AUFSTEIGER UND REVOLUTIONÄR: DAVID SPRÜNGLI UND GEORG BÜCHNER
Die Schweizer Kantone hatten hatte schon 1803 den Zentralismus der helvetischen Republik abgeschafft und mit der Zustimmung des Revolutionskaisers die föderalistische Tradition erneuert. 1815, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft, richteten sie ihre alte Souveränität und das Ancien Regime mit geringen Modifikationen wieder auf. Untertanenlande blieben zwar aus dem Bestand gestrichen, nicht aber die Untertanenverhältnisse, denn die im konservativen Geist restaurierten Verfassungen hoben unter Berufung auf eine gottgewollte ständische Ordnung die Rechtsgleichheit der Revolutionszeit wieder auf.
Die französische Julirevolution von 1830
gab den Anstoss zur Regeneration. Der Liberalismus erlebte in der Mehrheit der
Stadtkantone und in allen während der Helvetik neu gebildeten Kantonen einen
vorerst auf Widerruf gestellten Durchbruch. In der gewerbefleissigen, politisch
fortschrittlich-liberalen Landschaft Zürichs versammelten sich die aufgewühlten
Untertanen 1830 in Uster und setzten gegen die „gnädigen Herren“ des
städtischen Regiments die Forderung nach einer zu ihrer Stärke proportionalen
Vertretung durch. Das allgemeine Wahlrecht öffnete ihnen den Eintritt in den
gesetzgebenden Grossen Rat und indirekt in die Regierung.
David Sprüngli: Der Aufstieg des ehemaligen Untertans
Die Schweizer Kantone hatten hatte schon
1803 den Zentralismus der helvetischen Republik abgeschafft und mit der
Zustimmung des Revolutionskaisers die föderalistische Tradition erneuert. 1815,
nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft, richteten sie ihre alte
Souveränität und das Ancien Regime mit geringen Modifikationen wieder auf. Untertanenlande
blieben zwar aus dem Bestand gestrichen, nicht aber die Untertanenverhältnisse,
denn die im konservativen Geist restaurierten Verfassungen hoben unter Berufung
auf eine gottgewollte ständische Ordnung die Rechtsgleichheit der Revolutionszeit
wieder auf.
Die französische Julirevolution von 1830
gab den Anstoss zur Regeneration. Der Liberalismus erlebte in der Mehrheit der Stadtkantone
und in allen während der Helvetik neu gebildeten Kantonen einen vorerst auf
Widerruf gestellten Durchbruch. In der gewerbefleissigen, politisch fortschrittlich-liberalen
Landschaft Zürichs versammelten sich die aufgewühlten Untertanen 1830 in Uster
und setzten gegen die „gnädigen Herren“ des städtischen Regiments die Forderung
nach einer zu ihrer Stärke proportionalen Vertretung durch. Das allgemeine Wahlrecht
öffnete ihnen den Eintritt in den gesetzgebenden Grossen Rat und indirekt in die
Regierung.
1836 erwarb der Geselle David Sprüngli
aus Andelfingen nach dem Hinschied des Stadtzürcher Ratsherrn Ludwig Vogel von
dessen Witwe die Zuckerbäckerei seines Lehrmeisters und gründete die Confiserie
Sprüngli und Sohn. Das Geschäft war an der Marktgasse über der blauen Limmat vorzüglich
gelegen. Die Rathausbrücke verband nur wenige Schritte entfernt im Zentrum der Altstadt
das rechtsufrige Zürich mit der Fraumünsterseite und der Neustadt am
Schanzengraben. 1845 nahm Sprüngli - im
Zug seiner Zeit - die Produktion von Schokolade auf. Van Houtens hydraulische
Presse trennte die Kakaokomponenten Butter und Pulver. Konnten sich bisher nur Aristokraten den von Apothekern
angebotenen exotischen Kakao leisten, so ermöglichte die industrielle Revolution
die Herstellung der Tafelschokolade als raffiniertes Massenprodukt. Sprüngli
und Sohn bauten auf diese Errungenschaft die Zukunft ihres Unternehmens. Der
ehemalige Untertan war arriviert. David Sprüngli wurde schon 1838 von der Stadt
eingebürgert und in die Zunft der Schifferleute aufgenommen.
1859 eröffneten Vater und Sohn das bald
berühmte Etablissement am Paradeplatz. Einen klassizistischen Bau, von zeitgemäss
nüchtern-puritanischer Ästhetik, durchaus zürcherisch, doch von imponierender
Dominanz. Der Zuckerbäckerpalast der Gründerzeit fand seinen angemessenen Platz
in der Neustadt, wo sich die arrivierte Gesellschaft zur Selbstdarstellung bei
Kakao, Kaffee und Schokoladekuchen einfand. Die Bundesbahn errichtete zwar wenig
später ihren weltverbindenden Prachtbau nicht, wie man spekuliert hatte, am
Paradeplatz, doch liessen sich am nobelneuen Bahnhof-Boulevard, der den Bahnhof
mit dem Platz verband, die Juweliere, Kürschner und Seidenhändler, später auch
die Grand Magasins nieder und das à la mode gekleidete Volk verkehrte lieber da
als in den engen Altstadtgassen. Die Financiers begründeten in der modernen
City den Aufstieg Zürichs zum Bankenplatz. Leu und Bär hiessen die Dynastien
angesehener Privatbankiers. Die Confiserie am Zürcher Corso fand sich bald in bedeutendster
Gesellschaft, bauten doch die zwei mächtigen Kreditinstitute der
Industrialisierung, die Kreditanstalt und die Bankgesellschaft, ihre
herrschaftlichen Hauptsitze um den Paradeplatz, welcher durch ihre Präsenz sowie
den Prachtbau des Hotel Baur mit seinen jonischen Säulen erst in seiner
grossstädtischen Gestalt entstand.
1899 wurde die Schokoladefabrik in
Kilchberg in die Aktiengesellschaft Chocolat Sprüngli umgewandelt. Sie kaufte die
Manufaktur der Berner Sippe Rudolphe Lindt und mit dieser das Geheimnis des
Conchierens. In der Fabrikationsgemeinschaft Lindt & Sprüngli wurde die
„chocolat fondant“ produziert, welche sich als Markenzeichen schweizerischer
Errungenschaft im Reich der süssen Gaumenfreuden Weltgeltung eroberte. Heute
agiert die Firma auf dem globalen Markt.
Georg Büchner: Der frühe
Tod des revolutionären Dichter-Asylanten in Zürich
Unweit der Marktgasse, wo die
Chocolatier-Dynastie Sprüngli 1836 in der Zürcher Altstadt ihren Aufstieg
begründete, nur gerade über die Münstergasse um die Ecke, betritt man die
Spiegelgasse, die damals noch Steingasse hiess. Dort bezog im Herbst des
gleichen Jahres der deutsche Emigrant Georg Büchner ein bescheiden möbliertes Zimmer
im Wohnhaus des Regierungsrats und Arztes Hans Ulrich Zehnder, in welchem er im
Februar 1837 innert zweier Wochen im Alter von 24 Jahren am Typhus starb.
Jenseits der Grenzen seiner deutschen
Heimat, im elsässischen Strassburg, studierte Büchner 1831/32 Medizin und kam im
verhältnismässig liberalen Milieu der Stadt wohl auch in Kontakt mit Kreisen,
welche gegen das korrupte „Bürgerkönigtum“ in Frankreich agitierten. In die
unerträgliche politische Enge des Grossherzogtums Hessen heimgekehrt schrieb
er: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt
geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie
spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.“ Im rheinischen
Duodez-Fürstentum Hessen, einer der deutschen „Däumlings“-Monarchien, wie sie
Büchner ironisch bezeichnet, regieren Zensur und Geheimpolizei.
An der hessischen Landesuniversität in
Giessen hatte Büchner seine Examensemester zu absolvieren. In der
nordhessischen Kleinstadt machte er Bekanntschaft mit dem republikanischen
Revolutionär Weidig. 1834 verfasste er eine unter dem Titel „Der hessische
Landbote“ verbreitete Flugschrift, welche ihn nicht nur als republikanischen
Aktivisten, sondern auch als leidenschaftlichen Vetreter des Frühsozialismus
ausweist, und verschwor sich im Untergrund mit Freunden in der „Gesellschaft
für Menschenrechte“ gegen das reaktionäre Regiment. Unter dem Druck
gerichtlicher Vorladungen und Durchsuchungen entstand in Darmstadt, am Wohnsitz
seiner Eltern, das pessimistisch gestimmte Revolutionsdrama „Dantons Tod“. Steckbrieflich
verfolgt, entzog sich Büchner der Verhaftung durch die hessische Polizei und
der Drohung strenger Kerkerhaft durch Flucht nach Strassburg, wo er 1835/36
seine morphologischen Studien forttrieb sowie den „Lenz“ und Entwürfe seiner
bittersüssen politischen Märchensatire „Leonce und Lena“ verfasste.
Indessen bedrohte der verlängerte Arm
der Fahnder die Exilhessen auch in den elsässischen Grenzgebieten. Er begann
wohl noch die Arbeit am „Woyzeck“. Doch die Aussicht auf eine gesicherte
Existenz bewog Büchner, sich Papiere und Empfehlungen für Aufnahme im
republikanischen Zürich zu beschaffen, dessen Universität unter ihrem ersten
Rektor, dem exildeutschen Naturphilisophen Lorenz Oken, zu einem „Mittelpunkt
der freien Wissenschaft“ geworden war und zahlreiche politisch Verfolgte anzog.
Büchner erreichte als ein Getriebener mit der ersten Fassung der Komödie und
Szenen-Entwürfen des verstörenden dramatischen Fragments sein letztes Exil.
In Zürich wurde er aufgrund seiner in
Strassburg entstandenen Dissertation über die Schädelnerven der Barben promoviert
und mit einem Unterrichtspensum an der gerade drei Jahre zuvor feierlich
gegründeten Universität betraut. Als Privatdozent begann er im November mit
philosophischen Vorlesungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Seine
Erkenntnisse demonstrierte er vor seinen wenigen Zuhörern an selbst
hergestellten Präparaten. Büchner lebte in Zürich nach Zeugnissen von
Landsleuten sehr zurückgezogen, hatte nur wenige enge Kontakte zu
Exildeutschen, von denen er einige von Hessen und Strassburg her kannte, und
enthielt sich bewusst jeglicher politischer Aktivität. Die zweite Fassung von
„Leonce und Lena“ entstand im September. Im Winter arbeitete er wohl neben
seinem Pensum hauptsächlich an den „Woyzeck“-Szenen. Unter der Belastung der
Flucht, dem Druck der Arbeit zur Sicherung seiner Existenz und der
Herausforderung seines literarischen Ehrgeizes erschöpfte sich wohl seine
Widerstandskraft und er erlag am 19.Februar 1837 der Ansteckung durch den in
hygienisch unzulänglichen Verhältnissen lauernden Virus.
Das grossfürstliche
Regiment: Büchners Gleichnis obrigkeitlicher Selbstgerechtigkeit
1834 hatte Friedrich Ludwig Weidig die
von Büchner entworfene Flugschrift in entschärfter Fassung unter dem Titel „Der
hessische Landbote“ verbreitet. Büchner
hatte in seiner ebenso wortgewaltigen wie wirkungslosen Flugschrift die
rechtlose, unter der Steuerlast und schwerer Arbeit Not leidende Mehrheit der
Bevölkerung Hessens aufgerufen, sich
gegen ihre gut gemästeten Staatserhalter, die verlogene grossherzogliche
Regierung, ihre Ordnungsmacht und ihre Günstlinge zu erheben, sobald der Herr
sie „durch seine Boten und Zeichen ruft“. Mit dem Zusatz stützt Büchner die Vermessenheit
auf einen höheren Willen ab, an den er selber nicht mehr glaubt. Er ist für das
durch Religion in ergebener Unmündigkeit gehaltene Volk gedacht. Eine
Konzession nicht an die Religion als Erziehungsmittel der Herrschenden, sondern
an die ererbte Frömmigkeit der Menschen, welche sich auf ihre Volkspropheten -
die „Männer Gottes“ - besinnen sollen, durch welche Gott seinen Willen
offenbart.
Die realpolitische Kausallogik, welche die
Fälligkeit der Revolution in seinem Sinn begründet, fasst Büchner zunächst durch
den markanten Satz: „Die Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu
halten, damit man euch bequemer schinde.“ Darauf giesst er sie in die Form eines
einprägsamen Gleichnisses. Er karikiert das obrigkeitlich gelenkte Staatswesen
als eine Theatermaschinerie, welche sich quasi-automatisch in Selbstbewegung
hält, indem seine durch Steuergelder ernährten Repräsentanten „alle zusammen“
an den Schnüren ziehen, an welchen sie als „Drahtpuppen“ aufgehängt sind. Indem
seine Glieder oder sein Personal - der „grossfürstliche Popanz“ und die Favoriten,
Minister, Räte, Richter, Sekretäre, Bediente, Kutscher, Offiziere, Polizisten,
Schergen - raffiniert miteinander verhängt ihre vorbestimmten Rollen
spielen, erscheint das monarchische
Regiment als ein nutzlos seinen eigenen Zwecken dienender gesellschaftlichen Überbau,
als ein wohl funktionierendes Blendwerk. Es ist
daher ein Verhängnis im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. Das Bild zieht
sich in Varianten durch Büchners Werk. Es enthält im Kern seine pessimistische Weltanschauung
und verweist auf ein Leitmotiv seiner zwei Jahre später entstehenden Komödie
„Leonce und Lena“, welche der Dichter-Asylant vor seinem Tod neben seinen
Studien und Seminaren in Zürich abschliesst.
Die „liberale“ Perversion: Frankreichs „Juste Milieu“ oder als der Bürger zum König wurde
In Frankreich begünstigte das
konservative Regime Karls X. durch den Wahlzensus den Grossgrundbesitz. Als der
bourbonische Monarch ein ultraroyalistisches Ministerium berief und das Wort in
autokratischer Manier der Zensur unterwarf, brach in der Kammer der Verfassungskonflikt
aus. Im Augenblick ordnungsstaatlicher Schwäche erhoben sich in Paris 1830 die
Arbeiter, Studenten und Kleinbürger, errichteten Barrikaden und erkämpften die
Abdankung des Königs. Doch die als sozialanarchisch verschriene „Basisrevolution“
wurde rasch durch politisch versierte Vertreter des liberalen Grossbürgertums
abgedrosselt und umgedreht.
Die neue französische Konstitution
reservierte das aktive und passive Wahlrecht für einen Prozentbruchteil von
190'000 Bürgern durch einen selektiven Zensus nach ihrem Vermögensstand. Der
Trikolorefürst aus dem Haus Orleans, den die Einflussträger inthronisierten,
verdankt seine beschränkte Macht also im Prinzip der Souveränität einer
verschwindenden, aber einflussreichen Minderheit des Volks. Der „Bürgerkönig“,
wie er in Anbiederung an eine unsichere Mehrheit hiess, regierte dennoch höchst
souverän, weil der Staatshaushalt nicht durch eine allgemeine Steuer, sondern
bequem durch Anleihe-Emissionen finanziert wurde. Louis Philippe, der mit
seiner Rolle in keinerlei Standeskonflikt geriet, war gemäss Toqueville dem
Nützlichen zugewendet. Er vertrat das Interesse der Industrie. Selber
schwerreich, war er in seinen Veranlagungen und Zielen kein Angehöriger des
Adels, sondern die ideale Verkörperung des aufstrebenden Bürgertums. Konsequent
übertrug er in dessen Sinn und Interesse die Herrschaft auf die
Finanzaristokratie, welche die Grossgrundbesitzer als staatstragende Macht
ablöste.
Als die Revolution von 1789 zur
Schreckensherrschaft entartet war und auch Dantons Kopf forderte, hatte der Revolutionsführer
- der Titelheld von Büchners Drama - ausgerechnet Louis Philippe, dem Sohn
Philippe „Egalités“, prophezeit, dass seine Herrschaft die Revolution beenden
und „jeder Bürger König sein werde unter einem König, der ein Bürger“ wäre. Die
Erschütterung über die Tyrannie der Revolution war 1830 verwunden und das
Revolutionskaisertum hatte die alte ständische Welt in eine neue Form
umgegossen. Die bevorrechtete Elite dachte im Grunde nach wie vor ständisch, obwohl
sie nicht die Legitimität eines Standes, sondern nur das überhebliche
Bewusstsein einer sich absondernden neuen Klasse besass. Doch sie war urban,
gewandt und organisatorisch fähig, sich der Mittel zu bedienen, welche der
Aufbruch der industriellen Revolution ihnen in die Hand spielte.
In der Durchsetzung ihrer Ziele waren
sie nur allzu begabt. Sie fanden sich leicht in ihrer Rolle. Das traditionelle
Gehabe der Macht kaschierte gefällig die Mittel, welche der Zweck des
schwindelnden Aufbruchs heiligte. Und der Fortschritt bestach. Zur politischen
Utopie der Aufklärung war jetzt, zur Zeit des Hochkapitalismus, eine neue
getreten: dass nämlich der Wohlstand generierende industrielle Fortschritt, der
sich grossspurig anbahnte, die gleichmachende Kraft sei. Das war der Trumpf der
neuen Elite, die ihn aufgleiste und vorantriebe, das Tatargument, das ihren
Anspruch legitimierte, ihr die verlorene Weihe lieh.
Der Alamode-Wechsel der Aktualitäten,
welche die Öffentlichkeit in Bann zogen, und der Opportunismus der
grossbürgerlichen Akteure - verbreitete Geldgier, Machtanmassung und
Menschenverachtung - setzten allerdings den Zunder in die Köpfe der sozial
benachteiligten, politisch rechtlosen Mehrheit der Bevölkerung. Der König hatte
den Grossbankier Périer zum Premierminister berufen. Der Hungeraufstand der
Lyoner Seidenweber im November 1831 wurde auf sein Betreiben von einer zu
diesem Zweck bewaffneten Bürgerwehr niedergeschlagen und die Gerichte
verhängten drastische Strafen. Périers Nachfolger verhängten die Zensur. Sie unterdrückten
den politisch motivierten Pariser Aufstand der Arbeiter und republikanischen
Studenten im Juni 1832 und die weiteren Revolten in Paris und Lyon 1834 genauso
konsequent und gewaltsam. Unruhen im Stil der Maschinenstürme waren weit
weniger gefährlich. Attentate überlebten der König und der verlogene Mythus glücklicher
Bürgerherrschaft mit Glück. Aber das liberale Ideengut der Aufklärung war nun
Allgemeingut geworden. Die Utopie und die Erfahrung realen Unrechts stärkte unter
den Gedemütigten die Gewissheit, dass die Ungleichheit des sozialen und
politischen Status nicht als gottgewollte Kondition hinzunehmen war. Der Stoff
mottete in den Köpfen, wurde in den geheimpolizeilich verfolgten
Geheimgesellschaften ausgebrütet und liess sich in der krisen- und
katastrophenanfälligen kommenden Zeit nicht mehr exstinguieren
.
.
Der politische Literat und spätere Premier Guizot forderte
die Allgemeinheit auf, sich durch Arbeitsfleiss
Wohlstand zu erwerben, um sich aus eigener Kraft in den Genuss des ihr durch den
Zensus vorenthaltenen Wahlrechts zu setzen. Die Volksmeinung verdichtete die
ministeriale Ermunterung wohl auf das geläufige Schlagwort: „Enrichissez-vous!“
Mit Grund bezog die erdrückende Mehrheit der politisch Rechtlosen die Parole
spöttisch auf die bevorrechtete Minderheit, welche ihren politischen Status clever
nutzte, um sich am Sozialprodukt zu bereichern.
Das verstand die Obrigkeit in
Frankreich unter dem „juste milieu“: nämlich den idealen Schnitt zwischen
Absolutismus und Demokratie in Form eines zwar als „gerecht“ bezeichneten, aber
bloss als opportun betrachteten Zugeständnisses an die Reichen zur politischen
Teilnahme am prosperierenden Staatswesen. Die Teilnahme wurde von der
Oberklasse als Gelegenheit genutzt, sich Ämter und wirtschaftliche Vorrechte zu
verschaffen, um das industrielle Wachstum zu fördern, dabei allerdings auch weidlich ihr Selbstinteresse zu bedienen.