Freitag, 21. Oktober 2011

In aller Welt zuhause und „fremd im eigenen Land“?




„Damit wir uns nicht fremd im eigenen Land fühlen müssen“ - ein Argument zur Initiative „Masseneinwanderung stoppen“ in der SVP- Wahlpropaganda







    Ist das Boot wirklich  voll?








Wohin treibt es uns?

Am Feierabend vor dem langen Wochenende oder beim Anbruch der grossen Ferien starten wir durch. Werfen uns in den Alpenstau, quetschen uns durch’s Check-in-Gewühl. Erobern im Stossangriff unseren reservierten Secondhand-Luxus in „Allerwelt“. Wir tauchen ein in den turbulenten Kultur-Kosmos New Yorks, Londons, Istanbuls; lassen uns von der Exotik Indonesiens, der Antillen, der Costas und Rivieras charmieren. Wir schütteln unsere Verspannungen ab und bewegen uns in aufgelösten Schwärmen locker und selbstverständlich durch „unsere“ Feriendomänen  in Ländern fremder Kultur. Als „Kolonisten“ einer gigantischen Touristik-Industrie haben wir uns abgewöhnt, vor den Fremden zu fremden. Wir importieren als zahlende Fremde Devisen.

Als sonnengebräunte Heimkehrer erleben wir manchmal einen leichten Schock vor der ureigenen Normalität zuhause. Doch der geht vorüber, denn bald schleicht sich ein anderes, ein altes Unbehagen wieder ein. Denn zuhause, im eigenen Land, sind auch Fremde. Die zahlreichen Gesichter, die nicht zu uns gehören, lösen das andere Fremdgefühl in uns aus. Und die schwarzen Trampelsohlen auf dem roten Teppich mit dem Schweizerkreuz, welche herdenmässig ins Heimische eindringen, bestärken das alte Unbehagen. Das unwiderstehliche Gefühl schafft sich Raum, es sei nötig, unseren Überfremdungsschock politisch zu therapieren. „Stopp“ zu sagen, ein Neinmehr zu artikulieren, gegen die „Masseneinwanderung“, gegen erdrückende Überfremdung.

Zuhause geht der weltempfängliche Schweizer auf Distanz. Schon mehrheitlich? Ist das nicht ein Schweizer Paradox?

Die Schweiz gilt als weltoffene Nation. Sie begriff ihre Chance und pflegt dieses Image. Tourismus Schweiz profitiert davon. Die Schweizer Industrie ist innovativ, exportiert in alle Welt und hält personell weltweit vertreten die Flagge hoch. In EU-Ländern, den USA, China, asiatischen Tigerstaaten. Der Austausch von Waren, Information und Devisen ist hoch im Kurs. Doch zuhause wächst Argwohn. Der Schweizer fremdet. Handelt es sich beim Menschenaustausch um Erwerbspersonen, sind Fremde bei uns nicht mehr so populär. Wir legen ihnen keinen roten Teppich aus. VIP’s der Teppichetagen ausgenommen. Selbstverständlich auch Steuermillionäre! Arbeitsuchende sind dagegen Konkurrenten. Und Asylsuchende, die kleine Minderheit unter den Fremden, sind suspekt. Mehr und mehr. Sozialhilfeempfänger unter Fremden sowie Sanspapiers gelten sogar ohne Hinsehen bald schnell als Profiteure und Kriminelle.




Selbst in seinem vertrauten „Allerwelt“, als Massen- und Exklusivtourist, hat sich der Schweizer - pardon, nicht nur er - gerne in Holyday-Villes, in Clubs, in Spa-Wellness- und Fünfstern-Ghettos gegen die zunehmend problembelastete soziale Wirklichkeit der Fremdländer abgegrenzt. Neuerdings pflegen Zahlungskräftige den Standard, auf Mega-Passagierfähren mit dem Luxus-Angebot von Grossstädten in einer sindbadschen Fantasiewelt herumzukreuzen. Ganz unter ihresgleichen. Wir fliegen im Pauschalarrangement pazifische oder afrikanische Ferienparadiese an, mit Traumstränden, Süsswasser-Swimmingpools, Einkaufspassagen mit Beautysalons, klimatisierten Hotelzimmern mit Luxusausstattung. Und machen uns dabei kaum bewusst, dass unter den Lebenden ausserhalb „unserer“ Paradiese die Wenigsten privilegiert sind, in ein privilegiertes Land wie die Schweiz zu reisen. Nicht allein aus materiellen, viel mehr aus politischen Gründen. Zu reisen nicht als Asylanten, sondern als freie Menschen. So wie wir.




Haben wir, die wir in der Schweiz gegenüber Fremden fremden, zu wenig daran gearbeitet, uns selber ab und zu fremd vorzukommen? Nicht nur zuhause, sondern auch im Ausland? Haben wir Heimwehschweizer uns nicht darin geübt, dieses Fremdgefühl auch in der Heimat einmal zuzulassen, statt gleich „s’isch gnueg!“ zu rufen? Und vielleicht sogar ein paar fällige Fragen an unser politisches Gewissen zu stellen? Möglicherweise haben wir, denen es über Jahrzehnte so selbstverständlich gut ging, versäumt zu verstehen, dass die Ursachen des Phänomens, das wir als „Überfremdung“ erleben, globaler Natur sind. Dass die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Welt - auf ihre Ursachen und Auswirkungen hin betrachtet - auch unsere sind. Dass sich ihre Ursachen nicht so einfach in der Einwanderung festmachen, in den Ausländern personifizieren lassen. Dass wir unsere Probleme nicht pauschal der Personenfreizügigkeit oder einer „largen“ Asylpolitik anlasten können, sondern auch selber für sie grad stehen müssen.

Es gibt keine Krähwinkel-Lösungen aller Probleme durch abwehrhaften Rückzug auf uns selbst, durch rigide Einwanderungskontrolle, durch Kontingentierung und Punktekriterien bei der Zulassung arbeitsuchender Ausländer, durch drastische Verschärfung des Asylrechts und ausserdem  die wieder anvisierte Abkoppelung der Entwicklungsländer von der Entwicklungs-Zusammenarbeit, welche man durch den Hinweis auf „verschleuderte“ Steuergelder gern ungerechtfertigt dem Verruf preisgibt. Der Rückzug durch Massnahmen einer prinzipiell-isolationistischen Politik ist nicht bloss selbstgerecht, sondern auf die Länge auch kurzsichtig, denn sie versperrt sich der Teilnahme an Lösungen, der Mitverantwortung und damit der Zukunft!

Im Stil der SVP-Propaganda für ihre Initiative „gegen Masseneinwanderung“ schlägt eine Krähwinkel-Haltung durch, denn sie appelliert allzu einseitig und mit wahlstrategischem Kalkül an unterschwellige Ängste und den Gruppen-Eigennutz der Wähler. Die Zusammenhänge lassen sich nicht mit emotional aufgeladenen Argumenten verständlich machen. Sie sind komplex. Und genauso lassen sich die Probleme nicht kurzfristig mit Schneidbrenner-Methoden bewältigen. Sie fordern uns einen Aufwand ab, sind nur auf längere Sicht, durch liberale Lösungsschritte, zu regulieren. Möglichkeiten und Bedeutung einer Politik des belebenden Austauschs und der institutionellen partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Nationen und Kulturen bleiben in der simplifizierenden Initiativ-Propaganda ausgeblendet.








      Heim - wo in der Welt?