Montag, 11. November 2019

Aufsteiger und Revolutionär: Zwei Lebensgeschichten zur Zeit der Zürcher Regeneration





AUFSTEIGER UND REVOLUTIONÄR: DAVID SPRÜNGLI UND GEORG BÜCHNER



Die Schweizer Kantone hatten hatte schon 1803 den Zentralismus der helvetischen Republik abgeschafft und mit der Zustimmung des Revolutionskaisers die föderalistische Tradition erneuert. 1815, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft, richteten sie ihre alte Souveränität und das Ancien Regime mit geringen Modifikationen wieder auf. Untertanenlande blieben zwar aus dem Bestand gestrichen, nicht aber die Untertanenverhältnisse, denn die im konservativen Geist restaurierten Verfassungen hoben unter Berufung auf eine gottgewollte ständische Ordnung die Rechtsgleichheit der Revolutionszeit wieder auf.

Die französische Julirevolution von 1830 gab den Anstoss zur Regeneration. Der Liberalismus erlebte in der Mehrheit der Stadtkantone und in allen während der Helvetik neu gebildeten Kantonen einen vorerst auf Widerruf gestellten Durchbruch. In der gewerbefleissigen, politisch fortschrittlich-liberalen Landschaft Zürichs versammelten sich die aufgewühlten Untertanen 1830 in Uster und setzten gegen die „gnädigen Herren“ des städtischen Regiments die Forderung nach einer zu ihrer Stärke proportionalen Vertretung durch. Das allgemeine Wahlrecht öffnete ihnen den Eintritt in den gesetzgebenden Grossen Rat und indirekt in die Regierung.



David Sprüngli: Der Aufstieg des ehemaligen Untertans

Die Schweizer Kantone hatten hatte schon 1803 den Zentralismus der helvetischen Republik abgeschafft und mit der Zustimmung des Revolutionskaisers die föderalistische Tradition erneuert. 1815, nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft, richteten sie ihre alte Souveränität und das Ancien Regime mit geringen Modifikationen wieder auf. Untertanenlande blieben zwar aus dem Bestand gestrichen, nicht aber die Untertanenverhältnisse, denn die im konservativen Geist restaurierten Verfassungen hoben unter Berufung auf eine gottgewollte ständische Ordnung die Rechtsgleichheit der Revolutionszeit wieder auf.

Die französische Julirevolution von 1830 gab den Anstoss zur Regeneration. Der Liberalismus erlebte in der Mehrheit der Stadtkantone und in allen während der Helvetik neu gebildeten Kantonen einen vorerst auf Widerruf gestellten Durchbruch. In der gewerbefleissigen, politisch fortschrittlich-liberalen Landschaft Zürichs versammelten sich die aufgewühlten Untertanen 1830 in Uster und setzten gegen die „gnädigen Herren“ des städtischen Regiments die Forderung nach einer zu ihrer Stärke proportionalen Vertretung durch. Das allgemeine Wahlrecht öffnete ihnen den Eintritt in den gesetzgebenden Grossen Rat und indirekt in die Regierung.

1836 erwarb der Geselle David Sprüngli aus Andelfingen nach dem Hinschied des Stadtzürcher Ratsherrn Ludwig Vogel von dessen Witwe die Zuckerbäckerei seines Lehrmeisters und gründete die Confiserie Sprüngli und Sohn. Das Geschäft war an der Marktgasse über der blauen Limmat vorzüglich gelegen. Die Rathausbrücke verband nur wenige Schritte entfernt im Zentrum der Altstadt das rechtsufrige Zürich mit der Fraumünsterseite und der Neustadt am Schanzengraben.  1845 nahm Sprüngli - im Zug seiner Zeit - die Produktion von Schokolade auf. Van Houtens hydraulische Presse trennte die Kakaokomponenten Butter und Pulver. Konnten sich bisher  nur Aristokraten den von Apothekern angebotenen exotischen Kakao leisten, so ermöglichte die industrielle Revolution die Herstellung der Tafelschokolade als raffiniertes Massenprodukt. Sprüngli und Sohn bauten auf diese Errungenschaft die Zukunft ihres Unternehmens. Der ehemalige Untertan war arriviert. David Sprüngli wurde schon 1838 von der Stadt eingebürgert und in die Zunft der Schifferleute aufgenommen.

1859 eröffneten Vater und Sohn das bald berühmte Etablissement am Paradeplatz. Einen klassizistischen Bau, von zeitgemäss nüchtern-puritanischer Ästhetik, durchaus zürcherisch, doch von imponierender Dominanz. Der Zuckerbäckerpalast der Gründerzeit fand seinen angemessenen Platz in der Neustadt, wo sich die arrivierte Gesellschaft zur Selbstdarstellung bei Kakao, Kaffee und Schokoladekuchen einfand. Die Bundesbahn errichtete zwar wenig später ihren weltverbindenden Prachtbau nicht, wie man spekuliert hatte, am Paradeplatz, doch liessen sich am nobelneuen Bahnhof-Boulevard, der den Bahnhof mit dem Platz verband, die Juweliere, Kürschner und Seidenhändler, später auch die Grand Magasins nieder und das à la mode gekleidete Volk verkehrte lieber da als in den engen Altstadtgassen. Die Financiers begründeten in der modernen City den Aufstieg Zürichs zum Bankenplatz. Leu und Bär hiessen die Dynastien angesehener Privatbankiers. Die Confiserie am Zürcher Corso fand sich bald in bedeutendster Gesellschaft, bauten doch die zwei mächtigen Kreditinstitute der Industrialisierung, die Kreditanstalt und die Bankgesellschaft, ihre herrschaftlichen Hauptsitze um den Paradeplatz, welcher durch ihre Präsenz sowie den Prachtbau des Hotel Baur mit seinen jonischen Säulen erst in seiner grossstädtischen Gestalt entstand.

1899 wurde die Schokoladefabrik in Kilchberg in die Aktiengesellschaft Chocolat Sprüngli umgewandelt. Sie kaufte die Manufaktur der Berner Sippe Rudolphe Lindt und mit dieser das Geheimnis des Conchierens. In der Fabrikationsgemeinschaft Lindt & Sprüngli wurde die „chocolat fondant“ produziert, welche sich als Markenzeichen schweizerischer Errungenschaft im Reich der süssen Gaumenfreuden Weltgeltung eroberte. Heute agiert die Firma auf dem globalen Markt.


Georg Büchner: Der frühe Tod des revolutionären Dichter-Asylanten in Zürich

Unweit der Marktgasse, wo die Chocolatier-Dynastie Sprüngli 1836 in der Zürcher Altstadt ihren Aufstieg begründete, nur gerade über die Münstergasse um die Ecke, betritt man die Spiegelgasse, die damals noch Steingasse hiess. Dort bezog im Herbst des gleichen Jahres der deutsche Emigrant Georg Büchner ein bescheiden möbliertes Zimmer im Wohnhaus des Regierungsrats und Arztes Hans Ulrich Zehnder, in welchem er im Februar 1837 innert zweier Wochen im Alter von 24 Jahren am Typhus starb.

Jenseits der Grenzen seiner deutschen Heimat, im elsässischen Strassburg, studierte Büchner 1831/32 Medizin und kam im verhältnismässig liberalen Milieu der Stadt wohl auch in Kontakt mit Kreisen, welche gegen das korrupte „Bürgerkönigtum“ in Frankreich agitierten. In die unerträgliche politische Enge des Grossherzogtums Hessen heimgekehrt schrieb er: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.“ Im rheinischen Duodez-Fürstentum Hessen, einer der deutschen „Däumlings“-Monarchien, wie sie Büchner ironisch bezeichnet, regieren Zensur und Geheimpolizei.

An der hessischen Landesuniversität in Giessen hatte Büchner seine Examensemester zu absolvieren. In der nordhessischen Kleinstadt machte er Bekanntschaft mit dem republikanischen Revolutionär Weidig. 1834 verfasste er eine unter dem Titel „Der hessische Landbote“ verbreitete Flugschrift, welche ihn nicht nur als republikanischen Aktivisten, sondern auch als leidenschaftlichen Vetreter des Frühsozialismus ausweist, und verschwor sich im Untergrund mit Freunden in der „Gesellschaft für Menschenrechte“ gegen das reaktionäre Regiment. Unter dem Druck gerichtlicher Vorladungen und Durchsuchungen entstand in Darmstadt, am Wohnsitz seiner Eltern, das pessimistisch gestimmte Revolutionsdrama „Dantons Tod“. Steckbrieflich verfolgt, entzog sich Büchner der Verhaftung durch die hessische Polizei und der Drohung strenger Kerkerhaft durch Flucht nach Strassburg, wo er 1835/36 seine morphologischen Studien forttrieb sowie den „Lenz“ und Entwürfe seiner bittersüssen politischen Märchensatire „Leonce und Lena“ verfasste.
Indessen bedrohte der verlängerte Arm der Fahnder die Exilhessen auch in den elsässischen Grenzgebieten. Er begann wohl noch die Arbeit am „Woyzeck“. Doch die Aussicht auf eine gesicherte Existenz bewog Büchner, sich Papiere und Empfehlungen für Aufnahme im republikanischen Zürich zu beschaffen, dessen Universität unter ihrem ersten Rektor, dem exildeutschen Naturphilisophen Lorenz Oken, zu einem „Mittelpunkt der freien Wissenschaft“ geworden war und zahlreiche politisch Verfolgte anzog. Büchner erreichte als ein Getriebener mit der ersten Fassung der Komödie und Szenen-Entwürfen des verstörenden dramatischen Fragments sein letztes Exil.

In Zürich wurde er aufgrund seiner in Strassburg entstandenen Dissertation über die Schädelnerven der Barben promoviert und mit einem Unterrichtspensum an der gerade drei Jahre zuvor feierlich gegründeten Universität betraut. Als Privatdozent begann er im November mit philosophischen Vorlesungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Seine Erkenntnisse demonstrierte er vor seinen wenigen Zuhörern an selbst hergestellten Präparaten. Büchner lebte in Zürich nach Zeugnissen von Landsleuten sehr zurückgezogen, hatte nur wenige enge Kontakte zu Exildeutschen, von denen er einige von Hessen und Strassburg her kannte, und enthielt sich bewusst jeglicher politischer Aktivität. Die zweite Fassung von „Leonce und Lena“ entstand im September. Im Winter arbeitete er wohl neben seinem Pensum hauptsächlich an den „Woyzeck“-Szenen. Unter der Belastung der Flucht, dem Druck der Arbeit zur Sicherung seiner Existenz und der Herausforderung seines literarischen Ehrgeizes erschöpfte sich wohl seine Widerstandskraft und er erlag am 19.Februar 1837 der Ansteckung durch den in hygienisch unzulänglichen Verhältnissen lauernden Virus.


Das grossfürstliche Regiment: Büchners Gleichnis obrigkeitlicher Selbstgerechtigkeit

1834 hatte Friedrich Ludwig Weidig die von Büchner entworfene Flugschrift in entschärfter Fassung unter dem Titel „Der hessische Landbote“ verbreitet.  Büchner hatte in seiner ebenso wortgewaltigen wie wirkungslosen Flugschrift die rechtlose, unter der Steuerlast und schwerer Arbeit Not leidende Mehrheit der Bevölkerung Hessens aufgerufen,  sich gegen ihre gut gemästeten Staatserhalter, die verlogene grossherzogliche Regierung, ihre Ordnungsmacht und ihre Günstlinge zu erheben, sobald der Herr sie „durch seine Boten und Zeichen ruft“. Mit dem Zusatz stützt Büchner die Vermessenheit auf einen höheren Willen ab, an den er selber nicht mehr glaubt. Er ist für das durch Religion in ergebener Unmündigkeit gehaltene Volk gedacht. Eine Konzession nicht an die Religion als Erziehungsmittel der Herrschenden, sondern an die ererbte Frömmigkeit der Menschen, welche sich auf ihre Volkspropheten - die „Männer Gottes“ - besinnen sollen, durch welche Gott seinen Willen offenbart.

Die realpolitische Kausallogik, welche die Fälligkeit der Revolution in seinem Sinn begründet, fasst Büchner zunächst durch den markanten Satz: „Die Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde.“ Darauf giesst er sie in die Form eines einprägsamen Gleichnisses. Er karikiert das obrigkeitlich gelenkte Staatswesen als eine Theatermaschinerie, welche sich quasi-automatisch in Selbstbewegung hält, indem seine durch Steuergelder ernährten Repräsentanten „alle zusammen“ an den Schnüren ziehen, an welchen sie als „Drahtpuppen“ aufgehängt sind. Indem seine Glieder oder sein Personal - der „grossfürstliche Popanz“ und die Favoriten, Minister, Räte, Richter, Sekretäre, Bediente, Kutscher, Offiziere, Polizisten, Schergen - raffiniert miteinander verhängt ihre vorbestimmten Rollen spielen,  erscheint das monarchische Regiment als ein nutzlos seinen eigenen Zwecken dienender gesellschaftlichen Überbau, als ein wohl funktionierendes Blendwerk. Es ist  daher ein Verhängnis im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. Das Bild zieht sich in Varianten durch Büchners Werk. Es enthält im Kern seine pessimistische Weltanschauung und verweist auf ein Leitmotiv seiner zwei Jahre später entstehenden Komödie „Leonce und Lena“, welche der Dichter-Asylant vor seinem Tod neben seinen Studien und Seminaren in Zürich abschliesst.


Die „liberale“ Perversion: Frankreichs „Juste Milieu“ oder  als der Bürger zum König wurde

In Frankreich begünstigte das konservative Regime Karls X. durch den Wahlzensus den Grossgrundbesitz. Als der bourbonische Monarch ein ultraroyalistisches Ministerium berief und das Wort in autokratischer Manier der Zensur unterwarf,  brach in der Kammer der Verfassungskonflikt aus. Im Augenblick ordnungsstaatlicher Schwäche erhoben sich in Paris 1830 die Arbeiter, Studenten und Kleinbürger, errichteten Barrikaden und erkämpften die Abdankung des Königs. Doch die als sozialanarchisch verschriene „Basisrevolution“ wurde rasch durch politisch versierte Vertreter des liberalen Grossbürgertums abgedrosselt und umgedreht.

Die neue französische Konstitution reservierte das aktive und passive Wahlrecht für einen Prozentbruchteil von 190'000 Bürgern durch einen selektiven Zensus nach ihrem Vermögensstand. Der Trikolorefürst aus dem Haus Orleans, den die Einflussträger inthronisierten, verdankt seine beschränkte Macht also im Prinzip der Souveränität einer verschwindenden, aber einflussreichen Minderheit des Volks. Der „Bürgerkönig“, wie er in Anbiederung an eine unsichere Mehrheit hiess, regierte dennoch höchst souverän, weil der Staatshaushalt nicht durch eine allgemeine Steuer, sondern bequem durch Anleihe-Emissionen finanziert wurde. Louis Philippe, der mit seiner Rolle in keinerlei Standeskonflikt geriet, war gemäss Toqueville dem Nützlichen zugewendet. Er vertrat das Interesse der Industrie. Selber schwerreich, war er in seinen Veranlagungen und Zielen kein Angehöriger des Adels, sondern die ideale Verkörperung des aufstrebenden Bürgertums. Konsequent übertrug er in dessen Sinn und Interesse die Herrschaft auf die Finanzaristokratie, welche die Grossgrundbesitzer als staatstragende Macht ablöste.

Als die Revolution von 1789 zur Schreckensherrschaft entartet war und auch Dantons Kopf forderte, hatte der Revolutionsführer - der Titelheld von Büchners Drama - ausgerechnet Louis Philippe, dem Sohn Philippe „Egalités“, prophezeit, dass seine Herrschaft die Revolution beenden und „jeder Bürger König sein werde unter einem König, der ein Bürger“ wäre. Die Erschütterung über die Tyrannie der Revolution war 1830 verwunden und das Revolutionskaisertum hatte die alte ständische Welt in eine neue Form umgegossen. Die bevorrechtete Elite dachte im Grunde nach wie vor ständisch, obwohl sie nicht die Legitimität eines Standes, sondern nur das überhebliche Bewusstsein einer sich absondernden neuen Klasse besass. Doch sie war urban, gewandt und organisatorisch fähig, sich der Mittel zu bedienen, welche der Aufbruch der industriellen Revolution ihnen in die Hand spielte.

In der Durchsetzung ihrer Ziele waren sie nur allzu begabt. Sie fanden sich leicht in ihrer Rolle. Das traditionelle Gehabe der Macht kaschierte gefällig die Mittel, welche der Zweck des schwindelnden Aufbruchs heiligte. Und der Fortschritt bestach. Zur politischen Utopie der Aufklärung war jetzt, zur Zeit des Hochkapitalismus, eine neue getreten: dass nämlich der Wohlstand generierende industrielle Fortschritt, der sich grossspurig anbahnte, die gleichmachende Kraft sei. Das war der Trumpf der neuen Elite, die ihn aufgleiste und vorantriebe, das Tatargument, das ihren Anspruch legitimierte, ihr die verlorene Weihe lieh.  

Der Alamode-Wechsel der Aktualitäten, welche die Öffentlichkeit in Bann zogen, und der Opportunismus der grossbürgerlichen Akteure - verbreitete Geldgier, Machtanmassung und Menschenverachtung - setzten allerdings den Zunder in die Köpfe der sozial benachteiligten, politisch rechtlosen Mehrheit der Bevölkerung. Der König hatte den Grossbankier Périer zum Premierminister berufen. Der Hungeraufstand der Lyoner Seidenweber im November 1831 wurde auf sein Betreiben von einer zu diesem Zweck bewaffneten Bürgerwehr niedergeschlagen und die Gerichte verhängten drastische Strafen. Périers Nachfolger verhängten die Zensur. Sie unterdrückten den politisch motivierten Pariser Aufstand der Arbeiter und republikanischen Studenten im Juni 1832 und die weiteren Revolten in Paris und Lyon 1834 genauso konsequent und gewaltsam. Unruhen im Stil der Maschinenstürme waren weit weniger gefährlich. Attentate überlebten der König und der verlogene Mythus glücklicher Bürgerherrschaft mit Glück. Aber das liberale Ideengut der Aufklärung war nun Allgemeingut geworden. Die Utopie und die Erfahrung realen Unrechts stärkte unter den Gedemütigten die Gewissheit, dass die Ungleichheit des sozialen und politischen Status nicht als gottgewollte Kondition hinzunehmen war. Der Stoff mottete in den Köpfen, wurde in den geheimpolizeilich verfolgten Geheimgesellschaften ausgebrütet und liess sich in der krisen- und katastrophenanfälligen kommenden Zeit nicht mehr exstinguieren
.
Der politische Literat und spätere Premier Guizot forderte die Allgemeinheit auf, sich durch Arbeitsfleiss Wohlstand zu erwerben, um sich aus eigener Kraft in den Genuss des ihr durch den Zensus vorenthaltenen Wahlrechts zu setzen. Die Volksmeinung verdichtete die ministeriale Ermunterung wohl auf das geläufige Schlagwort: „Enrichissez-vous!“ Mit Grund bezog die erdrückende Mehrheit der politisch Rechtlosen die Parole spöttisch auf die bevorrechtete Minderheit, welche ihren politischen Status clever nutzte, um sich am Sozialprodukt zu bereichern.

Das verstand die Obrigkeit in Frankreich unter dem „juste milieu“: nämlich den idealen Schnitt zwischen Absolutismus und Demokratie in Form eines zwar als „gerecht“ bezeichneten, aber bloss als opportun betrachteten Zugeständnisses an die Reichen zur politischen Teilnahme am prosperierenden Staatswesen. Die Teilnahme wurde von der Oberklasse als Gelegenheit genutzt, sich Ämter und wirtschaftliche Vorrechte zu verschaffen, um das industrielle Wachstum zu fördern, dabei allerdings auch  weidlich ihr Selbstinteresse zu bedienen.


Dienstag, 10. Januar 2017

Lifestyle-Werbung zum Neuen Jahr








         
                                  Das Medium zur dynamischen Stabilisierung des Ich-Gefühls

       
                                                                     Alternatives Statement zur Neujahrs-Werbung 
                                                                        unseres Magazins für Freizeit und Lifestyle
                                                                                       Nummer 1 Januar 2017





ICH  leiste mir heute den Luxus, öffentlich zu fahren. 



In der Schweiz hat sich die Verkehrsdichte seit 1990 verdoppelt. Immer mehr Arbeitstätige stehen in Stosszeiten teure Stunden im Stau.

"Die Städte sehen sich mit einem wachsenden Verkehrsvolumen konfrontiert, das sie ohne die Unterstützung des Bundes nicht bewältigen könnten."  Die Regionen fordern ihrerseits einen Ausbau des Verkehrsnetzes. Inbesondere die Berggebiete verlangen die verstärkte Anbindung an die Nationalstrassen.  (Echo der Zeit vom 10.1.2017)

Zur Beschaffung der für den Ausbau und Unterhalt des Verkehrsnetzes erforderlichen Mittel sieht der Bund einen neuen Fonds für die Nationalstrassen und den Agglomerationsverkehr (NAF) vor. 

In diesen Fonds sollen jährlich 3 Milliarden Franken fliessen, Mittel, welche bisher der allgemeinen Bundeskasse zustanden.

Dem Service Public, den Renten und dem Sozialwesen würden durch die Finanzierung der Aufgaben für den Strassenverkehr Mittel entzogen, argumentieren die Gegner der Vorlage.



Video zur Bundesvorlage s.Internet:  


Abstimmung zum NAF - UVEK - Admin.ch

  






Sonntag, 25. September 2016

EIN AUFMACHER DER SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN UND DIE KRISE DES BOULEVARDS










Eine Boulevard-Zeitschrift wirbt für sich. Ihr Verlag verschickt Werbeexemplare einer aktuellen Ausgabe mit persönlichem Schnupperangebot. In einem Schmähartikel gegen einen nationalen Politiker macht sie Wahlpropaganda gegen ihn, betreibt also indirekt politische Werbung.







DIE AFFÄRE DARBELLAY – DAS TAGEBUCH SEINER GELIEBTEN.
Aufmacher der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN vom 14.September 2016:

„Ich habe das Kind anerkannt“ (S.24), „Schwangerschafts-Tagebuch“ (S.26),
Die Rothenbühler Kolumne (S.10), Editorial (S.5)

UNTERHALTUNG IST AUCH SERVICE PUBLIC. Interview mit RINGIER-Chef MARC WALDER zu Krise und Digitalisierung in der Medienbranche, SJ vom 14.September 2016



„Medien dürfen nicht politisch instrumentalisiert werden. Sie sollen die Politik beobachten, hinterfragen, einordnen. Nicht machen.“ (Marc Walder, SJ Interview 14.9. S.43)

Die SJ vom 14.9. skandalisiert auf der Titelseite und in der Artikel-Serie einen bekannten Politiker wegen einer privaten Angelegenheit. Sie nimmt Einfluss auf seine Wahlchancen in den Walliser Regierungsratswahlen, macht also Wahlpolitik. Inhalt und Tendenz des Aufmachers dürften gegen den vom Konzernchef vertretenen Grundsatz verstossen.
 








LESERBRIEF AN DIE SJ-REDAKTION:



Mit der MEGA SCHLAGZEILE und einer Foto des sympathisch lächelnden Sünders auf der Titelseite offerieren Sie - die Redaktion der meistgelesenen Boulevard-Zeitschrift der Schweiz - Ihren Leserknüller der Woche. S i e machen eine Geschichte, welche privat offenbar längst geregelt ist, öffentlich zur „AFFÄRE“ (Ihre Wortwahl!). 

Der SONNTAGS-BLICK „hat enthüllt“. BLICK hat die Jagd auf den „Volltreffer“ eröffnet: Der ebenso prominente wie medienpräsente Parteipräsident und Familienpolitiker ist „zum vierten Mal Vater geworden“. „P I K A N T“  sei der Umstand, dass „nicht seine Frau…die Mutter ist“, so umschreiben Sie, die Redaktion der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN, den lapidaren Tatbestand in Ihrem Seiten-Aufmacher. Sie beherrschen das Einmaleins des journalistischen Spürsinns.

Sie publizieren die Passage aus dem Schwangerschafts-Tagebuch der „Geliebten“, das ja schon als Blog öffentlich zugänglich ist, wohl nicht als Beweismittel. Soll sie Mitleid mit dem Opfer einer eingestandenen Fahrlässigkeit beim Seitensprung des Polit-Promis wecken? Der Appell an die Emotionen der Leser vermittelt wohl den nötigen Kick, von dem der Name Sensationspresse bekanntlich herrührt.

Die kumpelhafte Kolumne Rothenbühler wiegt die Anrüchigkeit Ihrer Enthüllung nicht auf. Im Stil Schwamm darüber „lieber Christophe“ beruhigt der erste Absatz. Im „urbanen“ Wallis blieben die Chancen einer Wahl zum Staatsrat wohl intakt. „Trotz Ihrem Image als politische Windfahne bleiben Sie einer der Besten“, liest man konsterniert. Doch dann lässt die Kolumne einen Platzregen schnoddrig-witziger Fragen aus supponierten Stammtischgesprächen um das „Künstlerpech“ der Nacht vom Stapel. Die höhnische Inquisition erspart dem zum Büsser erniedrigten Staatsratskandidaten keine Peinlichkeit. Öffentliche Beichte im katholischen Milieu sei halt doch eine „komplexere“ Angelegenheit „als sich ein CVP-Familienpolitiker vorstellen“ könne. Erniedrigend tönt die Schlusspassage der Kolumne: „Zum Glück für Sie beginnt gerade die Jagdsaison und Sie können sich wie jedes Jahr mit der Flinte und lieben Kollegen ins Gebirge verziehen… Unser Mitgefühl gilt denn auch ausschliesslich denen, die im Tal bleiben: dem Kind und seiner Mutter, Ihrer Ehefrau und Ihren drei Kindern.“ Humor könnte versöhnlich stimmen. Doch in der fies-frotzelnden, vor Selbstgerechtigkeit triefenden Kolumne wird der Humor skandalös.

Dass die SCHWEIZER ILLUSTRIERTE in einem Schmäh-Aufmacher zu den Folgen eines Ehebruchs die Erfolgschancen des angeschlagenen Parteipolitikers als Wahlkandidat thematisiert, weckt den Verdacht, die Presse verletze ihren GRUNDSATZ, NICHT POLITIK ZU MACHEN. Gemäss einer ihrer vornehmen Regeln beschränkt sich die Aufgabe der Informationsmedien darauf, Politik neutral und sachlich zu  e r k l ä r e n. Eine Politiker-Karikatur wird in unserer Kultur nicht als persönlicher Angriff verstanden. Ein derartiges Eindringen in die persönliche Angelegenheit - sogar in den Intimbereich eines Menschen - ist eine Verletzung seiner Privatsphäre. Es ist missbräuchlich und belastet seine öffentliche Existenz gravierend.






BLICKWECHSEL:  P I K A N T  ist im Hinblick auf Ihre Publikations-Strategie ein anderer Umstand als Ihr Anlass zur Titel-Publikation: Der BLICK, welcher - um bei der Jägersprache zu bleiben - das Wild zur Strecke bringt, gehört mit der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN zur selben Boulevard-Gruppe, beide sind prominente Medienportale des RINGIER-Konzerns.

Es ist gerade Jagdzeit. Nein, Sie, die Redaktion, ziehen Ihre Trefferfolge sichernde „Treibjagd“ doch (hoffentlich!) nicht durch, als ob Sie in den Siebzigerjahren oder danach Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und Günter Wallraffs „Der Aufmacher“ nie gelesen hätten.

Es sei kurz erinnert:

B ö l l  hat in den wilden Jahren der „Roten Armee Fraktion“ und politisch brisanter Affären mit der Jagdgeschichte seiner „ZEITUNG“ die deutsche BILD-Zeitung im Visier. In seinem fiktiven Fall begeht die Boulevardpresse durch aufreizende Berichte Rufmord an einer bisher unbescholtenen Frau. Sie verfälscht Tatsachen über deren Zufallsbeziehung zu einem flüchtigen Verbrecher und löst gegen die von der „ZEITUNG“ als „Terroristenbraut“ oder „Räuberflittchen“ Verschriene eine Hetzkampagne aus. - W a l l r a f f  gibt mit seinen Reportagen Einblick in die anonyme Schmutz-Arbeit als Reporter hinter den Kulissen des berüchtigten Boulevardblatts, das schon damals zum SPRINGER-Konzern gehörte. Der Enthüllungsjournalist macht sich selbst unter falscher Identität zum „Schräubchen der Meinungsmache-Maschinerie“ (Erik Möller) und verfasst für die absatzhungrige BILD-Redaktion Sensationsreportagen, welche die Wahrheit im Schnüffel-Dienst der BILD-Zeitung raffiniert verzerren. Sein Beweismaterial ist authentisch.

Niemand unterstellt Ihnen, dass Sie davon ausgehen, die literarischen Highlights der Siebzigerjahre seien ausgeweidet und vergessen. Wenn man sich auch keine Illusionen über die Langzeitwirkung von Literatur machen soll: zum Schund herunterziehen lassen sich trotz Anfeindungen und Prozessen weder Wallraff noch Böll. Das wissen Sie. Selbstverständlich hat die Boulevardpresse das Image ihrer wilden Zeit inzwischen abgestreift, grobe Verfälschungen lässt sie sich nicht mehr unterschieben, als „Lügenpresse“ kommt sie nicht mehr daher, sollte man meinen. Denn: Sie ist nicht nur dem Markt und absatz-ökonomische Werten verpflichtet, sondern auch politischen - etwa der Familienpolitik, auf die Sie den ertappten Parteipolitiker berufen - und insbesondere recherchierten Tatsachen. Ihre Leser dürfen annehmen: Ein Wertekodex und seriöses Management sind für Sie verbindlich. Sie unterziehen sich einem Presserat, der Ihre Arbeit kontrolliert. Und darum nein, Ihre Reportage zum „Fall“ Darbellay ist bestimmt keine Jagdgeschichte im bekannten „Western-Stil“! Die wilden Jahre sind ja vorbei…

Schliesslich sind Sie gross geworden. Schön! Und man wird es nicht als Ironie der Geschichte betrachten, sondern als Fortschritt, dass die Unterhaltungs-Presse durch Fusionen und Beteiligungen nicht bloss  g r o s s  geworden ist und weiterhin kompetent Royal News verbreitet oder Starkarrieren feiert, sondern: dass sie sich, von Korruption gereinigt, zur eilfertigen SCHUTZMACHT der vom Schicksal oder korrupten Mächten Geschlagenen aufgeschwungen hat. Zum Beispiel - in der Ausgabe vom 16.9. - von Dürre heimgesuchter afrikanischer Dorfbewohner oder arbeitswilliger Flüchtlinge in Como. Vielleicht spürt sie auch mal verwickelten  Steuerfluchtwegen nach? Offshore-Konten von Shareholdern und Konzernen? Soziales Sharing ist heute ja angesagt - Teilen!

Man hat es gewiss nicht der presse-kritischen Literatur jener wilden Jahre zu verdanken, dass Ihre Branche sich heute ein sauberes Image zulegt. Kühler Geschäftssinn diktiert die Schritte. Der von der Achtundsechziger-Bewegung grob angefeindete SPRINGER-Konzern hat sich inzwischen als mächtiger Partner still dem RINGIER-Konzern mit BLICK-Gruppe, SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN oder BEOBACHTER verbunden. Strategischer Kalkül ist bei marktpolitischen Unternehmen am Werk. Über das Schweizer Medienhaus ist SPRINGER nicht zuletzt ein nach Osteuropa ausgreifendes Mini-Imperium zugewachsen.



 


Was bringen solche Hochzeiten? Die  e l e k t r o n i s c h e n  Imperien und besonders die interaktiven „SOCIAL MEDIA“ sind als ebenso ungreifbare wie unüberwindliche Konkurrenz im globalen Feld aufgerückt. Trotz seriösem Management schwinden nicht nur die Absatzzahlen der Papiermedien bedrohlich, sondern - logischerweise - auch die Anteile am sogenannten Werbekuchen. Ja, da muss man sich einiges einfallen lassen. Sich allseitig gut absichern wie Bergsteiger auf einer komplizierten Gratwanderung. Die Luft ist dünn. Mit Mitleid kann kein Hochwild-Jäger rechnen, der da  o b e n  einsam abstürzt. Darum knüpft man Seilschaften, vernetzt sich im grossen Stil, wächst, verzweigt sich durch Beteiligungen, gründet Holdings, Joint Ventures, diversifiziert im Mediengeschäft, wird international. Hochglanz poliert die Reputation, TV- und Radio-Holdings sichern Werbeaufträge und frisches Kapital, in Asien und Afrika öffnen sich neue Märkte… 

Auf unserem politisch gesitteten Kontinent hat die Aufklärung sich endlich durchgesetzt, die Bürger- und Menschenrechte haben ihre Anwälte. Keine Redaktionen werden besetzt und gleichgeschaltet, keine Journalisten werden verhaftet oder ermordet. Nicht hier. Das verdanken wir der Gewaltenteilung, der Meinungsfreiheit, demokratischer Selbstkontrolle. Und besonders seriösen Medien. Wenigstens solange sie ihren guten Vorsätzen treu bleiben. Nein, die wilden Jahre sind zwar vorbei. Aber man darf sich nicht zurücksehnen…

Und hinter blitzblanken Glasfassaden schon gar nicht zurücklehnen! Sie, voran Ihre Chefetage im RINGIER-Konzern, drängen seit zwei, drei Jahren zum ganz grossen Sprung: „Das Informationsgewitter im Internet ist eine grandiose Chance der Zeitschriften“, sagt Ihr CEO Marc Walder in  d e r s e l b e n  Nummer der SJ vom 16.September und eröffnet das neue Konzept. Das Imperium wächst im Konzert mit SPRINGER auch ONLINE. Der Zweck ist die Ursache. Gerade darum geht es angeblich: die guten Vorsätze gegen den Wildwuchs des Internets umzusetzen, das Vertrauen einer agilen jungen Leserschaft und die Kontrolle zurück zu gewinnen, Regeln und journalistische Qualität gegen die auf Smartphones explodierende Konkurrenz der SOCIAL MEDIA zu verteidigen und - natürlich auch Anteile an der Online-Werbung zu sichern. „Aktionsradius Digital Switzerland“? Ja, zusammen mit SWISSCOM und SRG-online. „Miteinander statt gegeneinander“ lautet die paradoxe Devise Walders zur „Lösung der Krise“, just nachdem der RINGIER-Konzern aus dem  Verlegerverband  a u s g e t r e t e n  ist.




 

Widerspruch aus einem Organ Ihrer Gruppe? Im „Standpunkt“ beklagt der wertetreue BEOBACHTER unter dem Titel „Glaubwürdigkeit der Medien bröckelt“ in der Ausgabe vom 16.September, dass der Verlegerverband die Gelder für den Presserat gestrichen habe und damit den Bürgerschutz schwäche. Walder von Ihrer Chefetage beruhigt in der SCHWEIZER ILLUSTRIERTEN gleichentags, man habe den fehlenden Beitrag an den Presserat einbezahlt, damit die Qualitätssicherung garantiert bleibe. Das wirkt wie eine intern abgestimmte Aktion. Eine vertrauensbildende Massnahme? Nun, der Dialog scheint zu spielen. Ihre kritischen Leser dürfen hoffen. Hoffentlich.

Der BEOBACHTER produziert keine Klatschspalten, der Boulevard ist nicht seine Welt. Er setzt sich traditionsgemäss für die Anliegen der Bürger ein. Vor allem der kleinen, der schwachen. Er schafft heute die klassische Synthese von Belehrung und Unterhaltung auf beinahe ideale Weise, nämlich ohne mit dem aufdringlichen Mahnfinger zu fuchteln (Bravo!). Falls die Autorität des Presserats untergraben würde, wäre er als Ersatzjury prädestiniert. In einen  B e o b a c h t e r  wie ihn setzen kritische Leser gewisser Konzernerzeugnisse eine Erwartung. Er könnte den Goldenen Stinkfinger verleihen. Ihn wenigstens zu zeigen wäre im Fall Ihres Aufmachers über den „F a l l  D a r b e l l a y“  jedenfalls angebracht!





Für einen Politiker, der sein Privatleben öffentlich zugänglich gemacht habe wie kaum ein Zweiter im Land, sei Christophe Darbellay „mit einem blauen Auge davongekommen, zumindest medial“, soll Peter Rothenbühler - der EX-Chefredaktor der SJ,  Erfinder des People-Journalismus und Kolumnist - suffisant bemerkt haben. Was man von der Person des Angegriffenen immer hält, die auf den nationalen Politiker und Menschen zielende Schmähkampagne von BLICK und SJ ist unter dem Niveau eines seriösen Boulevards. Der BEOBACHTER hätte mit seiner Anmerkung auch in diesem Sinn recht: Die Qualität des Boulevard-Journalismus „bröckelt“ - selbst wenn man in Frage stellen müsste, ob er überhaupt je sauber war.

Doch es geht unabhängig vom Qualitätsniveau noch um den prinzipiellen Gesichtspunkt: Die Kampagne beider Boulevardmedien setzt sich auch in einen Widerspruch zum erwähnten journalistischen Grundsatz, welchen der Konzernchef Walder im SJ-Interview derselben Ausgabe postuliert, die Presse habe  P o l i t i k  n i c h t  z u  m a c h e n, sondern vielmehr sie zu  e r k l ä  r e n, das heisst: eine politisch  n e u t r a l e  Haltung zu vertreten.







Zum Schluss: Ich habe längst alle meine Printmedien online. Mit einer Ausnahme: dem BEOBACHTER. Ihn lese ich auf Papier. Auf die SJ habe ich kein Abo. Darum haben Sie mir eine Gratis-Probenummer zugedacht. Ausgerechnet diese. Ich habe geschnuppert. Danke, auf das persönliche Schnupperangebot verzichte ich. Hier meine Reaktion. Ich wünsche nicht, dass Sie sie als Leserbrief veröffentlichen. Ich täusche mich kaum: Sie würden es aus verschiedenen Gründen ohnehin nicht tun.



Mit freundlichen Grüssen

Ein Adressat Ihres Schnupperangebots 





  
  


Montag, 1. Februar 2016

"ZU BESUCH AUF DER LUXUSYACHT"




Die Video-Reportage auf "ZDF Heute" über die Luxusyacht-Messe in Düsseldorf ist kein Werbetrailer. Sie bezweckt die sachbezogene Information über den Anlass. Da sie keine Stellung bezieht, deckt sie sich allerdings indirekt mit dem Zweck des Anlasses. Die Messe dient der Kaufwerbung. Sie offeriert Information für potentielle Kunden, die Besprechung von Sonderwünschen (Design, Einrichtung) und den Abschluss von Kaufverträgen:





"Weltpremiere für die Superyacht mit Kran für's schiff-eigene Motorrad, viel teures Holz und Exklusivität: Auf der "boot 2016" in Düsseldorf tummeln sich stolze Hersteller und liebäugelnde, wohlhabende Kundschaft. Aber auch ohne Millionen auf dem Konto kann man ... gucken und staunen."











Ein in der Video-Reportage fehlender kritischer Kommentar scheint mir den Zeitumständen angemessen:


Abstossender Superluxus. Dass Reisen eine Chance wäre, die Wirklichkeit zu verstehen, haben die Leute, welche sich auf dem schwimmenden Ghetto einbuchen-einbuchten-einbunkern, in keinem Alptraum je erfassen gelernt. Wollen die ja nicht. Exotische Blüte des verstiegenen kapitalistischen Selbstinteresses. Die Gäste sind rundum versorgt und mit ihrem Komfort gegen nautische Risiken gesichert, während Menschen in Schlauchbooten auf der Flucht vor dem Terror ertrinken.











Mittwoch, 23. Dezember 2015

HINTERGRÜNDIGES ZUR ADVENTSZEIT


  





Der Markt ist illuminiert, die Schlagzeilen übermitteln keine Erleuchtung. Design erfindet sich neu, der Mensch nicht. Der Fussball bleibt rund wie die eingespielten Millionen. Die Carbon-Blase wächst. Die Carbon-Aktien fallen, während der Meeresspiegel steigt. Die Systeme reagieren.






Ich war vier oder fünf Jahre alt, drückte meine Nase am winterlich beschlagenen Schaufenster platt und bestaunte durch die Eisblumen das Rentier in seinem  Glöckchengeschirr und den mit Geschenken beladenen Schlitten im glitzernden Kunstschnee. Ich lachte mit grossen Augen und zeigte mit dem Finger auf einen der sieben Weihnachtszwerge, die in roten Kapuzenmäntelchen auf Holzskiern das lustige Fuhrgeleit stellten. Da war auf einmal das Licht weg - Kurzschluss! Hinter der kaltgrauen Scheibe war die beglückende Inszenierung erloschen. Während der Rationierung um 1944/45 - im letzten Winter des Kriegs - war ein Kurzschluss nicht ungewöhnlich.

Weihnachten 2015 in den Londoner Selfridge-Stores oder den Magasins an der Zürcher Bahnhofstrasse. Warmweisses Softtone-Licht ergiesst sich über die Auslagen. Es funkelt in den Kugeln der überzuckerten Design-Christbäume und in den Brillanten der Bijouterie. Es schimmert in der Parfümerie betörend durch Flacons von Lancôme und Chanel. Und im Gourmet-Store liebkost es den hauchdünn filetierten, über Schnipseln von Fasseichen geräucherten Baliklachs. Zur Zeit des Weihnachtsverkaufs ist es täglich nach 17 Uhr Nacht. Sollte ein Kurzschluss das Licht in allen Etagen auf einen Schlag auslöschen, dann würden im Bruchteil einer Sekunde die Notstrom-Aggregate hochfahren. Das kaum wahrnehmbare kurze Aufblitzen der Finsternis hätte keine Chance, im Bewusstsein der vier- bis fünftausend Besucher jenen seelischen Kurzschluss auszulösen, der dem Schock vorausläuft. Nicht auszudenken, was geschähe, falls unvermeidlich einbrechende Dunkelheit die fatale Blitz-Gedankenkette aktivierte, welche in blinde Angst umschlägt: Terror, ein Suizid-Anschlag? Aber nichts dergleichen geschieht, unsere Notstrom-Aggregate arbeiten sicher.









Udo Lindenbergs Konzert rollt mit berauschenden Licht- und Toneffekten über die Bühne des gigantischen Stadions. Das Aufblitzen der Finsternis ist vorgesehen, die Inszenierung der Katastrophe Programm. Wenn zum furiosen Abschluss des Konzerts der grosse Zeppelin über dem Stadion abhebt und unseren Udo wie den Sandmann des TV-Kinderprogramms in den Nachthimmel entführt und alle Zuschauer verzückt zu ihm hochwinken, da explodiert das Himmelsgefährt wie die „Hindenburg“ 1937 in einem Feuerball über New York. Schall und Theaterrauch, alles Programm. Udo übersteht die Katastrophe seiner Entrückung durch ein inszeniertes Wunder. Udo advenit. Seine Wiederkunft als geretteter Retter auf den Brettern der Schaubühne wird von den Millionen in der Runde des Stadions und der Bildschirm-Arena bejubelt. Udo, der Sänger des Lieds vom „Sonderzug nach Pankow“ lässt sich heute als gesamtdeutsche Ikone feiern, während ungewiss ist, ob Europa die Belastungsprobe unter dem Druck der Flüchtlingsströme aus dem Süden besteht.

Udo Lindenbergs „Panik-Konzerte“ in der Kölner Lanxess-Arena 2012 und in den Grossstadien deutscher Städte in Folge sind die Superlative des Musik-Kommerzes. Der Superstar spielt mit seinem „Panik-Orchester“ Millionen in Serie ein. Vor seinen in Ekstase versetzten Adoranten stilisiert sich der Star - in Anlehnung an den niedlichen Helden des populären Feierabend-Comics - zum säkularen Konsumerlöser schlechthin und stimuliert das Geschäft. Die Musikkultur ist heute rund um die Uhr digital kommerzialisiert. Der Lindenberg-Rock dröhnt die Ohren von Millionen über die Lautsprecher-Stöpsel ihrer Smartphones zu. Wie Udo halten sich „Tote Hosen“ und weltweit hunderte von Bands in Konkurrenz dauernd in den Charts und auf dem Musikmarkt. Was für die Musik gilt, gilt heute für die kommerzialisierte Kultur mit medien-spezifischen Unterschieden ganz allgemein.







Wir leben in einer Zeit totaler Vermarktung, meint der Philosoph Philipp Blom: Ausserhalb der kommerzialisierten Welt schwinde der Freiraum schöpferischer Authentizität, im kommerzialisierten Wohlstand stecke keine Utopie, seine Erhaltung sei „kein gemeinsamer Traum“ mehr. In den demokratischen Gesellschaften ist die Wirtschaft durch das Wohlstandsversprechen verpflichtet Wachstum zu generieren, denn die Kredite, welche den Wohlstand garantieren, wollen verzinst, die Schulden bezahlt sein. Als Teilhaber sind wir in den Geldkreislauf eingespannt. „Das Heilsversprechen“, sagt der Ökonom Mathias Binswanger in bewusster Anspielung auf die religiöse Begriffswelt, „ist ein Märchen“ - eine Utopie, deren Erfüllung wir dauernd nachhetzen. Reichtum macht nicht a se glücklich und er ist ausserdem national wir global ungerecht verteilt, was Konflikte hervorruft. Reichtum ist exklusiv. Dasselbe kann man von der Freiheit sagen, sofern sie auf Kosten anderer errungen wird. 





Die Zeitumstände fordern heraus, über Verteilung und Schuld nachzudenken. Als Inspiration dazu diese kleine Agenda:



„Auserkoren“ steht auf der Titelseite der Weihnachtsausgabe des Hochglanz-Magazins „Z“ und kleingedruckt darunter der Hinweis auf das Angebot: „Überraschende Geschenke für Individualisten und Design-Liebhaber“. Zwischen den „schönen Seiten“ und einem Mode-Inserat von Longchamp Paris ist eine ganzseitige, von Migros bezahlte Werbung für Spenden an Caritas, Heks, Pro Juventute und Winterhilfe eingebaut: „Helfen wir bedürftigen Kindern… Jedes zehnte Kind in der Schweiz leidet unter Armut. Die Migros sammelt…und verdoppelt die Gesamtspendesumme um bis zu 1 Million Franken…Spenden Sie mit den Schoggi-Herzen in Ihrer MIGROS.“

Das im Magazin eingeheftete Essai-Blatt „Zäsur“ publiziert ein „Manifest“ des „international erfolgreichsten Schweizer Designers der Gegenwart“, Alfredo Häberli“, unter dem Titel: „Persönlichkeit statt Mittelmass“. Der Text karikiert den schlangenhaft „geschmeidigen“ Karriere-Typ, der dem Designer immer wieder über den Weg läuft: „unaufdringlich, nichtssagend, angepasst, mittelmässig“. Als ebenso persönlichkeitslos beklagt der Erfolgs-Designer den aktuellen Zustand des Designs: „Es ist ‚okay‘, eckt nicht an, ist pastellfarbig, aber farblos.“ „Z“ faltet die Starparade des angesagten Designs als „Nicht von dieser Welt“ auf: In irisierende Farben schillert auf Serpentino-Steinplatte der Parfum-Flacon „Les infusions d’oranger“ von Prada; wie aus einem Korallenriff gebrochen, weder liegend noch stehend, west auf dem „Schönstaub“-Strandtuch „Grid“ die Kunstharz-Vase „PCM Design“ von „Limited Stock“ zusammen mit einem Seestern aus teurem Papier. Und alles und viel mehr noch zu diskreten Preisen.






Udo Lindenberg lädt Flüchtlinge zu seinem Konzert. „Der Panik-Rocker will nun zeigen, zu welchem Lager er gehört: ‚Ein klares Bekenntnis ist jetzt wichtig: Wir heißen Flüchtlinge, die Entsetzliches wie Krieg, Tod, Vergewaltigung erlebt haben, willkommen - und wir kümmern uns auch‘, betonte er gegenüber der 'Bild'-Zeitung. Und wie ginge das besser als mit einem XXL-Konzert? Frei nach dem Motto 'Refugees welcome' findet am 4. Oktober ein Open-Air in Berlin statt.“(Vip.de) So las man noch im September. Nach Lindenbergs Idee sollten mit ihm einige der größten Stars Deutschlands auftreten wie Grönemeyer, Maffay, die Toten Hosen. Ein Gerücht ging erst um, das Konzert werde auf der Wiese vor dem Reichstag hochgehen. Dann plante man, vor dem Tag der Deutschen Einheit die dortige Bühne zu benützen. Das Berliner Konzert wurde „aus technischen Gründen“ abgesagt, eine kleine Ersatz-Gala für 200 Flüchtlinge löste in Bremen das Versprechen ein. Die grosse Tournee 2016 sagt Udo selbst als „sein grösstes Ding“ an - musikalisch und technisch! - doch es scheint, der Rockstar wolle sein „Panik“-Image abstreifen. Ob seine Fans ihm das abnehmen werden, steht aus. Aber sie werden bestimmt! Der Ticketverkauf online und unter der Hand läuft auf Hochtouren.






Die europäische Flüchtlings-Konferenz wehrte sich in Paris gegen die geforderte Kontingentierung der Aufnahme-Zahlen. Europa will und wird es schaffen, die Aufnahme Suchenden im Flüchtlings-Status gerecht auf seine Länder zu verteilen. Europa darf weder an den Mitteln noch an seinen christlich-humanitären Idealen scheitern, es wird seine Bewährungsprobe bestehen und sich endlich unter einer gemeinsamen Verfassung zusammenschliessen. Man hält sich an das Prinzip Hoffnung, bleibt aber realpolitisch. Die Pariser Konferenz musste dem Widerstand gegen die Überfremdung und dem Wunsch zur Erhaltung von Wohlstand und Ordnung Rechnung tragen. Man wird die Flüchtlinge nach Herkunft und Anspruch registrieren. Die durch unsägliche Gewalt aus ihrer Heimat und ihren in zu Schutt und Asche zerbombten Städten Vertriebenen, welche ungerufen in endlosen Kolonnen unseren Autobahnen entlang ankommen, sind in  d i e s e r  Welt „auserkoren“ in wohnlich einzurichtenden, beheizten, vorwiegend ungebrauchten Immobilien unterzukommen wie die biblische Familie in Bethlehem. „Auserkoren“, das diskret auf der Titelseite unseres schönen Weihnachts-Magazins gedruckte Partizip ist  ein altertümliches Wort der deutschen Kirchenlied- und Amtssprache, ein würdiges Wort, dessen Klang - von ferne wohl - an die Weihnachtsbotschaft erinnert.






Zum Schluss noch das Adventszeit-Ereignis aus der Zürcher Shopville. In der Pendlerzeitung „20 Minuten“ liest man heute, den 9.Dezember:



„Wie Leser-Reporter berichten, fiel am Mittwoch um 8 Uhr 15 der Strom im Hauptbahnhof aus. «Die Rolltreppen stehen still, die Läden sind dunkel – auch die grossen wie die Migros», sagte etwa R. Burkard: «Nur ein paar Notstromlampen leuchten. Es ist ruhiger als sonst, die Leute sind nicht aufgeregt, sondern weniger hektisch, entspannter.»

Seit kurz nach 9 Uhr brennt im HB wieder Licht. Laut einer 20-Minuten-Reporterin fahren auch die Züge ganz normal. Um den HB, etwa beim Central, standen die Trams bis um etwa 9.50 Uhr still. Mittlerweile fahren sie aber wieder, heisst es bei der VBZ. «Es braucht einfach noch seine Zeit, bis sich alles wieder einpendelt», sagt Sprecherin Daniela Tobler.

Verkäufer im Hauptbahnhof berichten, dass sie für einige Zeit gar im Laden eingeschlossen waren, da die automatische Tür nicht mehr aufging. «Ich hatte Angst. Mir ging in diesem Moment durch den Kopf, was sonst noch alles auf der Welt passiert», sagt eine Angestellte. Ebenfalls keinen Strom hatten die Geschäfte für rund 45 Minuten um das Central, wie die Verkäufer zu 20 Minuten sagten.“

Ursache des Kurzschlusses, erfahren wir später, ist der Kabelbrand in einer EWZ-Zentrale. Es geschah am Morgen, verzögerte den Arbeitsanbruch, doch alles pendelte sich bei Tageslicht wieder ein. Ein Kurzschluss ist Routine, er ereignet sich häufiger als wir ahnen, aber er belegt, wie vieles zusammenhängt.