saubere
Sache in jeder Hinsicht, die politische Werbung schlägt durch, der lukrative
Gemeindebeschluss ist unangefochten. Und: Hoch über dem Lac du Leman, über den
von der UNESCO geschützten Weinterrassen an der CÔTE DU LAVAUX, „erhalten die privaten
Wohnungen im KEMPINSKY PARC ihren letzten Schliff“. So fabuliert der Prospekt
einer renommierten Genfer Maklerfirma und drückt mit Ausverkaufsstimmung den
Preis hoch: „Mit grosser Wahrscheinlichkeit eine der letzten Möglichkeiten,
Wohneigentum zu erwerben, welches LUXUS, PERFEKTION UND HOHEN LEBENSSTANDARD in
der Schweiz verkörpert. Als Eigentümer geniessen Sie“ - im einstigen „Refugium
für Könige, Diplomaten und Lichtgestalten wie Victor Hugo und Pierre Cardin“ -
„freie, atemberaubende Ausblicke auf den
Genfersee, auf Montreux und die umliegenden Berge.“ Der UNESCO-Beschluss wie
die private Investition in die stilvolle Hotelanlage dient der einträglichen
Erhaltung von Substanz gegen einen schleichenden Prozess: die ausgreifende
Zersiedelung schweizerischer Landschaft. Natürlich lässt sich das
Golfplatz-Projekt der attraktiven Landgemeinde in der Deutschschweiz mit
ähnlichen Argumenten begründen. Kapitalisierung von Land als Strategie gegen
die Erosion der Werte.
LUXUSMARKEN
sind kapital-attraktiv. WATCH AROUND oder die vollkommene Identität von Schein
und Sein. O MEGA! Auf dem exklusiven Glanzpapier der schönsten Rückseite aller
schönen A-4-Seiten des GLAMOUR MAGAZINS erscheint NICOLE KIDMAN. Die Hollywood
Déesse, STARRING für OMEGA, inszeniert - von wogendem weissgoldenen Taff-Glacé
umhüllt - den schwebenden Auftritt der unberührbaren Personifikation eines
diamantenbesetzten Traums: der sündhaft teuren LADYMATIC! OMEGA has the honour,
Lady Kidman PRESENTS: Schweizer Luxusmarke, deren Markenzeichen - das winzige
goldene Hufeisen eines Märchen-Zauberpferds - Echtheit und Schweizer Qualität
weltweit garantiert.
WATCH
AROUND THE CLOCK! FOCUS fokussiert 2009 die für das Magazin lukrative
Leser-Neugier in einem Werbe-SPEZIAL (Sondereinlage, nicht Beilage!) auf die
IKONEN der GENFER UHREN-MANUFAKTUR:
Die
traditionsreiche Genfer Uhrenmanufaktur VACHERON CONSTANTIN hat, wie ihr CEO
Juan-Carlos Torres rühmt, „in ihrer Historie die Französische Revolution, die
industrielle Revolution, die russische Revolution, zwei Weltkriege, die
Weltwirtschaftskrise 1929 und die Ölkrise überstanden.“ Auch die Quarzkrise und
- bis jetzt noch - die letzte Wirtschaftskrise. Die Historie wird
fortgeschrieben, wie es sich für Produkte gebührt, die für die Ewigkeit kreiert
werden.
Yves
Montant legt seine Hände von hinten um Marilyn Monroes Schwanenhals. Sein
linkes Gelenk trägt eine TANK von CARTIER. Er schmiegt seine Wange an ihr
duftendes Haar. Seine Lippen flüstern an ihrem Ohr den Liebespreis des
Geschmeides, das seine Hände schützend verbergen. Er bleibt ihr gemeinsames
Geheimnis. Schöne alte Zeiten! Leonardo Di Caprio macht entschieden die Faust
für eine TAG Heuer. WHAT ARE YOU MADE OF? frägt der Werbeslogan in die
unsentimentale Filmwelt unseres Jahrtausends. Die HEUER-Werbung bezieht die
zitierte Frage sowohl auf die Qualitäten des Mannes, der die Uhr trägt, als
auch auf die geheimnisvolle Seelenmechanik der Uhr. DIE LEGENDE WIRD NEU
DEFINIERT. Im Gehäuse von Di Caprios Chronometer „rutscht schwungvoll ein
Wolfram-Quader“. Der Motorraum eines italienischen Sportwagens inspirierte die
Designer von HEUER in Genf zur Geheimoperation. Sie entwickelten eine
revolutionäre Kraftübertragung mittels Keilriemen für ihre Zeitmesser: THE
FIRST MECHANICAL MOVEMENT ENGINEERED WITH THE ROTATING SYSTEM, INSPIRED BY THE
MOST CONTEMPORARY AND TECHNICALLY ADVANCED GT CARS. Naheliegend, dass HEUER
auch durch Zeitmessung und Sponsoring von FORMEL I - RENNEN wirbt.
HEUER-Performance ist HIGH DEFINITION der Chronometrie, Resultat der
VERSCHMELZUNG VON TRADITION, INNOVATION UND KREATIVITÄT, intoniert die Werbung.
Die nicht bloss verbal hochgestochene Präzisionsmechanik hat einen
krisenbeständigen Stückwert von 70‘000 EURO. Irgendwann werden natürlich auch
alle erfolgreichen Chinesen die Uhr tragen. WHAT ELSE?
ROHSTOFFE
UND BLUTDIAMANTEN oder die puritanische Bilderscheu der wahren Weltlenker. Die
alteingesessenen Privatbankiers und Rohstoffhändler der Calvinstadt sind weder
auf die Werbeassistenz von Stars, noch auf Sport-Sponsoring angewiesen. Schon
ihre ehrwürdig klingenden Namen verkörpern Solidität; sie flüstern sich ins Ohr
und lassen ihre Adressen in einer geheimnisvollen Aura erstrahlen. Das
Wettgeschrei der lokalen Börsen und die Zudringlichkeit der Medien ist den
Firmen ein Gräuel. Sie sind diskret in den elektronischen Notierungen der
Börsen präsent. Ihre Angebote und Werte kursieren in lichtschnellen Strömen
ONLINE. Gegen Indiskretion abgeschirmt wickeln sich ihre Transaktionen in der
introvertierten Glasfaserrealität des Weltweiten Netzes ab. In souveräner
Stille, ja beinahe zeitenthoben, verschieben und kreuzen sich Tonnagen und
Dividenden als unstoffliche Grössen durch ihre Etablissements. GELD IST
ABSTRAKTION IN AKTION - heute topschnell ONLINE.
Abstrakte
Werte verschleiern entwicklungsbedürftige Zustände an der Quelle der Rohstoffe.
Nach
den Erhebungen der UNCTAD stammen mindestens 50% der Exporterträge von hundert
Entwicklungsländern aus dem Rohstoffabbau. In der Hälfte der afrikanischen
Länder machen sie sogar 80% aus. In instabilen Ländern - schwachen und
gescheiterten Staaten, welche Jahrzehnte lang in kriegerische
Auseinandersetzungen verwickelt sind - herrschen in den Abbauzonen oft prekäre
Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörung. Aufständische Gruppen usurpieren die
Rohstoffquellen und finanzieren ihre Waffen aus erpressten Erträgen. Geld
fliesst ins Ausland ab, statt Entwicklung zu finanzieren. Wertvolle Rohstoffe
gelangen häufig durch Raubbau und Schmuggel an der durch Importländer und
Unternehmen verhängten Kontrolle vorbei in den Handel. Der AFRICAN ECONOMIC
OUTLOOK folgert, dass das optimistische Milleniums-Entwicklungsziel (die
Halbierung der Armut) hätte erreicht werden können, wenn „die ins Ausland
transferierten Ressourcen in Afrika RE-INVESTIERT worden wären“ (nach
DEZA-Fokus). Der Mehrwert aus dem Rohstoff-Handelsumsatz wird in den
Industrieländern abgeschöpft oder von korrupten afrikanischen Interessegruppen
dorthin transferiert und reingewaschen.
Das
Blut der Diamanten an der Fessel des Models ist weggeschliffen. Sie strahlen in
der Reinheit ihrer Jahrmillionen dauernden Verborgenheit, aus der sie mit den
technischen Mitteln unseres Jahrtausends geborgen wurden, um sich durch den
Rohstoff-Welthandel in die abstrakte Werte von Aktienskalen zu transferieren.
Sie wurden als Juwelen-Jewelleries-Joailleries in Kunstwerken aus Platin oder
Gold eingelegt: Colliers, Armreifen, Gliederketten, Anhänger, Uhren, in deren
Traumhaftigkeit sich durch Kauf wiederum Mehrwert anlegt und gegen Wertzerfall
sichert.
Die
technischen Mittel, welche am Anfang der menschlichen Gliederkette, zum
Beispiel in den Diamantminen von Sierra Leone, zum Einsatz kommen, sind die
Hände der billigen lokalen Arbeitskräfte. Die schwarzen Digger graben mit ihren
Muskeln und Schaufeln Stufe um Stufe die ungesicherten, rutschgefährdeten
Taggruben, an deren Rändern sie in Bambus- oder
Wellblechhütten leben. Männer, Frauen und Kinder sieben mit gekrümmten
Rücken den Abbauschlamm aus. Vom Taglohn bezahlen sie keine Prämien, erkaufen
sie sich weder Werte, Sicherheit noch eine Zukunft, sondern das Nötigste zum
Überleben. W I R zahlen für überteuerte Rohstoffe zu viel. Jene, welche sie mit
ihrer Arbeitskraft abbauen, kriegen zu wenig. Wer sorgt für den Ausgleich -
etwa die Politik?
„Mit
der Globalisierung sind transnationale Konzerne entstanden, die über eine
enorme Macht verfügen“, formuliert AMNESTY INTERNATIONAL in einem
Dossierbeitrag von 2012 zum Thema Unternehmensverantwortung. Für
Voraussetzungen, gegen Arbeitsrechts- oder Menschenrechts-Verletzungen der
Multis Klage zu führen, hat die Politik nicht zureichend vorgesorgt. In Staaten
wie der Schweiz, wo zahlreiche Rohstoffkonzerne ihren Hauptsitz haben, fehlen
für eine Klage Betroffener anderer Länder die nötigen gesetzlichen Grundlagen. Sammelklagen,
zum Beispiel von Dorfschaften einer durch Bergbau oder Holzschlag im grossen
Stil geschädigten Region, sind in der Schweiz nicht zugelassen. Die Beweislast
fällt den Opfern zu, weil das Zivilrecht kein Beweiserhebungsverfahren
festsetzt, um von einem fehlbaren Konzern die Herausgabe interner Dokumente zu
erzwingen.
Die Transaktionen des Rohstoffhandels erfolgen ONLINE. Die Transport- und Lagerungs-Logistik der physischen Ware wird heute durch Computer gesteuert. Der Absatz unterliegt zwar den Konjunkturschwankungen, doch die Nachfrage ist global langfristig stabil. Die Anlage in Aktien der Unternehmen gilt daher als risikoarm. Der transkontinentale Rohstoffhandel figuriert im Börsenindex, Preise und Kurse werben um Anleger. Er benötigt - wenn man etwa vom Handel mit Erdöl und seinen Produkten absieht - keine konventionelle Absatzwerbung, die Basis des Geschäfts sind diskrete Verhandlungen. Die Grundlage der Marktstrategie und Macht eines Rohstoffkonzerns ist die Information. Preisabsprachen wickeln sich unter dem traditionellen Siegel der Verschwiegenheit ab. Es geht vorrangig darum, Konjunkturschwankungen vorauszusehen und die Nachfrage zu steuern. Über die Höhe des Gewinns entscheidet der Informationsvorsprung. Das Internet macht verwertbare Daten der Rohstoffmärkte heute global zugänglich. Die Information gestattet die Durchleuchtung der Rohstoffförderung und die Einschätzung der Transaktions-Gewinne.
WWW.
Das Reich des INTERNETS ist die faszinierende Zwischenwelt des CONTENTS. Das Internet
vermittelt in einem ebenso nützlichen als auch verwirrend-umfassenden Ausmass
enzyklopädische Text- und Bildinformation. Es bescheidet sich darin, den
virtuellen Zugang zu optischen und akustischen Räumen zu öffnen. Die
Raumillusion, die dreidimensionale Projektion optisch begehbarer virtueller
Räume, ist auf dem Prüfstand. Das Internet lockt nicht mit Parfums, verführt
nicht mit dem sinnlichen Genuss greifbarer Ware. Es vermittelt aber die ganze
Datenfülle der Wirklichkeit. Sein vernetzter Content ist in der Regel -
manchmal irritierend - von Werbung umspielt. Zunehmend verlagert sich die
Werbung über Adwords, Keywords oder das Suchmaschinen-Marketing auf Kosten der
Printmedien ins Internet. Online Shops, Kauf- und Auktionsportale oder
Handelsplattformen bieten Tools zur virtuellen Selbstbedienung an. Sie öffnen
den direkten Zugang zum elektronischen Geschäft. Daten und Transaktionen der
BÖRSE laufen heute automatisiert und lichtschnell ONLINE. DOIT! Das Internet
offeriert den LINK zur käuflichen Welt: zum physischen MARKT und zum
Finanzmarkt. Das Worldwide Web ist der virtuelle SUPERMARKT.
Es
ist keine Frage: Der wichtigste und wohl teuerste Rohstoff ist die INFORMATION.
So war es immer. Heute ist die Ware Information digitalisiert und vernetzt.
Über Kabel ist ihr Angebot global verfügbar. Aber Information ist nie
eindeutig. Sie fordert die Auseinandersetzung ein, ruft nach Interpretation.
Rating und Ranking sollen als bequeme Dienstleistungen Transparenz schaffen.
Aber eindeutige Bewertungskriterien - zum Beispiel in Bezug auf die Qualität
oder Bonität von Produkten und Anlagen - gewährleisten sie nicht. Klick- und
Linkpopularität bestimmen wie Einschaltquoten und andere quantitative Kriterien
den statistischen Marktwert eines Produkts. Sie fügen es in eine Rangordnung,
auf deren Verlauf Marketing und Werbung einen prädeterminierenden Einfluss
ausüben.
Nicht
leicht durchschaubare Hierarchien durchdringen die virtuelle Welt. Private
Konten sind geschützt. Gewisse Bereiche sind nicht ohne Unterschied für alle,
sondern nur für eingetragene Nutzer über
ein Passwort zugänglich. Immer wird politische und private Instanzen die Sorge
umtreiben, dass Daten in „falsche“ Hände gelangen und missbraucht werden oder
sensible Information „richtig“ - etwa verfassungskonform oder sach- und
zweckdienlich - interpretiert wird. In dieser Hinsicht hat sich im Grunde seit
jeher nichts verändert. Es gibt Interpretations- und Nutzungs-Monopole und -
zum Glück - den Schutz der Privatsphäre, der Authentizität, des Urheberrechts.
Doch in der global vernetzten Welt hat sich auch eine politisch sanktionierte
geheimdienstliche Überwachung und ausserdem - vorwiegend zum Bewerbungszweck -
ein bezahlter „Datenklau“ etabliert. Nutzer haben sich in einer Reihe von
Staaten mit autoritären Restriktionen, ja sogar mit der Ausnahme politischer
Zensur abzufinden.
Alles
für alle? Wir fordern Transparenz und Demokratisierung der Information,
beanspruchen das Recht auf freie Meinungsäusserung, das Verbot der Zensur. Doch
zugleich verlangen wir nach dem Schutz der Privatheit, des Ich-Monopols, der
Identität und des geistigen Eigentums gegen mögliche Verletzung. Ein uraltes
Dilemma erwächst uns mit dem Internet in globaler Dimension. Fragen
beunruhigen. Welche übergeordnete Rechts-Instanz kontrolliert den Informations-
und Meinungsmarkt in seiner Entgrenzung? Welche Instanz schützt die gesamte
Information gegen Risiken des Missbrauchs, der Verzerrung und der Konsequenzen
ihrer möglichen Kommerzialisierung? Wer bestimmt global die Grenzen des Rechts-
und Sittlichkeitsempfindens oder schätzt etwa die Schutzwürdigkeit gegen die
Konsequenzen politischer Propaganda ein?
Lässt
sich die durch den Streit um die Meinungsfreiheit im Kulturkampf abgeklärte
Empfehlung Louis Veuillots auf unsere Zeit der digitalen Information hin
anwenden? Der katholisch-konservative Journalist und Publizist meint 1871: „Die
Zeitungen sind eine solche Gefahr geworden, dass es notwendig ist, ihrer viele
zu schaffen. Die Presse kann nur durch die Presse bekämpft, nur durch die Menge
neutralisiert werden.“ Ist mit Bezug auf den digital-vernetzten Meinungsmarkt
fatalistischer Zynismus angesagt? Wird am Ende die Wirkungsmacht des Diskurses
im weltweiten Netz durch die Masse der Information und die Zahl der
Meinungsmacher aufgehoben? Gipfelt die Logik der von liberalen Kreisen als
heilsam beschworenen Medienvielfalt nicht durch die schiere Menge an
Information in einem desolaten Zustand kommunikativer Zwecklosigkeit? Würde man
die dogmatisch formulierte Einsicht eines Börsenmaklers, dass der Markt immer
Recht habe, auf den Meinungsmarkt beziehen, nähme man da nicht hin, dass Recht
und Wahrheit oder der Vorteil einschlägiger Information käuflich sind,
dass d e r sich Recht und Anspruch auf Gehör oder den
nützlichen Informationsvorsprung verschafft, welcher über Kapital und Macht
oder über die unschlagbare Kompetenz Lärm zu verbreiten und sich zu vermarkten
verfügt?
Käuflichkeit und Verkäuflichkeit des Menschen
ENTWEDER MANHATTAN,
ODER MAN HATT‘N NICHT!
Wen?
Den Datenpool, den Tauschwert, den Börsenkurs, den Markt, den Link, die
Adresse, den Code, das Knowhow, den Kniff …
BEI UNS
KOMMEN SIE AN
ALLE DATEN…
und
mit uns auf den Markt, an die Ware, an den Kunden, an die Jobs, an die heissen
und coolen Sachen, die Information, das Geld, die Beziehungen, die Karriere …
SEARCH!
Wir versorgen Sie gegen Tarif mit dem ausgesuchtesten Material. Mit dem Angebot
wirbt der spezialisierte Daten-Lieferant für Grosskunden. Einer lockt mit der
Schlagzeile: MACHEN SIE SICH SELBST ZUM MILLIONÄR WIE ICH!
Vom
Datenpool kauft man sich das Knowhow, welches befähigt zu lernen, wie man sich
selbst am teuersten verkauft. Wie man sich den durch Headhunters ermittelten
Kaufwert erwirbt. Wie man den Markt erforscht, Bedürfnisse erkennt oder kreiert
und sich das Konsum- oder Investitionsinteresse sichert. Wie man sich Kredit
und Kapital oder die Arbeit anderer verfügbar macht, indem man sich ihr
Potential erkauft.
Henry
Ford führte in den USA gerade das Fliessband in die Automobilindustrie ein,
Krupp goss im Deutschen Reich das weittragende 42-cm-Geschütz und der
preussische Virilitätskult hatte fünf Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Hochkonjunktur.
Karl
Kraus diagnostizierte um diese Zeit eine „Monopolisierung der Lebensgüter durch
den Kaufmann“. Er beobachtete, wie die merkantilen Interessen zunehmend auch
das geistige Leben aufsogen und Kunstwerken nur die Chance liessen, sich selbst
zur Ware zu machen, wenn sie auf dem Markt etwas gelten wollten. Das heisst: In
der geschäftigen Zeit blieb der Kunst die Wahl, sich selbst zu
kommerzialisieren oder die Profanierung der Vermarktung zu erdulden, selber
Opfer der allgemeinen Kapitalakkumulation zu werden. Die Autonomie des
Geistigen war auf die Probe gestellt.
Zwanzig
Jahre nachdem ein Besuch im Schlachthof von Chicago Henry Ford zur Einführung
des Fliessbands in der Autoproduktion inspiriert hatte, wodurch er die
Stückproduktion auf das Zwölffache steigerte, hatte die Weltwirtschaftskrise
auf ihrem makabren Höhenflug Millionen Arbeiterexistenzen von Notküchensuppe
abhängig gemacht. In den USA, wo die Arbeitslosigkeit bis 1932 auf über 20%
anstieg, propagierte die „Technokratiebewegung“ die Beseitigung von Wirtschaftskrisen
durch den Einsatz technisch-wissenschaftlicher Methoden unter einer
Planungselite. Sogenannte „Gesellschafts-Ingenieure“ sollten das zweckdienliche
utopische Staatswesen inaugurieren. In der Weimarer Republik ging es rauer und
weniger utopisch zu. Der Kampf um die totale Macht entbrannte. Bei den Wahlen
zum Reichstag von 1930 gewannen die Kommunisten und Nationalsozialisten,
nachdem sich ihre radikalen Anhänger wilde Strassenkämpfe geliefert hatten,
gegenüber SP und Zentrum einen gefährlichen Zuwachs.
Genau
einundzwanzig Jahre nach der Publikation seiner Artikel über „Fortschritt“ und
die „Welt der Plakate“ im Simplizissimus von 1909 stellte Karl Kraus eine
Glosse unter dem Titel „Fordschritt“ in „Die Fackel“, die Zeitschrift, mit der
er fast im Alleingangs seinen Kulturkampf führte. Der folgende Text erschien
mit dem Untertitel „Der standardisierte Mensch“:
Souverän
schiebt der Automobilkönig mit seiner Schulstiftung die Schuld an der
Wirtschaftskrise auf die ökonomische Unvollkommenheit des Menschen.
Offensichtlich fördert Geld auch die Abstraktion der Denkprozesse im
menschlichen Hirn. Henry Ford versteht unter Lebenskunst als Lernziel seines
Schulprogramms implizit auch die Befähigung des Menschen, s i c h
s e l b s t z u v e r k a u f e n.
ENTWEDER
MANHATTAN ODER MAN HATT’N NICHT!
Hans
Dampf im Schneckenloch hat alles, was er will. Was er will, das hat er nicht,
und was er hat, das will er nicht. Doch alles ist im Angebot, sofern er -
kauft.
Ihm
die Kauflust als Antrieb zur Selbsterfüllung einzutrichtern, ihm auf Tod und
Leben einzuheizen, damit er sich kaufbefriedigt, ist das ABC oder das heimliche
Dogma von der Motorik des Markts.
Dass
er hat, was er will, und dass er fortschmeisst, was er nicht will, will der
Markt. Seine Kauflust zu reizen, seinen Konsumwillen zu erhalten, ihn auf das
Produkt mundwässerig zu machen, auf die Marke einzuschwören, ihm das
Grundgesetz des Markts unter die Haut zu ätzen, als unumstössliche Wahrheit
samt den Slogans auf den Leib zu tätowieren, und seinen Glauben an die
selbstregulierte Beständigkeit des grossen Versorgungskreislaufs als
seligmachend zu kräftigen, das ist das Geschäft der Werbung.
Sie
verrät ihm, wie er sein S e l b s t aufwertet, wie er sich s e l b s t
verwirklicht!
Die
Werbung ist das Buch der Bücher. Dass er sich’s auf die Haut schreibt und sich
somit selbst zum Werbeträger macht, als die moderne, sportlich-wendige Variante
des Sandwichmanns, das macht ihn zu dem immer modisch ausgestatteten,
trainierten, genussfähigen, selbstsicheren und rundum auch versicherten
Menschen. Durch solche Verwandlung wird er wie jedermann zum erleuchteten
Werbeidol und Agenten des „Konsumismus“ - sofern er, selbstredend, hat, was ihn
zum Käufer und Werbeläufer macht, eben das Tauschmittel: Geld! Aber das ergibt
sich ja aus der Verfassung des Güterkreislaufs, in den er als Arbeitskraft
integriert ist, von selbst - sofern er, selbstredend, Job und Einkommen nicht
verloren hat!
Niemals
soll er aber die Wahrheit internalisieren, dass er sich auch zum Aspiranten
einer grassierenden Schwindsucht macht: der Verwöhnung. Die unbewusste Adoption
des Angebots als Prothese für kritische Initiative und Eigenleistung macht ihn
zum standardisierten Subjekt: macht ihn zum Menschen, der die Freiheit aus
purer Gewöhnung als Freiheit der Auswahl vergöttert und nicht merkt, dass er
selbst zum Produkt des Sortiments geworden ist.
Von
Henry Ford ist folgende damals wohl mit Bedacht nicht öffentlich gemachte
Einsicht überliefert: „Wüssten die Menschen, wie das Geldsystem funktioniert,
hätten wir eine Revolution vor morgen früh.“
Gewusst
wie: Wissen wir, was wir wollen oder nicht wollen?
Durch
die Schule des Fordschritts sind wir inzwischen alle gegangen und haben bei
unserem Lehrgang gelernt, wie man sich als Arbeitnehmer selber verkauft, wie
man seinen Tauschwert gegen Honorar und Beachtung einlöst oder wie man in
Führungsposition den gigantischen Kreislauf in Gang hält, auch wenn wir uns
gesamthaft darin verlieren, weil die Komplexität uns überfordert und der
Überblick über die Zusammenhänge uns zunehmend entgleitet.
Was
das originale Staatswesen der Aufklärung heute über den zunehmend auf
Berufskarriere und Markt orientierten oder auf angepasstes Know-how-Wissen hin
systematisierten Bildungs-Programmen vernachlässigt, ist die Schule, in welcher
man lernt, wie man sich n i c h t verkauft, damit man sich selbst nicht
abhandenkommt.
Wie
lässt sich verhindern, dass uns ein Markt, der sich zunehmend in der
„Kasualität“ der Angebots-Multiplizierung auflöst, vereinnahmt? Verhindern,
dass wir als Subjekte der Marktevolution freiwillig auf den Anspruch
verzichten, umfassenden Einblick in die Produktionszusammenhänge zu gewinnen,
weil wir uns ungeteilt dem Konsumgenuss verschrieben haben? Verhindern, dass
wir uns zu standardisierten Verkehrsteilnehmern machen, indem wir - als
Hansdampfe per Leasing - „unseren“ Ford kaufen, den wir gegen Eintausch unserer
Arbeitskraft indirekt selbst am Fliessband und heute durch Roboter aus
hochraffinierten Bestandteilen zusammenmontiert haben, um ihn darauf in
Unschuld mit dem Zuschlag seines Mehrwerts zurückzukaufen? Wie lässt sich
verhindern, dass sich unser Gerechtigkeitssinn nicht empört, weil wir zum
Beispiel auf dem Schwarzen Kontinent teure Rohstoffkomponenten des komplexen
Produkts auf Kosten unserer Gesundheit und unter demütigender Entbehrung
gefördert haben. Und verhindern, dass wir uns noch einreden Gutes zu tun, wenn
wir das billigbunte T-Shirt und die Label-Jeans kaufen, die wir in Bangladesh
im Wrack einer Ausbeuterfabrikation bei tropischen Klimaverhältnissen
eigenhändig genäht haben? Wie lässt sich
SOLIDARITÄT entwickeln?
Die
Tatsache ist von unüberbietbar aufdringlicher Evidenz: Um den Ausstoss unter
globalem Konkurrenzdruck zu steigern, Highways mit Massenmobilität zu
überschwemmen und Zentren zu verstopfen, übertrumpfen sich die Anbieter auf den
Salons und in der Werbung mit immer neuen technischen Finessen, mehr Luxus und
Komfort, bestechenderen Designvarianten und verlockenderen Leasingangeboten.
Ein Workflow unerbittlicher Wiederholung und grenzenloser Borniertheit.
Läuft d a s unter dem Begriff Fortschritt?
Dabei
liesse sich der Übergang zur umweltgerechten Gesellschaft durch Gesetzgebung
steuern. Die Probleme des dramatischen Klimawandels sind theoretisch lösbar. Um
die Ressourcenverschleuderung abzubauen wäre entschieden auf umweltbelastende
und riskante Methoden der Energieausbeutung wie Tiefseebohrungen oder Fracking
zu verzichten. Das wirtschaftliche Wachstum liesse sich auf Kosten eines
abenteuerlichen Monopolismus regulieren. Ökologisch sinnvolle Produktion sollte
nachhaltig gefördert und gezielt auf kleinere spezialisierte Unternehmen
verlagert werden. Die Konkurrenz unnötiger freier Mobilität wäre zu limitieren
und der öffentliche Verkehr im Gesamtinteresse auszubauen. Neue Verkehrs-,
Wohnbau- und Siedlungs-Konzepte, die Erschliessung urbaner Anbauflächen
(Verwandlung von Betonwüsten in wohnliche und zugleich produktive Grünräume)
sowie die radikale Umstellung auf saubere Energieträger würden qualitatives
Wachstum garantieren. Die Computertechnologie errechnet heute die
unverzichtbaren Informationsgrundlagen - zum Beispiel Vorhersagemodelle zur
Veränderung des Ökosystems, Entwicklungsmodelle zur Planung der Zukunft. Die
Entflechtung der monopolistischen Interessen wäre allerdings die
Herkulesaufgabe, die kein Computer, sondern nur eine politische Instanz löst,
welche erst zu schaffen wäre. Vorstellbar ist die Utopie eines globalen
Interessenverbands, welcher Autorität und Macht der Vereinigten Nationen oder
einer selbst radikal vergrösserten G8 oder 12 bei weitem übertrifft. Um den
globalen Wettbewerb des Grössenwahns zu befrieden, und ein Klima globaler
Solidarität zu begründen, wäre wohl eine supranationale Organisation
erforderlich, ähnlich jener, welche Albert Einstein und einem von ihm 1946
mitbegründetes Notstandskomitee von Wissenschaftlern mit dem Ziel vorschwebte,
das damals drohende atomare Wettrüsten aufzuhalten.
Der Harvard-Dozent Norbert Wiener warnte kurz nach Ende des Weltkriegs vor der Existenz eines militärisch-industriellen Komplexes und der Käuflichkeit amerikanischer Wissenschaftler. Er ahnte, dass sich ein Teil von ihnen in den politischen Plan zu einer massiven Aufrüstung der US-Streitkräfte einspannen liesse. Einstein hoffte damals auf einen Streik der Wissenschaft und bestärkte die Idee des Widerstands noch mit der Mahnung, „Unterwerfung unter die Gesetze des Staats“ dürfe „nicht blind sein“. Ende 1947 wiesen führende Mitglieder der Sowjetakademie der Wissenschaften in einem „offenen Brief“ an Einstein auf den unaufhaltsamen imperialistischen Expansionsdrang „kapitalistischer Monopole“. Der Brief markierte die unterschiedliche ideologische Position und diskreditierte gleichzeitig die „Chimäre“ eines „Weltstaats“ unter den herrschenden Bedingungen. Als in den USA politische Gesinnungsschnüffelei das Klima unter den Wissenschaftlern zu vergiften begann und die Debatte im Kreis der Konferenz von Princeton das Dilemma um eine politische Verantwortung der Wissenschaft in endlosen Debatten offenlegte, versuchte Einstein die scheinbar ausweglose Lage pointiert in eine witzige „Resolution“ zu fassen:
„Nach
drei Tagen gründlicher Diskussionen sind wir amerikanischen Wissenschaftler zu
folgenden Schlüssen gelangt:
Wir
wissen nicht,
a. Woran wir glauben
b. Was wir wollen
c. Was wir sagen, und
d. Was wir tun sollen.
Im
Hinblick auf den von russischen Wissenschaftlern unterschriebenen Offenen Brief
möchten wir für sie eine Parallelresolution vorschlagen:
Nach
gründlicher Diskussion und gebührender Beratung mit unserer Regierung wissen
wir:
a. Woran wir nicht glauben,
b. Was wir nicht wollen,
c. Was wir nicht sagen, und
d. Was wir nicht tun werden.“
Das Notstandskomitee setzte weiterhin seine ganze Autorität für den Frieden in einer Welt ohne Bombe ein. Doch unter der „Vorspiegelung äusserer Gefahr“ verhaftete eine reaktionäre Ketzer-Inquisition Reihen kritischer Intellektueller. Einstein war nicht blauäugig. Er selbst hielt den „Versuch, Vernunft zu predigen in dieser pathologischen psychischen Atmosphäre“ 1951 für aussichtslos. Er gab nicht auf, wusste aber im Grunde, dass seine Idee scheitern würde.
Ein
kursorischer Blick auf die zweite Jahrhunderthälfte, die Phase der Aufrüstung
und des Kalten Kriegs, zeigt, dass es glückte, das fatale Scheitern nahe an der
atomaren Katastrophe vorbei irgendwo zwischen wirtschaftlicher Konkurrenz und
Konvergenz der Systeme aufzufangen und strategisch zu stabilisieren:
Die
reale, durch politische Propaganda aber wahnhaft übersteigerte, zeitweise
hysterische Angst vor dem atomaren Vernichtungskrieg einerseits und der durch
Kaufwerbung entfachte Konsumrausch andererseits konditionierten die Mehrheit
der Menschen Nordamerikas und Westeuropas in den Fünfziger- und Sechzigerjahren
zur Identifikation mit dem kapitalistischen System und seinem technologischen
Überlegenheitskult. Henry Fords standardisierter Mensch war durch die
aufgeladenen Bedingungen in den Kreislauf von Produktion und Konsum
eingeschaltet. Das sogenannte Wirtschaftswunder begründete den Aufstieg der in
das westliche Bündnissystem integrierten Bundesrepublik Deutschland.
Die
Machtdemonstration der Kubakrise von 1962 verstärkte die militärische
Entschiedenheit, welche den Selbstvernichtungsakt eines atomaren
Schlagabtauschs abgewendet hatte. Ende der Sechzigerjahre, vor allem während
des grausamen Vietnamkriegs, welcher westliche Illusionen militärischer
Überlegenheit in Frage stellte, setzte die ideologische Debatte und Krise ein.
Terrorismus und konjunkturelle Einbrüche folgten, Widersprüche wurden durch
Aktivismus, Drohungen und Propaganda auf beiden Seiten der kalten „Kriegsfront“
hochgespielt und weggeleugnet. Die Grossmächte brachten in die Tiefe
gestaffelte Raketensysteme in Position. Die paradoxe Theorie von der
Friedenserhaltung durch ein immer neu ausgehandeltes atomares
Rüstungs-Gleichgewicht etablierte sich und schien einen Status Quo zu
stabilisieren. In den Achtzigerjahren wurde im westlichen Bündnis die
ökonomische Schlacht der neoliberalen Revolution entfesselt. Sie demonstrierte
die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Systems der „freien Welt“. Der
erfolgreiche Wirtschaftskrieg führte - noch einmal glimpflich an einer
Machtdemonstration vorbei - zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Die sogenannte
Wende löste den Ansprung zur „Vollendung“ der globalen Kommerzialisierung aus.
Kaufkraft und Verführungsmacht des Geldes
Im
siebenten Kapitel des „Historischen Hauptstücks“ seiner „Kritik der zynischen
Vernunft“, reflektiert Peter Sloterdijk 1981 den Begriff der
„Depersonalisierung und Entfremdung“ oder die „Psychologie des produktiv-konsumtiven
Menschen“ im 20.Jahrhundert. Sloterdijk zitiert und kommentiert Walter
Rathenaus 1912 publiziertes Werk „Zur Kritik der Zeit“. Der schöngeistig
gebildete Sohn des Gründers der AEG übernahm im selben Jahr den Vorsitz des
Aufsichtsrats des Elektrokonzerns. Seine bedeutende kultur-anthropologische
Auseinandersetzung mit dem technischen Fortschritt widmete Rathenau seinem
Berliner Freund Gerhard Hauptmann, dem grossen sozialkritischen Erzähler und
Dramatiker.
In
einer Zeit, wo die Mechanisierung der Industrie unter dem Einsatz der Energien
Kohle, Elektrizität und Erdöl einen Aufschwung gigantischen Massstabs auslöste;
wo die Medizin die Betriebsstoffe des Körpers, 1901 etwa das Stresshormon
Adrenalin, entdeckte; wo die chemische Industrie Hormone synthetisch
herzustellen und Psychopharmaka zu entwickeln begann; wo Unternehmen und
politische Parteien die modernen Manipulatoren Werbung und Propaganda
systematisch zum Zweck der Absatzsteigerung und politischen Formierung
einsetzten - in dieser Zeit verfasste der hellsichtige Industrielle Rathenau
den Band „Zur Kritik der Zeit“ und ausserdem, genau ein Jahr vor Ausbruch des
Ersten Weltkriegs, seine zweite zeitkritische Schrift „Zur Mechanik des
Geistes“ (1913).
Sloterdijk
kommentiert: „Längst ist die mechanische Produktion über die elementaren Ziele
von Nahrung, Kleidung, Selbsterhaltung und Lebensschutz hinausgeschossen; in
stets erweiterten Kreisungen von Produktion und Konsum schafft sie neue
‚Begierden‘, einen masslosen ‚Warenhunger‘, der zunehmend auf Künstlichkeiten
sich richtet. Mechanisierung ergreift somit selbst die Wünsche ‚in der
Irrealität, Leblosigkeit und Schattenhaftigkeit ihrer Produkte und Moden‘.
Rathenaus Folgerungen treffen zielsicher die Quintessenz soziologischer
Entfremdungstheorien: ‚Die mechanische Produktion hat sich zum Selbstzweck
erhoben‘.“
In
Rathenaus zeitgemässer moralisierender Wahrnehmung urbaner Zivilisation hat der
Entfremdungszustand des Menschen in der „Verdichtung“ des Grossstadtlebens und
eines expandierenden Markts deutlich die Attribute eines Suchtverhaltens.
Sloterdijk zitiert Rathenau: „Es entstehen Vergnügungen sensationeller Art,
hastig, banal, prunkhaft, unwahr und vergiftet. Diese Freuden grenzen an
Verzweiflung… ein Sinnbild entarteter Naturbetrachtung ist die Kilometerjagd
des Automobils… Aber selbst in diesen Tollheiten und Überreizungen liegt etwas
Maschinelles. Der Mensch, im Gesamtmechanismus Maschinenführer und Maschine
zugleich, hat unter wachsender Spannung und Erhitzung sein Energiequantum an
das Schwungrad des Weltbetriebs abgegeben.“
Walther Rathenau
Ein Dissident seiner Klasse, seiner Rasse und seines Geschlechts
Walther Rathenau gehörte 1919 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). In seiner kurzen Amtszeit als Wiederaufbau- und danach als Außenminister wurde kein anderer Politiker von den Deutschnationalen und Völkischen derart mit Haß verfolgt, geschmäht und verleumdet ("Stecht ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau"). Am 24. Juni 1922 wurde er von Fanatikern der Rechten ermordet. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ließ Hitler den Mördern einen Gedenkstein errichten. (Zitat: Udo Leuschner)
Im
Kapitel „Tauschzynismus“ des „Phänomenologischen Hauptstücks“ ordnet Sloterdijk
dem Geld die „zynische“ Potenz zu, neben den ökonomischen auch „höhere Werte in
schmutzige Geschäfte zu verwickeln“ - er versteht darunter die „ideellen“
Werte. Wo das Geld seine alles durchdringende „Kaufkraft“ entfaltet, ist ihm
eine analoge „Kraft der Verführung“ eigen. Diese „übt ihre Macht über
diejenigen aus, deren Wünsche, Bedürfnisse und Lebenspläne die Form von Käuflichkeiten
angenommen haben - und das sind in der kapitalistischen Kultur mehr oder
weniger alle.“ Das Geld hat also an und für sich die Macht, den Menschen als
moralisches Wesen zu „depersonalisieren“ oder dazu zu verführen, sich fremden
Interessen und der für ihn letztlich undurchschaubaren „wertzynischen Motorik“
des Markts zu unterwerfen. Das Recht ist immer auf der Seite des Markts. Er
verführt zu „anrüchigen Tauschakten“ und macht die von ihm abhängigen „Akteure“
zu Schuldigen. „Verführung im Sinne von ‚Bedürfnislenkung‘ gehört ja zu seinen
Grundprinzipien“ genauso wie die Festlegung des Kaufwerts der Arbeit „im Tausch
der Arbeitskraft gegen den Lohn“.
In
einem expansiven „freien“ Markt verschiebt sich der Fokus des Gesamtinteresses,
wie die Hintergründe der letzten Finanzkrise demonstrieren, um geographische
Breiten. Unter den Bedingungen eines immer härteren globalen Wettbewerbs, dem
Druck lauernder Markteinbrüche oder „feindlicher“ Übernahmeangebote investieren
Unternehmen einen hohen Prozentsatz ihres Mehrwerts in strategische Massnahmen
zur Marktkontrolle, in das Human Ressource Management sowie in die sogenannte
„Bedürfnislenkung“, die Werbung für ihre Produkte. Wollte man die Werbung als
strategisches Medium der Verführungsmacht des Geldes bezeichnen, nähme man
möglicherweise eine Begriffsverwirrung in Kauf. Gewiss ist: Auf einem Markt,
welcher im Kreislauf von Produktion und Konsum dauernd neue Bedürfnisse
erzeugt, um den Unternehmensgewinn und die Attraktivität der Aktienkurse zu
steigern, wird Werbung immer die Zweckmässigkeit, die Qualität und den
Genusswert eines Produkts propagieren und zu diesem Zweck den gesamten Zirkus
der Aufmerksamkeit bespielen. Auf keinen Fall wird sie den Nutzen eines
Produkts im „volkswirtschaftlichen Gesamtinteresse“, das heisst zum Beispiel
seine gesundheitliche und ökologische Verträglichkeit, je in Frage stellen oder
Resultate von Untersuchungen offenlegen, welche seine Qualität oder Effizienz
als fragwürdig erscheinen lassen. Solche Rücksichten sind nicht Sache der
Produkte-Werbung.
Der
Markt ist langmütig, er erfüllt alle Interessen und macht sich alle möglichen
Interessen dienstbar. Er verträgt sich auch mit dem Konsumentenschutz und mit
Gesetzen, die seinen Freiraum gewiss nicht so rigide einschränken, dass sie
seine innovative Kraft behindern. Dass der Gesetzgeber die Zigaretten-Industrie
zwingt, jedes Päckchen mit dem Aufdruck „RAUCHEN TÖTET“ und der Abbildung einer
zerfressenen Lunge zu versehen, ist ein gewöhnungsbedürftiger Kraftakt, der
allerdings die globale Expansion des Markts nicht unterbindet. Fünf
Tabak-Konzerne decken heute 80% des weltweiten Zigarettenhandels ab.
Entwicklungsländer sind ihre Zukunftsmärkte. Die von der Konvention der WHO zur
Eindämmung des Rauchens verfügten
Werbebeschränkungen festigten die Marktanteile der Mächtigen. Der
paradoxe Aufdruck „WAFFEN TÖTEN“ auf smarten Fernlenkraketen oder Corner-Shot-Guns
für den Strassenkampf würde den Abschluss teurer Kontrakte an internationalen
Waffenmärkten kaum noch beflügeln. Dass sie „SICHER“ töten, schulden sie ihrem
Werbeprofil. Die Perfektionierung ihrer Tötungsgewalt ist progressiv. Der
Waffenhandel ist schliesslich zu einem der lukrativsten Gewerbe angewachsen und
seine Werbung in Fachzeitschriften geniesst die diskrete Aufmerksamkeit
abgeschotteter Fachkreise im Dienst von Regierungen und Organisationen aller
Welt. Auch diese Branche verfügt in Entwicklungsländern über Zukunftsmärkte. Indien
ist weltweit der grösste Importeur. Der Marktanteil der Mächtigen, möchte man
sagen, steigt mit ihrer Konkurrenz um Einfluss auf Krisenregionen.
Zahlungskräftige unter den Staaten in Spannungszonen nutzen aber die Konkurrenz
der Grossen zu ihren Gunsten aus. Streben die USA ein Entspannungsabkommen mit
dem Iran an, rüsten Saudi-Arabien und die Golfstaaten umso massiver auf,
während die Türkei mit dem Nato-Austritt droht und sich mit chinesischen
Waffenimporten hochrüstet. Innenpolitisch hat die Regierung Obama mit
Einschränkungen des Waffenhandels gegen die starke Lobby wenig Chancen, nach
rassistischen Übergriffen entzog sie aber der Polizei den Zugriff auf
militärische Waffen.
« IF WEAPONS ARE THE ANSWER,
WE NEED A NEW QUESTION »
Die
„Lebenspläne“ von Menschen, welche ihre Karriere planmässig verfolgen, sind
wohl auf klassenspezifische Angebote ausgerichtet, welche - mit Sloterdijks
Ausdruck - ihre besondere „Form von Käuflichkeit“ bedienen. Wenn in der
aufsteigenden Betriebshierarchie durch Sonderangebote wie leistungsorientierte
Vergütungen („Boni“) und Beförderungsaussichten die „Verführungsmacht“ des
Geldes wirksam wird, dann sind sie unter Umständen bereit, auch Zumutungen von
Sonderbedingungen in Kauf zu nehmen. Die mit dem Leistungs- und Kompetenzzuwachs
verbundene Chance, dereinst Sonderbedingungen im Sinn der eigenen Vorstellungen
zu verändern, erleichtern in einem Gewissenskonflikt allenfalls pragmatische
Lösungen. Eine Leistungsethik, wie sie etwa einer calvinistisch geprägten
bürgerlichen Gesellschaft eigen ist, prägt ein Rollenideal, welches die
Herausforderung von Top-Karrieren grundsätzlich rechtfertigt und Widersprüche
auflöst. Dieses Rollenideal spiegelt sich klischeehaft im Anforderungsprofil
von Stellenausschreibungen für das Kaderpersonal. „Teil einer Erfolgsgeschichte
zu werden“ setzt etwa folgende Eigenschaften voraus: hohe Eigenmotivation und
vorbildliche Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen;
analytisch-konzeptionellen Skill, Entscheidungsfreudigkeit, zielorientiertes,
durchsetzungsstarkes Handeln und die Fähigkeit ein Team zu coachen
gleichermassen wie Teamgeist, Fairness, Fingerspitzengefühl, Flexibilität, und
absolute moralische Integrität.
Wer
einschlägige Erfahrungen machte, wird das Recht auf einen grundsätzlichen
Vorbehalt in Anspruch nehmen: Dass es Menschen gab und immer geben wird, welche
ihren Wissensvorsprung und die Spielräume ihres Auftrags gewissenlos nutzen, um
in den Genuss von Gratifikationen oder Beförderung zu gelangen oder ihre Macht
zu erweitern, ist eine Tatsache, welche Kritik an hyper-perfektionistischen
Erwartungen herausfordert. Der Geldwirtschaft wohnt eine mythischer
Urwiderspruch inne, welcher die Gesellschaft periodisch in Wertkrisen
hineinzieht. Sie haben einerseits etwas mit der Hybris oder der Anfälligkeit
des Menschen zur Masslosigkeit zu tun, andererseits aber mit einer
naturgemässen Anfälligkeit des Geldes, die Berechenbarkeit seines Wertes
einzubüssen und Volkswirtschaften einen unvorhersehbaren Wertverlust erleiden
zu lassen. Wir können die Konstellation des Mondes und der Planeten auf
Jahrhunderte voraus exakt bestimmen, jedoch weder die Börsenwerte des nächsten
Tages voraussagen noch aus der Volatilität von Börsenwerten, dem sogenannten
„Angstbarometer“, sichere Aussagen über Anlagerisiken ableiten. Eine Aussage
über den Hintergrund von Wirtschaftskrisen lässt sich allerdings aus der
Erfahrung begründen: Durch Verlustangst und Gewinngier genauso wie durch
Sorglosigkeit, Selbsttäuschung oder Unwissen determiniertes irrationales
Verhalten kann dramatische Konsequenzen haben, in manchen Fällen ist allerdings
auch kriminelle Energie im Spiel entscheidend.
„Am
Mittwoch waren zwei ehemalige Hedge-Fondsmanager der Investmentbank Bear
Stearns vom FBI verhaftet und wegen Betrugs angeklagt worden. Die Fondsmanager
hatten in Anleihen investiert, die mit Hypotheken besichert waren. Ihnen wird
vorgeworfen, Investoren über den Wert der Fondsanlagen getäuscht zu haben,
welcher im Zuge der Hypothekenkrise gefallen war. Das Vorgehen der Behörden
folgt auf eine anhaltende Immobilienkrise, die im vergangenen Jahr zu
steigenden Ausfällen bei den Ratenzahlungen von Hypotheken sowie zu
Zwangsversteigerungen geführt hatte. Im Zentrum der Krise stehen wenig
kreditwürdige Hausbesitzer, die sogenannte Subprime-Hypotheken erhalten hatten.
Zu den meistverbreiteten Arten von Hypotheken-Betrug gehören falsche Angaben
zum Einkommen oder Vermögen, gefälschte Dokumente und überhöhte Schätzungen von
Immobilienwerten. Banken hatten im vergangenen Jahr fast 53 000 Fälle von
vermutetem Betrug gemeldet.“ (Frankfurter Allgemeine, 20.6.2008)
Die Marketingmaschine von RED BULL oder Beihilfe zur Verwirklichung von Flugträumen
Fussball-Meisterschaften
- an der Spitze World Cup und Champion League - sind mit ihrer enormen
Infrastruktur unschlagbare Geldgeneratoren. Ihre Arenen sind Werbemagnete für
ein Millionenpublikum. Was sie zusammen mit den Medien an Gewinn einfahren
finanziert die Organisation eines Riesenunternehmens, seine Hierarchie und sein
Humankapital, die Mannschaften, die Honorare und den Starkult, den
Millionen-Handel mit Spielern und den Investitionsgewinn der Sponsoren. Der
Sport insgesamt, sowohl der professionelle Wettkampf- oder Spitzensport als
auch der Breitensport, ist heute das illustre Beispiel der Kommerzialisierung
im grossen Stil. Er vereint idealistisch betrachtet in geradezu idealer Form
das Wachstumsziel von Volkswirtschaften mit den Interessen der Volksgesundheit
und Erziehung. Innerhalb des Sportbetriebs als Unternehmen hat sich allerdings
ein grandioser Markt der „Käuflichkeiten“ im Sinn der Definition Sloterdijks entwickelt.
Im Marktwert von Mannschaften und Stars verselbständigt sich das Geschäft. Ein
Star erkauft sich Kult und Einkünfte, doch er lässt sich durch Geld zur Ware
abstrahieren.
Neben
den beruflich organisierten Wettkampf-Sportarten hat sich ein exklusiver
Hochrisiko-Sport von professionellen Einzelkämpfern etabliert, eine
akrobatische „Sonderdisziplin“, welche durch spektakuläre Aktionen und
Parforce-Leistungen die weltweite Aufmerksamkeit der Medien in ihren Bann zieht
und hohe Sponsoren- und Werbeeinkünfte erzielt. RED BULL, der Erzeuger und
Vertreiber des bekannten Labels auf dem Markt der „Energy“-Getränke ist
„eigentlich kein Getränkehersteller“ - die Firma lässt ihren
Büchsen-Aufputscher in Lizenz abfüllen - „sondern eine Verkaufsmaschine“, wie
„brand eins“ nach TA kommentiert. Rund 4 Milliarden Euro betrug der Umsatz von
Red Bull 2011 - immerhin einen Zehntel des Umsatzes von COCA COLA, des
unbestrittenen Weltmarktführers der Branche. Gemäss Angaben Mateschitz‘s, des
Erfinders und Inhabers der Firma, machten die jährlichen Kosten des Marketings
mit 1,3 Milliarden damals gut einen Drittel des Geschäftsumsatzes aus (TA,
17.10.2012). Durch den aussergewöhnlich hohen Einsatz und das ebenso
abenteuerliche wie clevere Vermarkten von Extremsport-Events schnellt der
Firmengewinn auf einsame Rekord-Limits hoch. Es kursieren in diesem Umfeld
viele verrückte Geschichten. Eine davon sei zum Schluss in anekdotischer Kürze
erzählt.
Wir
wissen nicht, für wie viele Millionen der glückhafte Ikarus seine Seele in den
Pakt mit RED BULL um seine High-Tech-„Flügel“ gab, welche bei der Realisierung
seines geschenkten Flugtraums unter dem Überschalldruck des Sturzes nicht
zerstoben. Es ist anzunehmen, dass auch Mateschitz seine Seele von Anbeginn
seiner Karriere in den Handel mit High-Swing-Risiken gab. RED BULL steigert den
Trend kalkulierter Vermarktung spektakulärer Extremsport-Events und Rekorde zu
einer bisher kaum erreichten „Hype“, wie der Trendausdruck des mitfiebernden
Eventjournalismus lautet. Die Verführungsmacht des Geldes beweist in diesem
Geschäft auch seine Schlagzeilen kreierende Wirkung. Mateschitz’s Konzern wurde
in den USA wegen Täuschung der Öffentlichkeit verklagt, weil der nicht
metaphorisch, sondern wörtlich ausgelegte Werbeslogan „RED BULL VERLEIHT
FLÜGEL“ seine angepriesene Wirkung nicht erfülle und das Getränk aus der
handlichen Büchse ausserdem als Aufputschmittel versagt habe. Die Anwälte der
Firma konnten vor Gericht offenbar nicht beweisen, dass mit „RED BULL“, dem
Subjekt des Slogans, nicht das „Energy“-Getränk, sondern das
Sponsoring-Unternehmen zu verstehen ist. Der Konzern „hilft“ Extremsportlern
und Abenteurern mit seinen Werbeaktionen „ihre Flugträume zu erfüllen“ - mit
der durchschaubaren Formel legitimiert Mateschitz jedenfalls das exorbitante
Werbeprojekt. Um eine drohende Massenklage zu verhindern, zog RED BULL einen
Vergleich vor und strich sich eine 13-Millionen-Busse zugunsten eines
Entschädigungsfonds ans Bein.
Eine
magisch-mythische Ur-Macht der Verführung entfaltet sich im Medium Geld, wenn
der Mensch seinen eigenen Körper und sein Leben ins Spiel gibt und damit alles
auf e i n e Karte setzt. Wenn er zieht, nimmt er in Kauf,
dass er die schwarze Todeskarte in den Fingern hält. „Aussergewöhnlichen
Menschen helfen, ihre aussergewöhnlichen Ziele zu verwirklichen“, lautet die
praktische Marketingdevise. Im Fall von Extremsport-Experimenten ist in solcher
Hilfestellung das Todesrisiko auf zynische Weise einkalkuliert. Die Todesgefahr
gibt für die Publikums-Öffentlichkeit den Kick. Das ist im Formel-I-Sport, beim
Extremklettern, bei Skiabfahrten mit Sprüngen über Felswände oder
Klippen-Todessprüngen der Fall. Das Perverse daran ist, dass mit dem Erfolg der
verlockenden Prämie auch die Werbewirkung und die Vervielfachung des Einsatzes
zugunsten der Organisatoren, selbst bei tödlichem Ausgang, in der Regel
gesichert sind. Auch die Verwerter, gemeint sind vor allem die prominenten
Medien, ziehen aus der gross aufgezogenen Aktion ihren Profit.
Vielleicht
lässt sich der grundsätzlich formulierter Schluss ziehen: Je mehr die auf
Gewinn orientierte Selektion der Medien - statistisch gesehen ihre Mehrzahl -
mit reisserischen Themen das Interesse der Zuschauer auf sich lenken, desto
stärker konditionieren sie ihre Wirklichkeitswahrnehmung. Die mediale Filterung
der Wirklichkeit, die Schärfung der Sinne auf das Spektakuläre und ihre
gleichzeitige Entschärfung für das Zusammenhängende schwächt das Vermögen eine
komplexere Welt zu verstehen. Die medial vermittelte Wirklichkeit oder die
sogenannte „virtuelle Zwischenwelt“ ist in der hochtechnisierten Gesellschaft
umgreifender als je zuvor, wir sind von ihr gleichsam umhüllt. Der gängigen
Ausdruck „Mediensulz“ assoziiert die plakative Vorstellung vom Schweben in
einer medialen Sulzmasse. Ihre negative „Abstraktionsleistung“, ihre Relationen
verzerrende, manchmal sinnverwirrende Wirkung und deren destruktive Folgen sind
umso schwerer durchschaubar, je stärker die mediale Welt die Wahrnehmung
beansprucht. Wir tragen Sorge, dass Kinder ihren aufregenden, oft effektvoll
übersteigernden Inszenierungen nicht schutzlos ausgesetzt sind. Doch wir haben
wohl unseren eigenen Widerstand, unseren eigenen Realitätssinn an ihr nicht
ausreichend getestet. Indem die Medien den Horizont durch ihren gigantischen
Fokus erweitern, erschaffen sie eine Realität aus zweiter Hand, ein Surrogat
der Schöpfung.
Das
wundersam-mythische Vorspiel eines astronautischen Experiments reizt zum
Hightech-Venture. Die Geschichte vom Stratosphärensprung ist allerdings mit dem
Werbecoup von RED BULL nicht abgeschlossen.
Dass
kaum zwei Jahre nach Baumgartners Superlativ ein einsamer Überflieger den
Rekord des glücklichen Österreichers brach, hat kaum jemand in der breiten
Öffentlichkeit wahrgenommen. Der Rekordbrecher, dem es wohl gar nicht um den
Rekord ging, sprang nicht für eine berühmte Sponsor-Firma, obwohl er ein
Manager von GOOGLE ist. Und er sprang nicht für alle Medien der Welt, die ein
Spektakel daraus gemacht hätten, was bekanntlich neben „Show“ vor allem „Lärm“
bedeutet. Er betrieb seinen im Vergleich zu RED BULL weit geringeren Aufwand
auf eigene Kosten und schloss den Pakt um den Thrill des Todesrisikos ganz mit
sich selbst. Google, heisst es, habe sich bereit erklärt sein Projekt
finanziell zu unterstützen, doch er habe abgelehnt, „worried that his jump
would become a marketing event“. Alan Eustace organisierte die Vorbereitungen
seines „wild, wild ride“, wie er das Wagnis beschreibt, selbständig. Der
„risk-taker“ mit seiner Leidenschaft für Details, welche Zufälle nach
technischem Ermessen ausschliesst, stürzte wie Ikarus, aber nicht in den Tod,
sondern ins Leben zurück. (Zitate nach New York Times)
Der
ausgesprochene Wille Alan Eustace’s, alles daran zu setzen, dass sein
Rekordsprung nicht zum „Marketing Event“ verkommen solle, ruft Pieter Bruegels
ungewöhnliche Interpretation des mythischen Dramas in seinem frühen Gemälde
„Landschaft mit dem Sturz der Ikarus“ in Erinnerung:
Hinweis:
Eine ausführliche Besprechung des eindrücklichen Bildes ist im ersten Teil
eines nächsten Blogposts vorgesehen.
Sloterdijks Fortschrittsanalyse: „Technokreditismus“ als Motor der sich eigengesetzlich fortzeugenden Entwicklung und die Metapher vom blinden Gleitflug der Wirtschaft
Die
Sphäre der technischen Evolution erweitert sich durch die sogenannte „Eroberung
des Luftraums“. Es ist kennzeichnend, dass die Geschichte der Technik die
grossen Akte des Fortschritts durch Rückgriff auf den militärischen Wortschatz
zelebriert. In den letzten Jahrzehnten entwickelt die Luftfahrtindustrie
Grossraum-Flugzeuge. Die Transportkapazität
wächst, das Netz der Flugrouten umspannt den Globus immer dichter,
Fliegen wird laufend sicherer und billiger. Seit dem Evolutionssprung vor etwas mehr als
hundert Jahren ist der Flug zu jedem Fernziel selbstverständlich geworden. Die
Entwicklung der zivilen und militärischen Mobilität explodiert in der
Atmosphäre als eine Manifestation des sich selbst generierenden, scheinbar
grenzenlosen technischen Fortschritts, seines Wachstums in die dritte
Dimension. Seit einem halben Jahrhundert zielt er bereits weit über den
erdnahen Raum hinaus. Gleichzeitig erzeugen die elektronischen
Informations-Medien den weltvernetzenden Raum vierter Dimension.
Während
des Kalten Kriegs treibt die Konkurrenz zweier militärisch-industrieller
Komplexe und ihrer ideologisch divergierenden Systeme den wissenschaftlich-technischen
Fortschritt und die in ihrem Resultat konvergierende wirtschaftliche
Entwicklung an: Kapitalismus versus Sozialismus, kreditgelenkte Marktwirtschaft
versus staatsgelenkte Planwirtschaft. Zweck der Entwicklung ist die Vermehrung
des allgemeinen Wohlstands und der militärischen Schlagkraft, Ziel die
weltgeschichtliche Entscheidung über das gesellschaftliche System und die
politische Dominanz.
Peter
Sloterdijk untersucht in seinem 2014 publizierten Werk „Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit“ die Logik des Ineinandergreifens von Geldwirtschaft und
technisch-industriellen Entwicklung. Mit Blick auf das 19.Jahrhundert und die
industrielle Revolution stellt er fest: „Die Allianz der beiden
Selbstverstärkungssysteme aus kreditbasiert-zinsgetriebener Wirtschaft und
innovationsgetriebenem Maschinenbau resultierte in dem bis heute mächtigsten
Komplex halbblind vorwärtsstrebender Tendenzen, die man noch immer unter dem
ungeschickten Terminus ‚Kapitalismus‘ zusammenfasst, obschon es, wäre es um einen
wahren Namen gegangen, von Anfang an Techno-Kreditismus hätte heissen müssen.“
Sloterdijk begründet den Terminus: Die komplexe „Dynamik des Prozesses“,
beschleunigt durch „systemeigene Impulse“ wie Kapital-Investition, Forschung
und unternehmerische Kreativität, leitete eine Entwicklung ein, welche, wie
Joseph Schumpeter 1912 formuliert, „immer weitere Entwicklung erzeugt“.
Nach
den zwei Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise in der Zwischenkriegszeit
wurden Überlegungen und Entscheidungen über Mittel fällig, mit denen der „crash
der Expansionskreisläufe“ in Zukunft verhindert und die wirtschaftliche
Entwicklung stabilisiert werden konnte. Es stellte sich die Glaubensfrage. In
einer starken, durch Goldreserven gestützen Währung wurde in Bretton-Woods die
Gottheit der Ökonomie erkannt. Doch als der Glaube an die finanzwirtschaftliche
Alchemie mit dem Goldpreis „in die inflationäre Drift“ geriet, setzte die
Wirtschaftspolitik auf das „Universalheilmittel“ Liquidität als „jederzeit
praktikable Alternative“: „Sie besteht in der Umwandlung der
Zusammenbruchstendenz in den staatsschuldengestützten Gleitflug“. Die
Notenbanken werden beauftragt, Engpässe bei drohenden Wertkrisen „mit Hilfe von
Liquiditätsvermehrungen auszugleichen“, worunter nichts anderes zu verstehen
ist als die „Geldschöpfung ex nihilo“. „Der Einsatz zusätzlicher Ausgaben durch
konjunkturpolitisch engagierte Regierungen“ treibt den Kreislauf „um den Preis
öffentlicher Schulden“ immer weiter an. Diese Turbo-Politik macht „aus der
Überschuldung der Staatshaushalte eine neue Normalität“. Die Konsequenz ist
eine „permanente, wenn auch meist camouflierte Inflation“. Sie ist der Preis,
den die Öffentlichkeit für das verordnete „permanente unbestimmte Vorwärts“
bezahlt. „Was früher Haushaltpolitik hiess, läuft heute als
‚Schuldenumwälzanlage‘“- der Ausdruck stammt von Gabor Steingart. Wenn Josef
Stieglitz vom „freien Fall“ des Systems spricht, dann ist dieser Zustand
irrtümlich einem „Versagen der Märkte“ angelastet. Sloterdijk vermutet unter
Verweis auf Steingarts Argumentation, es handle sich nicht um einen „freien“
sondern einen „politisch gewollten, vielleicht sogar kalkulierten Fall“. Er
schliesst das Kapitel „Lecons d’histoire - Bretton Wood/Washington“ nach einem
Blick auf die in irrationale Dimensionen gesteigerten öffentlichen und privaten
Schulden mit dem Vorschlag zu einer der Situation angemessenen neuen Metaphorik
wie folgt:
Zum
Schluss eine kurze Reflexion des Eingangszitats aus Sloterdijks „Kritik der
zynischen Vernunft“ unter dem Aspekt Gerechtigkeit: Geld macht alle Güter
gleich, aber die „Käuflichkeit von allem und jedem… löst einen allmählichen,
doch stets sich vertiefenden Prozess der Korruption aus“ (Sloterdijk). Durch
diesen reaktiven Prozess macht Geld auch ungleich: Es schafft soziale
Ungleichheit und ein Wertsystem, welches in einem eigentümlichen und nur schwer
durchschaubaren Ausmass bestimmt, was gerecht ist. Schlecht und recht, sach-,
fach-, kunst- und marktgerecht - der Preis legt eine Rangordnung der Produkte
fest. "Der Markt hat immer Recht." Werbung und Preis erzeugen und
regulieren die Nachfrage. Wird die kommerzielle Werbung je "endogene" oder "systemeigene Impulse" erzeugen,
welche die öffentliche Obsession zum Diskurs über die Frage provozieren, ob die
profitabelsten Leitprodukte und der unermessliche Strom an wechselnden
Produkten des Markts auch umwelt-, menschen- und zukunftsgerecht sind?
Der
vorliegende Versuch kann zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Werbung
als Mobil des Konsums und Folie eines hedonistischen Daseinskonzepts anregen.
Frage: Verzicht und radikale Abkehr vom Komfort regulierten Wachstums? Nein!
Aber Nachdenken über die Bedingungen, unter welchen besonders die
Vorspiegelungen der Werbung einen selbstverständlichen Anspruch darauf zu
begründen scheinen.
Antrag zu einer Sonderpreisverleihung
Der Antrag richtet sich an die Organisation sowie die Werbe-Sponsoren der Skateboard-Wettkämpfe in Karlsruhe, Peter Sloterdijk, Philosoph und Rektor in Karlsruhe, den ersten Preis in einer zu schaffenden Sonderkategorie zu verleihen. Diese Kategorie soll zukunftsweisend und sinnstiftend sein und unter einem werbewirksamen Signet bekannt gemacht werden. Die Ausführung ist als Anregung gedacht.
Statistik
Werbung: In
Deutschland, dem „werbestärksten Land“ innerhalb Europas, betragen die
jährlichen Werbeinvestitionen mindestens 40 Mrd. Euro. Sie gelten als „der stärkste
Beleg für den Wert der kommerziellen Kommunikation für Wirtschaft und
Gesellschaft“. Der Anteil der kommerziellen Werbung am Bruttoinlandsprodukt
beträgt rund 1,4 Prozent.
Kultur: Die
Kulturausgaben der öffentlichen Hand lagen 2009 in Deutschland bei 9,13 Milliarden
Euro. Insgesamt stellten die öffentlichen Haushalte für den Kulturbereich 1,64
Prozent ihres Gesamtetats zur Verfügung (111,48 Euro je Einwohner). Die
öffentlichen Kulturausgaben entsprachen 2009 einem Anteil von 0,38 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Im Kulturbudget einbezogen sind Rundfunkanstalten und
Fernsehen.
Ergänzende Angaben: Das
öffentliche Budget für Bildung und Erziehung, Forschung und Wissenschaft in
Deutschland liegt 2013 bei einem Allzeithoch von 235,4 Milliarden Euro, das
entspricht 9,4 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Zu beachten: Kunsthochschulen und
Volkshochschulen werden aus dem Kulturbudget finanziert.