Mittwoch, 23. Dezember 2015

HINTERGRÜNDIGES ZUR ADVENTSZEIT


  





Der Markt ist illuminiert, die Schlagzeilen übermitteln keine Erleuchtung. Design erfindet sich neu, der Mensch nicht. Der Fussball bleibt rund wie die eingespielten Millionen. Die Carbon-Blase wächst. Die Carbon-Aktien fallen, während der Meeresspiegel steigt. Die Systeme reagieren.






Ich war vier oder fünf Jahre alt, drückte meine Nase am winterlich beschlagenen Schaufenster platt und bestaunte durch die Eisblumen das Rentier in seinem  Glöckchengeschirr und den mit Geschenken beladenen Schlitten im glitzernden Kunstschnee. Ich lachte mit grossen Augen und zeigte mit dem Finger auf einen der sieben Weihnachtszwerge, die in roten Kapuzenmäntelchen auf Holzskiern das lustige Fuhrgeleit stellten. Da war auf einmal das Licht weg - Kurzschluss! Hinter der kaltgrauen Scheibe war die beglückende Inszenierung erloschen. Während der Rationierung um 1944/45 - im letzten Winter des Kriegs - war ein Kurzschluss nicht ungewöhnlich.

Weihnachten 2015 in den Londoner Selfridge-Stores oder den Magasins an der Zürcher Bahnhofstrasse. Warmweisses Softtone-Licht ergiesst sich über die Auslagen. Es funkelt in den Kugeln der überzuckerten Design-Christbäume und in den Brillanten der Bijouterie. Es schimmert in der Parfümerie betörend durch Flacons von Lancôme und Chanel. Und im Gourmet-Store liebkost es den hauchdünn filetierten, über Schnipseln von Fasseichen geräucherten Baliklachs. Zur Zeit des Weihnachtsverkaufs ist es täglich nach 17 Uhr Nacht. Sollte ein Kurzschluss das Licht in allen Etagen auf einen Schlag auslöschen, dann würden im Bruchteil einer Sekunde die Notstrom-Aggregate hochfahren. Das kaum wahrnehmbare kurze Aufblitzen der Finsternis hätte keine Chance, im Bewusstsein der vier- bis fünftausend Besucher jenen seelischen Kurzschluss auszulösen, der dem Schock vorausläuft. Nicht auszudenken, was geschähe, falls unvermeidlich einbrechende Dunkelheit die fatale Blitz-Gedankenkette aktivierte, welche in blinde Angst umschlägt: Terror, ein Suizid-Anschlag? Aber nichts dergleichen geschieht, unsere Notstrom-Aggregate arbeiten sicher.









Udo Lindenbergs Konzert rollt mit berauschenden Licht- und Toneffekten über die Bühne des gigantischen Stadions. Das Aufblitzen der Finsternis ist vorgesehen, die Inszenierung der Katastrophe Programm. Wenn zum furiosen Abschluss des Konzerts der grosse Zeppelin über dem Stadion abhebt und unseren Udo wie den Sandmann des TV-Kinderprogramms in den Nachthimmel entführt und alle Zuschauer verzückt zu ihm hochwinken, da explodiert das Himmelsgefährt wie die „Hindenburg“ 1937 in einem Feuerball über New York. Schall und Theaterrauch, alles Programm. Udo übersteht die Katastrophe seiner Entrückung durch ein inszeniertes Wunder. Udo advenit. Seine Wiederkunft als geretteter Retter auf den Brettern der Schaubühne wird von den Millionen in der Runde des Stadions und der Bildschirm-Arena bejubelt. Udo, der Sänger des Lieds vom „Sonderzug nach Pankow“ lässt sich heute als gesamtdeutsche Ikone feiern, während ungewiss ist, ob Europa die Belastungsprobe unter dem Druck der Flüchtlingsströme aus dem Süden besteht.

Udo Lindenbergs „Panik-Konzerte“ in der Kölner Lanxess-Arena 2012 und in den Grossstadien deutscher Städte in Folge sind die Superlative des Musik-Kommerzes. Der Superstar spielt mit seinem „Panik-Orchester“ Millionen in Serie ein. Vor seinen in Ekstase versetzten Adoranten stilisiert sich der Star - in Anlehnung an den niedlichen Helden des populären Feierabend-Comics - zum säkularen Konsumerlöser schlechthin und stimuliert das Geschäft. Die Musikkultur ist heute rund um die Uhr digital kommerzialisiert. Der Lindenberg-Rock dröhnt die Ohren von Millionen über die Lautsprecher-Stöpsel ihrer Smartphones zu. Wie Udo halten sich „Tote Hosen“ und weltweit hunderte von Bands in Konkurrenz dauernd in den Charts und auf dem Musikmarkt. Was für die Musik gilt, gilt heute für die kommerzialisierte Kultur mit medien-spezifischen Unterschieden ganz allgemein.







Wir leben in einer Zeit totaler Vermarktung, meint der Philosoph Philipp Blom: Ausserhalb der kommerzialisierten Welt schwinde der Freiraum schöpferischer Authentizität, im kommerzialisierten Wohlstand stecke keine Utopie, seine Erhaltung sei „kein gemeinsamer Traum“ mehr. In den demokratischen Gesellschaften ist die Wirtschaft durch das Wohlstandsversprechen verpflichtet Wachstum zu generieren, denn die Kredite, welche den Wohlstand garantieren, wollen verzinst, die Schulden bezahlt sein. Als Teilhaber sind wir in den Geldkreislauf eingespannt. „Das Heilsversprechen“, sagt der Ökonom Mathias Binswanger in bewusster Anspielung auf die religiöse Begriffswelt, „ist ein Märchen“ - eine Utopie, deren Erfüllung wir dauernd nachhetzen. Reichtum macht nicht a se glücklich und er ist ausserdem national wir global ungerecht verteilt, was Konflikte hervorruft. Reichtum ist exklusiv. Dasselbe kann man von der Freiheit sagen, sofern sie auf Kosten anderer errungen wird. 





Die Zeitumstände fordern heraus, über Verteilung und Schuld nachzudenken. Als Inspiration dazu diese kleine Agenda:



„Auserkoren“ steht auf der Titelseite der Weihnachtsausgabe des Hochglanz-Magazins „Z“ und kleingedruckt darunter der Hinweis auf das Angebot: „Überraschende Geschenke für Individualisten und Design-Liebhaber“. Zwischen den „schönen Seiten“ und einem Mode-Inserat von Longchamp Paris ist eine ganzseitige, von Migros bezahlte Werbung für Spenden an Caritas, Heks, Pro Juventute und Winterhilfe eingebaut: „Helfen wir bedürftigen Kindern… Jedes zehnte Kind in der Schweiz leidet unter Armut. Die Migros sammelt…und verdoppelt die Gesamtspendesumme um bis zu 1 Million Franken…Spenden Sie mit den Schoggi-Herzen in Ihrer MIGROS.“

Das im Magazin eingeheftete Essai-Blatt „Zäsur“ publiziert ein „Manifest“ des „international erfolgreichsten Schweizer Designers der Gegenwart“, Alfredo Häberli“, unter dem Titel: „Persönlichkeit statt Mittelmass“. Der Text karikiert den schlangenhaft „geschmeidigen“ Karriere-Typ, der dem Designer immer wieder über den Weg läuft: „unaufdringlich, nichtssagend, angepasst, mittelmässig“. Als ebenso persönlichkeitslos beklagt der Erfolgs-Designer den aktuellen Zustand des Designs: „Es ist ‚okay‘, eckt nicht an, ist pastellfarbig, aber farblos.“ „Z“ faltet die Starparade des angesagten Designs als „Nicht von dieser Welt“ auf: In irisierende Farben schillert auf Serpentino-Steinplatte der Parfum-Flacon „Les infusions d’oranger“ von Prada; wie aus einem Korallenriff gebrochen, weder liegend noch stehend, west auf dem „Schönstaub“-Strandtuch „Grid“ die Kunstharz-Vase „PCM Design“ von „Limited Stock“ zusammen mit einem Seestern aus teurem Papier. Und alles und viel mehr noch zu diskreten Preisen.






Udo Lindenberg lädt Flüchtlinge zu seinem Konzert. „Der Panik-Rocker will nun zeigen, zu welchem Lager er gehört: ‚Ein klares Bekenntnis ist jetzt wichtig: Wir heißen Flüchtlinge, die Entsetzliches wie Krieg, Tod, Vergewaltigung erlebt haben, willkommen - und wir kümmern uns auch‘, betonte er gegenüber der 'Bild'-Zeitung. Und wie ginge das besser als mit einem XXL-Konzert? Frei nach dem Motto 'Refugees welcome' findet am 4. Oktober ein Open-Air in Berlin statt.“(Vip.de) So las man noch im September. Nach Lindenbergs Idee sollten mit ihm einige der größten Stars Deutschlands auftreten wie Grönemeyer, Maffay, die Toten Hosen. Ein Gerücht ging erst um, das Konzert werde auf der Wiese vor dem Reichstag hochgehen. Dann plante man, vor dem Tag der Deutschen Einheit die dortige Bühne zu benützen. Das Berliner Konzert wurde „aus technischen Gründen“ abgesagt, eine kleine Ersatz-Gala für 200 Flüchtlinge löste in Bremen das Versprechen ein. Die grosse Tournee 2016 sagt Udo selbst als „sein grösstes Ding“ an - musikalisch und technisch! - doch es scheint, der Rockstar wolle sein „Panik“-Image abstreifen. Ob seine Fans ihm das abnehmen werden, steht aus. Aber sie werden bestimmt! Der Ticketverkauf online und unter der Hand läuft auf Hochtouren.






Die europäische Flüchtlings-Konferenz wehrte sich in Paris gegen die geforderte Kontingentierung der Aufnahme-Zahlen. Europa will und wird es schaffen, die Aufnahme Suchenden im Flüchtlings-Status gerecht auf seine Länder zu verteilen. Europa darf weder an den Mitteln noch an seinen christlich-humanitären Idealen scheitern, es wird seine Bewährungsprobe bestehen und sich endlich unter einer gemeinsamen Verfassung zusammenschliessen. Man hält sich an das Prinzip Hoffnung, bleibt aber realpolitisch. Die Pariser Konferenz musste dem Widerstand gegen die Überfremdung und dem Wunsch zur Erhaltung von Wohlstand und Ordnung Rechnung tragen. Man wird die Flüchtlinge nach Herkunft und Anspruch registrieren. Die durch unsägliche Gewalt aus ihrer Heimat und ihren in zu Schutt und Asche zerbombten Städten Vertriebenen, welche ungerufen in endlosen Kolonnen unseren Autobahnen entlang ankommen, sind in  d i e s e r  Welt „auserkoren“ in wohnlich einzurichtenden, beheizten, vorwiegend ungebrauchten Immobilien unterzukommen wie die biblische Familie in Bethlehem. „Auserkoren“, das diskret auf der Titelseite unseres schönen Weihnachts-Magazins gedruckte Partizip ist  ein altertümliches Wort der deutschen Kirchenlied- und Amtssprache, ein würdiges Wort, dessen Klang - von ferne wohl - an die Weihnachtsbotschaft erinnert.






Zum Schluss noch das Adventszeit-Ereignis aus der Zürcher Shopville. In der Pendlerzeitung „20 Minuten“ liest man heute, den 9.Dezember:



„Wie Leser-Reporter berichten, fiel am Mittwoch um 8 Uhr 15 der Strom im Hauptbahnhof aus. «Die Rolltreppen stehen still, die Läden sind dunkel – auch die grossen wie die Migros», sagte etwa R. Burkard: «Nur ein paar Notstromlampen leuchten. Es ist ruhiger als sonst, die Leute sind nicht aufgeregt, sondern weniger hektisch, entspannter.»

Seit kurz nach 9 Uhr brennt im HB wieder Licht. Laut einer 20-Minuten-Reporterin fahren auch die Züge ganz normal. Um den HB, etwa beim Central, standen die Trams bis um etwa 9.50 Uhr still. Mittlerweile fahren sie aber wieder, heisst es bei der VBZ. «Es braucht einfach noch seine Zeit, bis sich alles wieder einpendelt», sagt Sprecherin Daniela Tobler.

Verkäufer im Hauptbahnhof berichten, dass sie für einige Zeit gar im Laden eingeschlossen waren, da die automatische Tür nicht mehr aufging. «Ich hatte Angst. Mir ging in diesem Moment durch den Kopf, was sonst noch alles auf der Welt passiert», sagt eine Angestellte. Ebenfalls keinen Strom hatten die Geschäfte für rund 45 Minuten um das Central, wie die Verkäufer zu 20 Minuten sagten.“

Ursache des Kurzschlusses, erfahren wir später, ist der Kabelbrand in einer EWZ-Zentrale. Es geschah am Morgen, verzögerte den Arbeitsanbruch, doch alles pendelte sich bei Tageslicht wieder ein. Ein Kurzschluss ist Routine, er ereignet sich häufiger als wir ahnen, aber er belegt, wie vieles zusammenhängt.